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Leseprobe »Leadership in Game of Thrones«: Leadership ist eine Beziehungssache

»Krüppel, Bastarde und Zerbrochenes« halten sich an der Macht und zeigen: Leadership ist eine Beziehungssache, und nicht etwas, das einer physisch stabilen, charismatischen oder privilegierten Person gehört. Der kleinwüchsige Charakter Tyrion besticht durch Schlauheit, Sarkasmus und Zähigkeit als Hand verschiedener Könige. Die Rollen fordern stereotype Sehgewohnheiten der Zuschauer heraus.
Ein Strichmännchen passt nicht zu den anderen

»Cripples, bastards, and broken things« – »Krüppel, Bastarde und Zerbrochenes«, spielen nicht nur eine große Rolle in Game of Thrones, sondern wortwörtliche große Rollen als Leadership-Charaktere. Menschen mit Behinderungen und Krankheiten treten in Game of Thrones häufiger auf als in den meisten, oder gar in allen anderen, Mainstream-Serien und sie tun dies nicht nur nebenbei. Sie sind Hauptrollen in der Erzählung, ziehen die Blicke durch raumfüllende close-ups auf sich und haben eine lange Bildschirmzeit. Schon von Anfang an werden Menschen mit bestimmten Beeinträchtigungen in die Serie eingeführt und halten sich besser und länger als so viele andere. Bald waren körperlich kräftige Männer wie Eddard und Robb Stark, Robert Baratheon und Khal Drogo gestorben und die Serie rückte weniger einfach zu verortende Charaktere ins Zentrum wie Tyrion.

Der kleinwüchsige Charakter Tyrion (gespielt von Peter Hayden Dinklage) gilt als einer der schlauesten Charaktere der Serie und besticht durch seinen Sarkasmus und seine Zähigkeit als Hand verschiedener Könige. Der Zuschauer ist über Jahre hinweg an seiner Seite und an der Seite der Krüppel, Bastarde und Zerbrochenen und empfindet mit ihnen.

Zu Personen in hohen Positionen, die sich ein wenig von anderen unterscheiden, was beispielsweise die geistigen Fähigkeiten angeht, gehören die Herrscherin von Hohenehr, Lysa Arryn, sowie als Produkt von Inzest Joffrey Lennister, »Mad King« King Aerys II Targaryen und scheinbar auch Daenerys Targaryen, die schlussendlich kippt und Tausende Frauen und Kindern lebendig verbrennt. Daran erinnerte auch Cersei Lennister: »Die Hälfte der Targaryens ist wahnsinnig geworden, oder nicht? Wie heißt es noch? Immer wenn ein Targaryen geboren wird, werfen die Götter eine Münze.« Lebenslange Beeinträchtigungen finden wir auch bei Hodor, beim gehbehinderten Doran Martell aus Dorne, später zugezogene körperliche Verstümmelungen sehen wir bei der von der Grauschuppenkrankheit gezeichneten Shireen, bei dem durch Brandwunden entstellten Gregor »The Hound« Clegane, und Jamie Lennister mit seiner fehlenden Hand, sowie bei den Eunuchen der Serie wie Varys, Grauer Wurm und Theon. Blindheit und Sehbehinderung wird vorgelebt von Maester Aemon in der Schwarzen Festung und Beric Dondarrion, dem konvertierten und mehrfach wiederbelebten Anhänger des Herrn des Lichts.

Jedoch geht es mir hier nicht darum, vermeintlich behinderte Rollen zu identifizieren, sondern zu argumentieren, dass ein Spektrum von verschiedensten Menschen gezeigt wird. Behinderung ist ein Werturteil und hängt davon ab, welche Körper als legitim in bestimmten Orten erachtet werden. Es ist nicht klar, wo genau die Grenze zwischen normal, körperlich behindert oder deviant verläuft, und dafür wurde die Serie viel gelobt. Game of Thrones handelt eine Vielzahl von Fragen über die Bedeutung und das Stigma von Behinderung ab.

Ein Beispiel, wie Diskriminierung offen thematisiert und an den Pranger gestellt wird, ist etwa die letzte Szene Shireens. In auf YouTube veröffentlichten Compilations mit Fan-Reaktionen ist der Tod von Stannis Baratheons Tochter auch enthalten, hier sieht man deutlich das Entsetzen des gemischten Publikums als das junge Mädchen mit dem entstellten Gesicht zum Menschenopfer wird. Die deformierte Shireen (gespielt von Kerry Ingram) ist unschuldig, wird aber aufgrund ihres Antlitzes zum Sündenbock denn sie würde sowieso nie heiratsfähig werden. Andere Töchter hingegen werden von adeligen Vätern und Müttern bis zum Äußersten verteidigt als hohes Gut für Allianzen, Herrschafts- und Friedenssicherung in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft. Stannis’ Heer ist geschwächt, er im Bann der verführerischen Roten Hexe, die Lage aussichtslos. Die kleine Shireen wird im Schneegestöber an den dunklen Soldaten vorbei zum Scheiterhaufen geführt und spätestens dann erkennt der Zuschauer schockiert: Nein! Shireen wird festgebunden, schreit nach ihrem Vater, ihrer Mutter, und wieder nach ihrem Vater, der versteinert zusieht. Die Rote Priesterin Melisandre zündet Shireen, die in vertauschter Position wie die eigentliche »Hexe« auf dem Scheiterhaufen steht, für den Herrn des Lichts an. Die Szene endet in Schmerzensschreien, im Rot des Feuers, im Grau der Verzweiflung. Sie lässt den Zuschauer mit einem dumpfen Eindruck zurück, einem Gefühl davon, wie dumm, lächerlich und sinnlos diese Aktion war und wie bedauernswert Anführer wie Stannis und ihre Gefolgsleute sind, die in ihrer Verzweiflung die moralische Orientierung verloren haben.

Das globale Publikum muss sich an vielen solcher Geschichten verhandeln, auch an größeren Handlungsbögen. Deshalb wurde George R.  R.  Martin als Autor von A Song of Ice and Fire mit dem »Visionary Award« Media Access Award im Jahr 2013 ausgezeichnet. Der Media Access Award wird an TV-Serien verliehen, die Behinderung als Teil des täglichen Lebens wirkungsvoll in das Storytelling einbinden und damit für das Publikum anders sichtbar machen. Als Vertreter der Kommission schrieb der Autor David Radcliff an Martin (2013): »Game of Thrones is not commonly thought of as a show that ‚deals with‘ disability, it is something even better: a show that embraces the reality that no one is easily definable.« Die Serie behandelt Behinderung nicht nur nebenbei, sondern zeigt uns viele Charaktere mit deutlichen und weniger klaren körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen oder Abweichungen von der Norm, sodass die Grenze zu »den Normalen« oft verschwimmt und dem Zuschauer vorführt, dass es den Normalen eigentlich nicht gibt, oder dass dieser nicht zwangsläufig besser ist.

Allerdings hat die Serie ihre behinderten Zuschauer trotzdem diskriminiert, und zwar ganz unmittelbar bei der Ausstrahlung. Auf sozialen Netzwerken bemängelten Zuschauer die fehlenden Untertitel für Hörgeschädigte, die erst später hinzugefügt wurden, angeblich aus Zeit- und Geldgründen, obwohl hohe Summen für computeranimierte Werwölfe und Drachen vorhanden waren. Damit schließt die Serie trotz aller Bemühungen in der Narration ganz praktisch und ironisch wieder jene aus, die nicht die gleichen körperlichen Möglichkeiten haben wie andere.

Andere Serien, die zuvor für Veränderung in der TV-Landschaft positiv hervorgehoben wurden sind The Sporanos und Breaking Bad. Sie haben eingefahrene kulturelle Sichtweisen über Normalität infrage gestellt. Später zeigte Carrie Mathison in Homeland als Workaholic mit biopolarer Störung ihre manisch-depressiven Phasen. Tony Soprano hat als einer der ersten Anti-Helden in TV-Serien neben Don Draper bei Mad Men, Dexter, und Walter White bei Breaking Bad, seine psychischen Probleme und fehlende Moral nicht nur bei seiner Ärztin Dr. Melfi, sondern vor dem globalen Publikum thematisiert. Bei The Sopranos wird Behinderung auch in mehreren Nebenrollen dargestellt als »just another fact of life« wobei die Ideologie des vermeintlich Normalen umgedreht wird, wenn das angeblich Behinderte beruhigend und normal erscheint. Game of Thrones wurde ähnlich in den Medien und online diskutiert. Einige der nicht dem Durchschnitt entsprechenden Charaktere zeigen Ablehnung gegenüber dem weitverbreiteten immoralischen Verhalten und Gewalt und kritisieren auch gesellschaftliche Diskriminierung.

Eine große Szene, in der Vorurteile und Behinderung ganz offen ausgesprochen werden, ist der Prozess gegen Tyrion. In dem Prozess findet die problematische Familiengeschichte der Lennisters einen traurigen Höhepunkt. Tyrion als der jüngste Sohn von Lord Tywin Lennister und als kleiner Bruder von Jaime und Cersei wurde wegen seiner Kleinwüchsigkeit schon immer diskriminiert, verschlimmert durch den Tod seiner Mutter bei seiner Geburt. Dafür wird ihm als körperlich deformiertes Baby gesellschaftlich und familiär die Schuld zugeschrieben – während der Tod von Müttern bei der Entbindung gesunder Jungen zwar als traurig beschrieben, aber nie als deren besondere Schuld thematisiert wird. Lediglich zu Jamie hat Tyrion ein brüderliches Verhältnis, während sowohl Vater als auch Schwester ihm Hass entgegenbringen.

Tyrions erste Verliebtheit (in eine Prostituierte, die sein Bruder ihm fürsorglich und gutmeinend organisiert hatte) wird durch den Vater zur Demütigung, der die junge Frau zwingt, sich für Silber an die Wachmänner zu verkaufen und Tyrion dabei zusehen lässt – eine Wunde, die für ihn nie heilt. Dieser lebt zunehmend eine Schwäche für Prostituierte und Trinkgelage aus, seine hohe soziale Stellung innerhalb der Lennister-Familie, den Reichtum und die Macht auch als Schutzschild nutzend. Er bildet sich in Königsmund und auf Casterlystein intellektuell und politisch fort, ist Mitglied des kleinen Rates und bietet auch seinem arroganten Neffen Joffrey während seiner kurzen Herrschaft gekonnt Paroli. Der unberechenbare und gestört agierende Joffrey macht sich viele Feinde und wird bei seiner Hochzeitsfeier ermordet.

Tyrion wird vorgeworfen, seinen Neffen Joffrey vergiftet zu haben – später stellt sich heraus, dass es die rivalisierende Adlige Olenna Tyrell war, die ver- hindern wollte, dass ihre Enkelin Margaery mit Joffrey »ein Monster« heiraten muss. Tyrion fühlt sich angeklagt, weil er kleinwüchsig ist, und das schon sein ganzes Leben. Ausgerechnet sein eigener Vater Tywin (gespielt von Charles Dance), der ihn zeitlebens ob seiner Kleinwüchsigkeit verachtet hat, ergreift die Gelegenheit nun – endlich?  – Gericht über ihn zu halten.

Tywin: Tyrion, do you wish to confess?

Tyrion Lennister: Yes, father. I’m guilty. Guilty. Is that what you want to hear?

Tywin: You admit you poisoned the king?

Tyrion: No. Of that, I’m innocent. I’m guilty of a far more monstrous crime. I’m guilty of being a dwarf.

Tywin: You are not on trial for being a dwarf.

Tyrion: Oh, yes I am. I’ve been on trial for that my entire life.

Tywin: Have you nothing to say in your defense?

Tyrion: Nothing but this, I did not do it. I did not kill Joffrey, but I wish that I had! Watching your vicious bastard die gave me more relief than a thousand lying whores! I wish I was the monster you think I am! I wish I had enough poison for the whole pack of you! I would gladly give my life to watch you all swallow it!

Mit dieser Aussage beansprucht er aktiv »Behinderung« für sich, präsentiert sich als Ziel von Diskriminierung und stellt dabei auch die sozialen Vorurteile bloß. Er konfrontiert auch den Blick der Zuschauer und damit das diskriminierende Verhalten unserer heutigen Gesellschaft. Einer aus den Reihen der Ankläger muss dafür stellvertretend büßen – auch wieder recht überraschend für das Publikum. Bevor Tyrion als störender Faktor von der Gesellschaft durch Hinrichtung entfernt werden kann, hilft sein Bruder Jamie ihm bei der Flucht. Auf dem Weg zum Boot dringt er noch in die Gemächer seines Vaters Tywin ein, erwischt ihn mit seiner ehemaligen Geliebten, der Prostituierten Shae, und bringt ihn mit der Arm- brust auf dem Plumpsklo zur Strecke. »You shot me … You are no son of mine«, giftet der Vater mit dem Bolzen in der Brust. »I have always been your son!«, wirft Tyrion körperlich unverletzt aber mindestens ebenso schmerzerfüllt zurück. Für die Missachtung muss der Vater nun büßen.

Es ist selten, dass wir in Film und Fernsehen Behinderte überhaupt sehen, in einer Geschichte, die nicht kitschig ist und nur dazu dient, Nichtbehinderte etwas motivierter zurück in ihren Alltag zu schicken, oder in der nur gezeigt wird, wie schlecht Behinderte in unserer Gesellschaft behandelt werden. Kleinwüchsige werden entweder als Disney-Zwerge verniedlicht oder als leicht starrsinnig und habgierig in Tolkiens Hobbit und C.  S.  Lewis’ Chronicles of Narnia gezeigt, wobei deformierte Personen traditionell Übeltäter und Bösewichter darstellen und negative Archetype mit Behinderung verbunden werden. Eines der medial hartnäckigen Vorurteile ist die Verbindung von Bösartigkeit und Behinderung, als wenn körperliche Unförmigkeit die missgebildete Seele ausdrücke. Das trifft nicht auf Tyrion zu, der kein archetypischer Zwerg, 1219 Behinderung (Tyrion Lennister, Brandon Stark) sondern einer der komplexesten Charaktere der Show ist, und dabei weniger »eingeschränkt« als die meisten gutaussehenden Anführer. Auch hat er nicht viel mit den hartarbeitenden Bergarbeiter-Zwergen oder kindischen kleinen Menschen anderer Erzählungen gemeinsam. Intelligenz und Beziehungsorientierung, also Verständnis von und Eingehen auf andere, sind seine Leadership-Fähigkeiten. Er kann sich notfalls aus der schwierigsten Lage herausverhandeln – wie etwa in Burg Hohenehr, als er Bronn in der letzten Sekunde als Vertreter gewinnt für seinen »Trial by Combat«, das Duell, das ein Angeklagter anstelle eines Gerichts- prozesses führen darf.

Varys als ebenfalls nicht der dominanten Norm entsprechender Charakter wird sein bester Freund und erkennt sein Potenzial, den Instinkt seines Vaters für Politik und Einfühlungsvermögen, das seinem Vater fehlt. Beide können mit Macht umgehen, mussten aber erfahren, dass ihre Möglichkeiten als Führungsperson durch Deformiertheit begrenzt sind und dass sie Macht nur erreichen können, wenn sie backstage arbeitend die Mächtigen beraten. Ähnliche Diskriminierung erleben Arbeitnehmer in der Wirtschaft und Politik. Zwar soll etwa bei uns das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG) Menschen schützen, die aufgrund der ethnischen Herkunft oder aus rassistischen Grün- den, aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Religion oder Weltanschauung, aufgrund einer Behinderung, ihres Alters oder ihrer sexuellen Identität Benachteiligungen erfahren.

Dennoch sieht auch heute die Realität anders aus: Der Diskriminierungsbericht der Bundesregierung zeigt, dass Menschen auf dem Arbeitsmarkt generell immer noch massiv benachteiligt werden, von Führungspositionen ganz zu schweigen. Diskriminierung betrifft die Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politische oder sonstige Anschauung, nationale oder soziale Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigen Stand – in Game of Thrones sehen wir auch in den wichtigen Rollen Menschen, auf die diese Merkmale zutreffen.

Dazu gehört auch die »Diskriminierung nach Augenschein« bei einer sicht- baren Behinderung (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2017, S. 15), wie sie etwa Tyrion aufgrund seiner Kleinwüchsigkeit erfährt, sein durchschnittlich blond aussehender, aber mental instabiler Neffe Joffrey allerdings nicht. So warnt die Antidiskriminierungsstelle des Bundes davor, dass »Diskriminierungen aufgrund bestimmter tatsächlich vorhandener oder zugeschriebener Merkmale [..] den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt unterminieren« können. Das zeigt uns Game of Thrones:

Was wäre Westeros ohne Varys gewesen, der sich als einziger dem großen Ganzen statt persönlichem Ehrgeiz verschrieben hat, oder ohne den Strategen Tyrion oder ohne den Sehenden und das Gedächtnis Brandon?

Alle diese »Krüppel« oder »Zerbrochenen« halten sich gut an der Macht und stärken die hier vertretene These: Leadership ist eine Beziehungssache, und nicht etwas, das einer physisch stabilen, charismatischen oder privilegierten Person gehört.

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