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Lexikon der Neurowissenschaft: Tourette-Syndrom

Tourette-Syndrom [benannt nach dem französischen Neurologen Gilles Georges de la Tourette, 1857-1904], Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, de-la-Tourette-Syndrom, E Tourette's syndrome, motorische Erkrankung mit Automatismen (Tics) der Gliedmaßen, des Gesichts (Brissaud-Syndrom mit Schnaufen, Räuspern, Schnalzen, Ausspucken, Augenzwinkern, Mundverzerren) und anderer Regionen, z.B. ruckartigen Kopfdrehungen, sowie zuweilen Coprolalie (in 10% der Fälle), Palilalie und Echolalie, Echopraxie, Copropraxie (Tics obszöner Gesten, z.T. mit den Genitalien), unmotivierte Wutausbrüche, zwanghafte Nachahmung der Bewegung und Sprechweise anderer (Echophenomenie) u.a. Die Erkrankung tritt mit einer Häufigkeit von 1 auf 2000 auf, oft schon in Kindheit oder Jugend, überproportional oft bei Linkshändern ( siehe Zusatzinfo ). Eine familiäre Häufung wurde beschrieben; ob die erbliche Komponente autosomal-dominant ist, bleibt umstritten. Das Tourette-Syndrom kommt in unterschiedlicher Stärke vor, die Tics sind teilweise nur mild ausgeprägt und werden dann als persönliche Marotten interpretiert. Milde Tics treten bei bis zu 20% der Schulkinder auf, verlieren sich aber meist. In stärkeren Fällen sind sie auch psychisch sehr belastend und lassen sich nur kurzzeitig unterdrücken. Im Lauf der Zeit verändern sich ihre Stärke und Form. In Streßsituationen, im Affekt und bei konkurrierenden Intentionen treten sie besonders stark zum Vorschein. Das Tourette-Syndrom ist bislang nicht heilbar und hält meist lebenslang an, schwächt sich mit dem Alter aber oft ab. Es darf nicht mit Chorea Huntington, Chorea minor und TTD verwechselt werden. Es wird in 50% der Fälle von Aufmerksamkeitsstörungen begleitet, die durch schlechte Konzentrationsfähigkeit, Impulsivität und Hyperaktivität gekennzeichnet sind. Ebenfalls häufig (über 50%) und nicht scharf abgrenzbar sind Zwangsstörungen. Patienten mit Tourette-Syndrom leiden insbesondere unter zwanghaften Gedanken an Symmetrien, Zählen, Sex und Gewalt und zeigen Zwangsverhalten in Gestalt von obsessivem Ordnen, Kontrollieren, Riechen und Lecken an Gegenständen, nicht selten sogar Selbstverletzung. Auch Angststörungen kommen mitunter vor. – Die direkte Ursache ist noch weitgehend unbekannt. Diskutiert wird insbesondere eine erhöhte Konzentration von Dopamin, das vor allem im Frontallappen, Corpus striatum und der Substantia nigra eine Rolle spielt, oder eine verminderte Konzentration von Serotonin im Subthalamus und den Basalganglien. Postmortal sind einige Abnormalitäten in den Basalganglien (insbesondere dem Caudatum), im vorderen Gyrus cinguli, der periaquäduktalen grauen Substanz sowie dem Tegmentum im Mesencephalon gefunden worden. Studien mit Positronenemissionstomographie zeigten physiologische Anomalien in den Basalganglien und fronto-temporalen Bereichen, besonders im Putamen. Mittelschwere Fälle werden mit Psycho- und Verhaltenstherapie behandelt, bei schweren Fällen können Dopamin-Antagonisten wie Haloperidol und andere Medikamente lindernd wirken. Hierbei gibt es Hinweise, daß geringe Mengen an Nicotin den beruhigenden Effekt der antipsychotischen Arzneimittel unterstützen. Willkürmotorik.

R.V.

Lit.: Chase, T.N., Friedhoff, A.J., Cohen, D.J. (Hrsg.): Tourette syndrome. New York 1992. Leckman, J.F., Cohen, D.J. (Hrsg.): Tourette's Syndrome. New York, Weinheim 1998. Robertson, M.M., Baron-Cohen, S.: Tourette syndrome. Oxford, New York, Melbourne 1998.

Tourette-Syndrom

psychosoziale Faktoren:
Obwohl die Coprolalie des Tourette-Syndroms genetisch und neuronal mitbedingt zu sein scheint, sind Ausmaß und Inhalt kulturabhängig. So scheint in asiatischen Ländern, z.B. Japan, Coprolalie seltener als in Europa oder den USA vorzukommen (oder nur diagnostiziert zu werden?). Die obszönen Wörter sind meist aus dem sexuellen Bereich. In Schanghai wurde aber z.B. der Fall eines elfjährigen Mädchens bekannt, das reaktionäre politische Slogans schrie und dabei Wörter verwendete, die Mao Tse Tung 30 Jahre zuvor verboten hatte. Psychosoziale Faktoren scheinen allerdings nicht nur die Art der Coprolalie zu beeinflussen, sondern auch ihr Ausmaß zu verringern, wenn der Patient durch seine Umwelt deswegen extrem unter Druck gesetzt wird.

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