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Kompaktlexikon der Biologie: Anthropogenese

Anthropogenese, Anthropogenie, die Entwicklungsgeschichte des Menschen, i.w.S. auch die ontogenetische (Embryonalentwicklung) Entwicklung mit einbeziehend, i.e.S. die Entwicklungsgeschichte des Menschen (Hominisation, Menschwerdung) von den Anfängen der Hominiden bis zum Jetztmenschen (Homo sapiens sapiens).

Die Wissenschaft, die sich mit der A. beschäftigt, ist die Paläanthropologie. Sie basiert auf der Evolutionstheorie und bewegt sich innerhalb der Grenzen von Biologie und Geologie. Wenn auch Fossilien erlauben, die Evolution des Menschen nachzuzeichnen, so fehlen doch für eine vollständig belegte Herkunftsgeschichte mehr als 99 % der Teile des Ganzen. Interpretiert werden Fossilienfunde durch Vergleiche mit dem heutigen Menschen. Als Hilfsmittel zur Klassifizierung dient die biologische Systematik, insbesondere die phylogenetische Systematik, die hilft, die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den einzelnen Taxa aufzuklären. Aufschluss über Zeiträume von Entwicklungen geben zum einen die Methoden der Altersbestimmung und zum anderen die molekulare Uhr, d.h. Ähnlichkeitsvergleiche der Aminosäuresequenzen von Proteinen. Letzteres erlaubt eine Bestimmung des Zeitpunktes, zu dem sich zwei Gruppen getrennt haben. Auf diese Weise konnte ermittelt werden, dass der letzte gemeinsame Vorfahre von Schimpanse und Mensch vor etwa 6 Mio. Jahren lebte.

Erste Hinweise für eine Existenz der Anthropoidea (Simiae) finden sich bereits im Eozän, also vor rund 55 Mio. Jahren, nach molekulargenetischen Untersuchungen sind sie sogar schon seit mehr als 70 Mio. Jahren von den Halbaffen getrennt Die Stammgruppe an der Gabelung von Menschenaffen und Hominiden bilden die Dryopithecinen, die im Unterschied zu den Altweltaffen keinen Schwanz hatten, lange Arme für schwinghangelnde Fortbewegung besaßen und deren Backenzähne das so genannte Dryopithecus-Muster, d.h. fünf Höcker und eine Y-Furche, aufwiesen, das auch bei Menschenaffen und Hominiden vorhanden ist und diese von den Tieraffen unterscheidet. Bekanntestes hierher gehörendes Fossil ist Proconsul africanus. Aus den Dryopithecinen haben sich vermutlich die heutigen Gibbons entwickelt. In El-Faijum in Ägypten entdeckte Primatenfossilien, die zwischen 35 und 25 Mio. Jahren alt sind, stehen vermutlich der gemeinsamen Ursprungsgruppe von Altweltaffen und Menschenaffen noch sehr nahe. Die modernen Menschenaffen entstanden vor ungefähr 10 Mio. Jahren.

Umstritten ist, ob Ardipithecus ramidus, der 1992 bei Aramis in Äthiopien entdeckt wurde, als der älteste Hominide angesehen werden kann. Er steht dem letzten gemeinsamen Vorfahren von Menschenaffen und Hominiden sehr nahe. Unterschiede zu den Menschenaffen sind u.a. relativ kleine Eckzähne und weniger scharfkantige Vorbackenzähne. Außerdem liegt das Foramen ovale, die Austrittsstelle des Rückenmarks im Schädel, tiefer als bei den Menschenaffen, ein Hinweis für den aufrechten Gang. Von den Australopithecinen unterscheiden ihn u.a. relativ kleine und einfach gebaute Backenzähne, Ähnlichkeiten bestehen in einer Reihe von Skelettmerkmalen. Ardipithecus lebte in der Randzone des tropischen Regenwalds und bewegte sich hangelnd, aber eben auch teilweise zweibeinig am Boden fort, was von manchen Autoren als der Beginn des aufrechten Gangs angesehen wird. Über die Zugehörigkeit der verschiedenen Arten der Gattung Australopithecus zu den Hominidae besteht hingegen kein Zweifel. Ihr ältester Vertreter Australopithecus anamensis (Fundort Kenia) wird auf 3,9 bis 4,2 Mio. Jahre geschätzt. Die Australopithecinen gingen sicher aufrecht, was erstmals anhand eines recht vollständigen, etwa 3,18 Mio. Jahre alten Skeletts der Art Australopithecus afarensis („Lucy“; Fundort Äthiopien) und später anhand von Fußspuren in erhärteter Vulkanasche sicher nachgewiesen werden konnte. Diese Art lebte vermutlich in sozialen Verbänden und kannte schon Werkzeuggebrauch. Australopithecus africanus lebte vor 2 – 3 Mio. Jahren und hatte ein größeres Gehirn und andere Schädelproportionen als Australopithecus afarensis. Eine von Australopithecus africanus ausgehende Linie führte zur Gattung Homo ( vgl. Abb. ), in der sich mit Homo rudolfensis die älteste echte Menschenart findet. Er lebte in Ostafrika vor 2,5-1,8 Mio. Jahren, hatte ein Gehirnvolumen von 600 – 800 cm3 und entwickelte erste Steinwerkzeuge. Diese Art wurde relativ rasch von Homo erectus abgelöst, der eine Körpergröße von über 150 cm hatte mit einem Gehirnvolumen von 800 – 1300 cm3 und dessen Körperproportionen an diejenigen des heutigen Menschen erinnern. Die ältesten Funde (ca. 2 Mio. Jahre alt) stammen aus Ost- und Südafrika. Homo erectus nutzte das Feuer und stellte Faustkeile her. Er war der erste Hominide, der sich von Afrika nach Europa und Asien ausbreitete (vor rund 1,6 bis 1,8 Mio. Jahren). Aus Homo erectus ging vor 400000 Jahren Homo sapiens hervor, der ein größeres Gehirnvolumen, ein größeres Hinterhaupt und kleinere Zähne hatte als Homo erectus. In Europa führte eine Linie von Homo sapiens zum Neandertaler (Homo sapiens neanderthalensis), der vor 75000 – 35000 Jahren während der Würm-Eiszeit lebte. Das Gehirnvolumen der Neandertaler lag bei etwa 1500 cm3. Sie lebten in Höhlen und jagten auch Großwild. Die Neandertaler wurden vor etwa 32000 Jahren von Formen des Homo sapiens sapiens verdrängt, die vor etwa 35000 Jahren, ausgehend von Afrika, über den nahen Osten und den Balkan einwanderten.

Bereits vor 300000 Jahren gab es in Afrika Populationen des Homo sapiens, die an der Schwelle zum Jetztmenschen (Neanthropinen) Homo sapiens sapiens standen und und 150000 Jahre alte Schädelfunde gleichen denen des heutigen Menschen. Homo sapiens sapiens lebte im Nahen Osten vor 100000 Jahren, in Ostasien vor 30000-40000 Jahren, und ist in Südostasien und Australien seit mindesten 40000 Jahren und auch in Europa seit 40000 Jahren nachgewiesen. Die zeitliche Abfolge dieser Funde führte zu der Out-of-Africa-Theorie ( vgl. Abb. ), nach der sich der moderne Mensch in Afrika entwickelt und von dort aus in kleinen Gründerpopulationen über die Erde ausgebreitet und archaische Formen wie z.B. den Neanderthaler verdrängt hat. Diese Annahme wird durch molekularbiologische Untersuchungen rezenter Bevölkerungsgruppen und durch DNA-Analysen von Fossilien unterstützt. Ein Vergleich von Menschen verschiedener ethnischer Gruppen aus vier Kontinenten zeigte, dass die Variation der mitochondrialen DNA (mtDNA) innerhalb der Gruppen Afrikas größer ist, als im Vergleich der Gruppen der anderen Kontinente. Dies spricht dafür, dass die afrikanische Gruppe die älteste ist (Eva-Hypothese). Eine zweite Theorie geht davon aus, dass der moderne Mensch in verschiedenen Regionen der Welt aus Homo erectus hervorgegangen ist (multiregionales Entstehungsmodell). Dieses Modell wird gestützt durch die anatomischen Merkmale, die zwischen heutigen und frühen Menschen in bestimmten Regionen übereinstimmen.

Literatur: Cavalli-Sforza, L.L. u. Cavalli-Sforza, F.: Verschieden und doch gleich. Ein Genetiker entzieht dem Rassismus die Grundlage, München 1996. – Henke, W. u.Rothe, H.: Stammesgeschichte des Menschen. Eine Einführung, Heidelberg 2000. – Johanson, D. u. Blake, E.: Lucy und ihre Kinder, Heidelberg 1998.- Leakey, R. u. Lewin, R.: Die ersten Spuren. Über den Ursprung des Menschen, München 1994. – Schrenk, F.: Die Frühzeit des Menschen. Der Weg zum Homo sapiens, München 1998. – Stringer, Chris u. McKie, R.: Afrika – Wiege der Menschheit. Die Entstehung, Entwicklung und Ausbreitung des Homo sapiens, München 1996. – Tattersall, I.: Neandertaler. Der Streit um unsere Ahnen, Basel 1998.



Anthropogenese: Stammbaum des Menschen



Anthropogenese: Die Pfeile zeigen die nach der Out-of-Africa-Theorie postulierte Ausbreitung des Menschen. Die Jahresangaben sind Schätzungen aufgrund der genetischen Distanzen der Menschengruppen (Eva-Hypothese)

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Dr. Daniel Dreesmann

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Professor Dr. Siegbert Melzer, Institut für Pflanzenwissenschaften, ETH Zürich
Professor Dr. Walter Sudhaus, Institut für Zoologie, Freie Universität Berlin
Professor Dr. Wilfried Wichard, Institut für Biologie und ihre Didaktik, Universität zu Köln

Essayautoren:
Thomas Birus, Kulmbach (Der globale Mensch und seine Ernährung)
Dr. Daniel Dreesmann, Köln (Grün ist die Hoffnung - durch oder für Gentechpflanzen?)
Inke Drossé, Neubiberg (Tierquälerei in der Landwirtschaft)
Professor Manfred Dzieyk, Karlsruhe (Reproduktionsmedizin - Glück bringende Fortschritte oder unzulässige Eingriffe?)
Professor Dr. Gerhard Eisenbeis, Mainz (Lichtverschmutzung und ihre fatalen Folgen für Tiere)
Dr. Oliver Larbolette, Freiburg (Allergien auf dem Vormarsch)
Dr. Theres Lüthi, Zürich (Die Forschung an embryonalen Stammzellen)
Professor Dr. Wilfried Wichard, Köln (Bernsteinforschung)

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