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Kompaktlexikon der Biologie: Wanderheuschrecken

Wanderheuschrecken, Bez. für mehrere Arten der Kurzfühlerschrecken (Caelifera), die im Gegensatz zu anderen Feldheuschrecken einen ausgeprägten Phasenpolyphänismus zeigen, indem sie sich, bedingt durch verschiedene Faktoren, von einer Einzelphase (solitäre Phase, Solitaria-Phase) zu einer sozialen Schwarmphase (gregäre Phase, Gregaria-Phase) entwickeln. Eine dritte intermediäre Phase (phase transiens) ist durch Merkmale der beiden Extremphasen gekennzeichnet. Der mit einer Massenvermehrung verbundene Umwandlungsprozess zur Schwarmphase ist zunächst noch nicht mit einem Wechsel des Lebensraums der Heuschrecken verbunden. Erst nach Erreichen einer kritischen Populationsdichte bilden sich die eigentlichen Schwärme der Wanderheuschrecken. Ausschlaggebende Faktoren für eine Konzentrierung solitärer Insekten aller Stadien sind u.a. die unregelmäßige Verteilung von Futterquellen, lokale Regengüsse und Windströmungen. Die Schwarmbildung verläuft in drei Etappen, die sich meist überlappen:

1) Im Konzentrierungsprozess fliegen solitäre Heuschrecken einzeln bei Nacht in geringer Höhe und gegen den Wind auf der Suche nach Nahrung und landen auf Gelände mit Vegetation. Bei fortschreitender Reifung nimmt die Paarungsaktivität zu, und als erste Anzeichen von gregärem Verhalten werden kurze Tagflüge beobachtet. Die Weibchen suchen nach Eiablageplätzen und prüfen den Feuchtigskeitsgrad des Substrats durch wiederholtes Einbohren des Hinterleibs, da die abgelegten Eier für die Embryonalentwicklung Wasser absorbieren müssen. Optische und olfaktorische Reize veranlassen die Weibchen in Gruppen abzulegen. Ein Weibchen produziert binnen vier Wochen bis zu drei Gelege mit durchschnittlich je 115 Eiern. 2) Im Multiplikationsprozess schlüpfen die Nymphen zwei bis drei Wochen später; häufiger Kontakt fördert die Gregarisierung der Nymphen, im Laufe der Jugendentwicklung formieren sie sich zu riesigen Horden, deren Verhalten weitgehend synchronisiert ist: sie fressen, ruhen in der Mittagshitze und marschieren zusammen scheinbar zielgerichtet. 3) Im Gregarisierungsprozess häuten sich die Nymphen zu geflügelten Heuschrecken und bilden kohärente Schwärme. Völlige Gregarisierung tritt jedoch erst nach zwei bis drei Generationen ein. Voraussetzung für die dafür notwendigen günstigen Brutbedingungen sind Niederschläge entlang eines barometrischen Tiefdruckgürtels. In diese so genannte intertropische Konvergenzzone strömen die Winde aus den nördlichen und südlichen Hochdruckzonen, die Luft steigt nach oben und kühlt sich ab. Dabei kondensiert die Luftfeuchtigkeit, es kommt zur Wolkenbildung, und Regenfälle sind die Folge. Gemäß der Heuschrecken-Wetter-Hypothese konzentrieren sich die Schwärme in dieser Zone, indem sie von den Winden unaufhaltsam und passiv dorthin transportiert werden. Obwohl die Heuschrecken aktive und ausdauernde Flieger sind und innerhalb eines Schwarms in alle Richtungen fliegen, bewahrt ein Schwarm seine Kontur durch einen Randeffekt, wonach die Heuschrecken an der Peripherie stets in Richtung zum Schwarmzentrum fliegen. Die intertropische Konvergenzzone erstreckt sich west-östlich vom Atlantik über Afrika, Arabien bis nach Pakistan und Westindien und fluktuiert nord-südlich mit den Jahreszeiten. Die Heuschreckenschwärme folgen genau dieser Verschiebung. Schwärme fliegen – vom Wind geschoben – tagsüber bis zu 200 km weit und landen abends bei abnehmenden Temperaturen zur Nahrungssuche. Auf diese Weise legen sie Strecken von mehreren Tausend Kilometern zurück; zum Teil bilden sich Schwärme von gewaltigen Ausmaßen: Eine Heuschreckenplage 1954 in Kenia umfasste 50 Schwärme, die eine Fläche von 1000 km2 bedeckten. Bei einer Dichte von 50 Heuschrecken/m2 wurden 50 Mrd. Heuschrecken berechnet. Da adulte Heuschrecken pro Tag ihr eigenes Körpergewicht von 1 – 3 g Vegetation verzehren, richten solche Schwärme verheerende Schäden an.

Vorhersagen von Heuschreckeneinfällen sind trotz der Anwendung von Satellitentechnik meist nicht erfolgreich. In der Bekämpfung findet heute vor allem die biologisch-integrierte Schädlingsbekämpfung Anwendung unter Einsatz von pflanzlichen Insektiziden, Insektenwachstumsregulatoren und insektenpathogenen Pilzpräparaten.

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Redaktion:
Dipl.-Biol. Elke Brechner (Projektleitung)
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Dr. Daniel Dreesmann

Wissenschaftliche Fachberater:
Professor Dr. Helmut König, Institut für Mikrobiologie und Weinforschung, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Professor Dr. Siegbert Melzer, Institut für Pflanzenwissenschaften, ETH Zürich
Professor Dr. Walter Sudhaus, Institut für Zoologie, Freie Universität Berlin
Professor Dr. Wilfried Wichard, Institut für Biologie und ihre Didaktik, Universität zu Köln

Essayautoren:
Thomas Birus, Kulmbach (Der globale Mensch und seine Ernährung)
Dr. Daniel Dreesmann, Köln (Grün ist die Hoffnung - durch oder für Gentechpflanzen?)
Inke Drossé, Neubiberg (Tierquälerei in der Landwirtschaft)
Professor Manfred Dzieyk, Karlsruhe (Reproduktionsmedizin - Glück bringende Fortschritte oder unzulässige Eingriffe?)
Professor Dr. Gerhard Eisenbeis, Mainz (Lichtverschmutzung und ihre fatalen Folgen für Tiere)
Dr. Oliver Larbolette, Freiburg (Allergien auf dem Vormarsch)
Dr. Theres Lüthi, Zürich (Die Forschung an embryonalen Stammzellen)
Professor Dr. Wilfried Wichard, Köln (Bernsteinforschung)

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