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Lexikon der Biochemie: Abiogenese

Abiogenese, Urzeugung, Entstehung von Lebewesen aus anorganischen und organischen Substanzen und nicht durch Reproduktion anderer Lebewesen. Die A. ist Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Theorien. Sie beschreibt einen Mechanismus für die Erzeugung einfachster Lebensformen aus nichtlebenden organischen Verbindungen und erklärt möglicherweise den Ursprung des Lebens.

Neuere Theorien gehen davon aus, dass sich die Zusammensetzung der primitiven Erdatmosphäre vor vier Milliarden (4 · 109) Jahren von der Atmosphäre der Gegenwart sehr stark unterschied.

Insbesondere handelte es sich um eine reduzierende Atmosphäre ohne Sauerstoff (der erst vor ca. 3 · 109 Jahren hinzukam), die viel Stickstoff enthielt. Unter den hochenergetischen Bedingungen jener Zeit (hohe Temperaturen, UV-Strahlung, elektrische Entladung) liefen chemische Reaktionen ab, aufgrund derer sich möglicherweise Vorstufen lebender Organismen bildeten. Oparin nannte diesen Prozess abiogene oder präbiotische organische Evolution. So wurden in der primitiven Atmosphäre polymere Kohlenwasserstoff-Derivate unter der Wirkung von UV-Licht aus Wasser, Methan, Ammoniak, Schwefelwasserstoff und Kohlenmonoxid gebildet. Cyanwasserstoff war für die Synthese von Biomolekülen ebenfalls von Bedeutung. Unter simulierten primitiven Erdbedingungen können drei Zwischenprodukte von HCN (Cyanacetylen, Nitril, Cyanamid) mit Aldehyden, Ammoniak und Wasser in Wechselwirkung treten und verschiedene organische Verbindungen, insbesondere Aminosäuren, Pyrimidine, Purine und Porphyrine bilden. In Modellexperimenten synthetisierte Miller 14 der 20 proteinogenen Aminosäuren, indem er eine simulierte primitive Atmosphäre elektrischen Entladungen aussetzte. Von Oró et al. demonstrierten die Bildung von Adenin und Guanin durch Wärmepolymerisation von Ammoniumcyanid in wässriger Lösung. Ferner wird in Experimenten mit simulierter primitiver Atmosphäre spontan Formaldehyd gebildet. Beim Erwärmen mit Calciumcarbonat liefert Formaldehyd verschiedene Zucker, wodurch der Weg für die Entstehung von Nucleosiden und Nucleotiden frei ist.
Man nimmt an, dass Polypeptide durch Selbstkondensation abiotisch produzierter Aminosäuren gebildet werden und Polynucleotide durch Selbstkondensation abiotisch produzierter Nucleotide. Solche Kondensationen können durch verschiedene Mechanismen begünstigt werden. Man weiß insbesondere, dass Polyphosphate oder Polyphosphatester als Dehydratisierungsagentien bei der Bildung von Peptiden aus Aminosäuren fungieren, wenn sie erwärmt oder mit UV-Licht bestrahlt werden. Solche Polyphosphate, die gute Vorstufen von ATP sind, könnten entweder durch das Einwirken von Cyanacetylen bzw. Cyanguanidin oder unter dem Einfluss hoher Temperaturen (z.B. in der Nähe von Vulkanen) aus Phosphatmineralien hervorgehen. Für das Entstehen einer echten Lebensform, die – ausgestattet mit der unentbehrlichen Kopplung zwischen Nucleinsäuren und Proteinsynthese – zu Weiterentwicklung und Evolution fähig ist, musste das präbiotische Material in diskrete Einheiten unterteilt werden. Man nimmt deshalb an, dass der nächste signifikante Schritt in der Evolution der Lebensformen die Bildung intern organisierter Zellen war. Im Hinblick darauf wird der Bildung präzellulärer Strukturen, wie Oparins Koazervaten und Foxes Mikrosphären, besondere Bedeutung beigemessen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass präbiotische Membranen durch die Aggregation präbiotischer Lipide gebildet wurden.
Der direkte Weg von abiotischen Verbindungen hoher Molekularmasse der primitiven Erde zu den ersten wirklichen lebenden Organismen ist jedoch großteils ungeklärt, da er experimentell sehr schwer zu erforschen ist. Es gibt im Wesentlichen zwei Hypothesen zum Ursprung der Protobionten, die metabolische oder Proteinhypothese und die Gen- oder Nukleinsäurehypothese. In der Proteinhypothese wird der Rolle der Proteine in der präbiotischen Evolution Vorrang gegeben. Somit erwerben membrangebundene, replikative Protozellen, die katalytisch aktive Proteinoide enthalten, später ein codierendes System und werden zu primitiven lebenden Zellen. In der Genhypothese wird den Nucleinsäuren Vorrang gegeben. Diese Hypothese, die ursprünglich 1929 von H. Muller aufgestellt wurde, besagt, dass das Leben seinen Ursprung in der präbiotischen Bildung von Genen hat, die für den gesamten Metabolismus und die Selbstreplikation codieren. Die notwendigen Aminosäuren wurden dann bei zufälligen Zusammenstößen erworben. Eine Weiterentwicklung dieser Hypothese wurde nach der Aufklärung der chemischen Struktur des genetischen Materials – durch Watson und Crick und andere – möglich.

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