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Lexikon der Neurowissenschaft: Zukunft der Neurowissenschaft

Essay

Rüdiger Vaas

Zukunft der Neurowissenschaft

"Voraussagen sind schwierig, insbesondere wenn sie sich auf die Zukunft beziehen", kalauerte einst Niels Bohr. Und Albert Einstein bekannte: "Ich denke nie an die Zukunft – sie kommt früh genug." Welchen Sinn macht also ein Essay über die Zukunft der Neurowissenschaft? Was läßt sich über eine bescheidene Extrapolation hinaus sagen, wie breit und wie weit hinaus soll der imaginäre Blickwinkel sein? Und kann die Zukunft der Neurowissenschaft überhaupt getrennt von der Zukunft der menschlichen Kultur betrachtet werden, deren Teil sie ja ist? – Im folgenden sollen einige wichtige Aspekte angesprochen, aber Prognosen künftiger Entdeckungen vermieden werden. Die Auswahl ist notwendigerweise exemplarisch und zum Teil willkürlich, die Erörterung muß unvollständig bleiben, und eine Bewertung hypothetischer Tendenzen und Möglichkeiten erfolgt allenfalls am Rande, obwohl die künftige Entwicklung der Forschung und Anwendung eng mit den ethischen Problemen in der Neurowissenschaft zusammenhängt bzw. auch in diesem Kontext gesehen werden sollte. "Der Glaube an eine größere und bessere Zukunft ist einer der mächtigsten Feinde gegenwärtiger Freiheit", wußte schon Aldous Huxley, und Durs Grünbein hat ähnlich argumentiert: "Bei Utopien wurde immer zuerst die Seele gesucht, und am Ende blieb der Körper auf der Strecke". Umso wichtiger ist die Mahnung von Charles F. Kettering: "Wir alle sollten uns um die Zukunft sorgen, denn wir werden den Rest unseres Lebens dort verbringen". – Viele der nachfolgend angesprochenen Aspekte sind notgedrungen spekulativ, manche vielleicht sogar unrealistisch. "Wir können die Zukunft gar nicht vorhersagen, wir können sie allenfalls erfinden", meinte Dennis Gabor. Und: "Keiner, der die Zukunft des Menschen auf einen einzigen Nenner bringen will, behält recht", können wir Golo Mann zufolge aus der Vergangenheit lernen. "Immer ist die Zukunft falsch: wir haben zuviel Einfluß auf sie." Diese Worte von Elias Canetti beschreiben jedoch nur die eine Seite der Sache; denn andererseits lehrt die Erfahrung, daß die Natur immer wieder mit großen Überraschungen aufwartet. Wissenschaft ist kein Spaziergang auf ausgetretenen Pfaden, sondern eine Expedition ins Unbekannte, die oft genug, auch gegen starke Wünsche der Forscher, völlig andere Richtungen einschlägt; und nicht immer läßt sich Neuland auf geraden Wegen betreten. Das aber macht auch den Reiz und die Spannung des Abenteuers Wissenschaft aus: "Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag" (Johann Wolfgang Goethe).

Ein Blick in die Zukunft

Das antike Orakel von Delphi gab eher kryptische Andeutungen als präzise Prognosen. Auch die (zweite) Delphi-Studie, die 1998 im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie erstellt und vom Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung, Karlsruhe, koordiniert und ausgewertet wurde, will die Zukunft nicht exakt prophezeien, sondern nur Abschätzungen geben. Auf der Basis einer Befragung von über 2000 Experten aus Forschung, Lehre und Industrie skizzierte die Studie ein Szenario für die folgenden Jahre:
2007 Biometrische Sensoren mit vorgegebenen Mustern für Netzhaut- und Fingerprints werden zur individuellen Identifikation eingesetzt.
2009 Auf Gen-Analysen basierende Methoden zur Vorhersage des individuellen Erkrankungsrisikos bei genetisch mitbedingten Krankheiten sind weit verbreitet.
2012 Medikamente können ihre Wirkorte (z.B. Tumorzellen) erkennen und zielgenau dorthin gelangen ("missile drug").
2012 Elektrische Schaltkreise besitzen selbstgestaltende und selbstreparierende Fähigkeiten ähnlich wie Nervennetze.
2013 Blinde erhalten durch künstliche Netzhaut bzw. implantierte Mikrochips ein begrenztes Sehvermögen.
2014 Eine Therapie von Prion-Krankheiten ist möglich (z.B. Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, bovine spongiforme Encephalopathie).
2014 Die neurochemischen Mechanismen des Alkoholismus und seine genetischen Komponenten werden aufgeklärt.
2014 Gebärdensprache kann automatisch übersetzt werden, so daß Gehörgeschädigte und Nichtbetroffene über weite Entfernungen kommunizieren können.
2014 Komplexe Kleinststrukturen (Quanten-Bauelemente, Nanotechnik, molekulare Elektronik) werden allgemein eingesetzt.
2015 Eine wirksame Therapie der Alzheimer-Krankheit wird entwickelt.
2017 Intelligente Roboter verfügen über Gesichts- und Hörsinn sowie andere sensorische Funktionen; sie können die Situation in der Außenwelt selbst beurteilen und autonom Entscheidungen treffen.
2018 Die Vorgänge beim körperlichen Altern sind verstanden.
2021 Die Mechanismen der kreativen Leistung des Menschen (Kreativität) werden soweit aufgeklärt, daß ihre Nutzung in der Informatik möglich wird.
2021 Ein Biocomputer auf der Basis eines neuen Algorithmus wird in der Praxis eingesetzt, der die Informationsverarbeitungssysteme von Organismen einbezieht.
2022 Die neurobiologischen Grundlagen von Gehirnfunktionen, z.B. Lernen, Gedächtnis, Emotionen, Sprache, Schlaf und Träume, werden aufgeklärt.
2025 Lebende Organismen können in einen künstlichen Winterschlaf versetzt und auf diese Weise lange konserviert werden.

Neurochirurgie, Transplantation und Regeneration

1906 starben fünf von sechs Patienten bei Operationen am offenen Gehirn. 1917 waren es noch 20%, 1941 11%. 1961 erfolgte der erste mikrochirurgische Eingriff, bei dem Mediziner mit dünnen Sonden ins Gehirn vordrangen, ohne vorher die halbe Schädeldecke abnehmen zu müssen. Künftig werden Hightech-Apparate dem Chirurgen noch bessere Hilfe leisten: Roboter, die nach Anweisung bestimmte Operationen viel präziser durchführen können als eine noch so ruhige Hand; Kernspintomographen, die im Gegensatz zu den bislang üblichen Röhren offen sind und dreidimensionale Echtzeit-Bilder liefern, die eine genaue Kontrolle eines jeden Eingriffs ermöglichen. Dies wird nicht nur die bisherigen Operationen sicherer, leichter und zuverlässiger machen, sondern auch z.B. die Entfernung von Tumoren an Stellen ermöglichen, die bislang unzugänglich waren (Neurochirurgie).
Ungleich schwerer als chirurgische Eingriffe ist es, geschädigte oder zerstörte neuronale Funktionen wiederherzustellen (Regeneration). Auch wenn die synaptische Plastizität (insbesondere in jungen Jahren) zahlreiche Ausfälle zu kompensieren vermag – beispielsweise innervieren Neurone bei der Zerstörung ihrer Zielgebiete andere Regionen, die teilweise umfunktioniert werden können –, hat sie doch auch ihre Grenzen. Manche Gehirnregionen und damit die von ihnen realisierten Leistungen sind ausgesprochen spezifisch. Da sich Neurone nach der Geburt überwiegend nicht mehr teilen und daher auch vom Körper nicht zu ersetzen sind, verursachen Ausfälle in solchen Regionen irreversible Schäden, weil ihre Aufgaben auch von anderen Nervenzellen nicht mehr übernommen werden können. Eine Möglichkeit, hier doch noch zu helfen, wird gegenwärtig in der Transplantation von Hirngewebe untersucht. – Gewisse, wenn auch noch immer umstrittene Erfolge wurden bei der Transplantation von (in der Regel embryonalen) Neuronen in die Substantia nigra erzielt. Diese Struktur im Mesencephalon ist maßgeblich an der Muskelsteuerung beteiligt. Ihr Ausfall führt zur Parkinson-Krankheit, was unter anderem eine vollkommene Bewegungslosigkeit zur Folge haben kann. Als entscheidender Faktor dabei gilt ein Mangel an Dopamin. Die Symptome können mit der Gabe von L-Dopa, der natürlichen Vorstufe dieses Neurotransmitters, mitunter beträchtlich gelindert werden. Allerdings schwächt sich die Wirkung ab und ist meist mit erheblichen Komplikationen verbunden. Manchmal hat L-Dopa auch gar keinen Effekt. Einen Ausweg können hier direkt an den Wirkungsort geführte "Dopamin-Pumpen" ermöglichen: embryonale Mittelhirnzellen, die in die Substantia nigra hineingespritzt werden und dort anwachsen und den fehlenden Stoff bereitstellen, wie PET-Studien und eine Reduktion von L-Dopa-Gaben belegen. Auf diese Weise konnten nach über 250 Transplantationen bereits bei einigen Parkinson-Patienten Linderungen erzielt werden, wenn auch keine Heilung (bei anderen hat sich die Störung allerdings verstärkt, vielleicht aufgrund eines Übermaßes von Dopamin). Diese diffuse pharmakologische Wirkung ist jedoch relativ unspezifisch. – Auch andere Transplantationen haben im Tierversuch Leistungssteigerungen von Funktionen gezeigt, die durch Läsionen eingeschränkt oder ausgeschaltet worden waren. Sowohl die Motorik als auch Lernen und Gedächtnis (getestet in Labyrinthen und Konditionierungs-Experimenten) ließen sich durch Striatum-Zellen verbessern, die in das zuvor zerstörte Corpus striatum eingepflanzt worden waren. Diese Vorderhirnstruktur (die unter anderem in die Substantia nigra projiziert) ist die oberste Integrationsstelle des extrapyramidalen Systems der Motorik und wird von verschiedenen Regionen der Großhirnrinde und vom Thalamus innerviert. Deren Bahnen wachsen auch in das Transplantat ein und bilden dort Synapsen. Ferner wurde bei Ratten nach Läsionen des am Gedächtnis beteiligten Hippocampus und der Einbringung fötaler Neurone eine mindestens teilweise Verbesserung der Merkfähigkeit für räumliche Relationen beobachtet. – Allerdings vermögen die eingesetzten Zellen die Funktionen des zerstörten Gewebes nicht vollständig zu ersetzen. Die Aussicht, Ausfälle zu heilen, die Menschen etwa durch Schlaganfälle erlitten haben, ist daher bislang noch sehr gering, denn die Transplantate müßten spezifische Schaltkreise ersetzen oder unterbrochene Verbindungen überbrücken. Auch Tiermodelle der Chorea Huntington zeigten, daß eine Transplantation neuer Zellen ins Striatum allein nicht genügt, sondern das Tier zudem lernen muß, diese Zellen auch zu nützen. Neben großen praktischen Schwierigkeiten bei den Versuchen, weniger spezielle Funktionen als etwa bei der Parkinson-Krankheit durch Hirngewebetransplantationen wiederherzustellen und längerfristig aufrechtzuerhalten, gibt es auch prinzipielle ethische Bedenken. So besteht die Gefahr, daß Embryonen zu menschlichen Ersatzteillagern degradiert und womöglich allein dafür gezeugt und abgetrieben werden. Um das Dilemma zu umgehen, abgetriebene Föten als Rohstoffquellen zu verwenden, wird auch die Verpflanzung von Nervenzellen aus anderen Organismen erwogen; Tarnkappenmoleküle könnten dabei die Gewebeunverträglichkeit unterlaufen. Es ist gelungen, Neurone von Schweinen in Affen zu transplantieren und sie mit Hilfe eines gentechnisch erzeugten Proteins bis zu einem gewissen Grad vor der Abwehr des Affen-Immunsystems zu schützen.
Eine weitere Möglichkeit zur Regeneration von Schädigungen bietet die Aktivierung der Teilung körpereigener Nervenzellen. Wenn es möglich wäre, die Teilungsfähigkeit von Neuronen zu stimulieren, bestünde Hoffnung für Hirngeschädigte, die verlorenen neuronalen Ressourcen wieder aufzustocken. Für Patienten, die unter den Folgen eines Schlaganfalls oder einer Hirnverletzung leiden, reicht es jedoch nicht, daß neue Zellen entstehen; diese müssen auch funktionieren. Solche Ersatzzellen gibt es aber: Im Stimmzentrum von Kanarienvögeln sterben jeden Herbst zahlreiche Neurone ab, die im Winter nachgebildet werden, so daß die Tiere nach einigen mehr oder weniger stumm verbrachten Monaten im Frühjahr neue Lieder zwitschern können. Zebrafinken bilden Neurone aus körpereigenen Stammzellen zwar viel langsamer, dafür aber mit großer Beständigkeit aus. Auch diese neuen Nervenzellen beteiligen sich an der Steuerung des Gesangs. Nervenzellen sind also in höheren Wirbeltieren nicht nur zu einem gewissen Grad regenerierbar, sondern erhalten auch funktionell eine Rolle, wirken z.B. an der Organisation komplexer Verhaltensleistungen mit. Auch bei Säugetieren kommt es zu einer partiellen Genese von Neuronen. Sie sind z.B. für die Bildung des Geruchszentrums verantwortlich, und andere bringen Hippocampus-Zellen hervor. Im Gegensatz zur früheren Lehrmeinung werden selbst bei erwachsenen Affen dort, aber auch vereinzelt in der Großhirnrinde, kontinuierlich neue Nervenzellen eingebaut. Die Neurogenese erfolgt an den Hirnventrikeln, von wo aus die Zellen in ihre Zielregionen wandern. Inzwischen wurden auch neurale Vorläuferzellen aus dem Großhirn von einige Stunden zuvor verstorbenen Erwachsenen und aus operativ entfernten Nervengeweben entnommen und erfolgreich in Zellkulturmedien am Leben gehalten und zur Teilung gebracht. Künftig wird es wohl möglich sein, spezifische Neurone aus körpereigenen multipotenten Stammzellen oder aus neuralen Vorläuferzellen nahezu unbegrenzt zu züchten und therapeutisch einzusetzen. In vitro lassen sich bereits neuronale Stammzellen vermehren, die Parkinson-Patienten implantiert werden können, wo sie Dopamin produzieren. Diese Methode ist effektiver und unbedenklicher als z.B. die Transplantation von Neuronen aus abgetriebenen Föten. Die Nachzucht körpereigenen Gewebes würde auch das Problem der Unverträglichkeit beheben. Unklar ist, inwieweit sich körpereigene Stammzellen aktivieren lassen, die dann in die richtige Gegend wandern, Verbindungen zu anderen Zellen ausbilden und sich in das Gewebe so einfügen, daß sie dessen Funktionalität verbessern. Was bei einfachen Stoffwechsel-Beeinträchtigungen wie der Parkinson-Krankheit noch relativ leicht geht, scheint bei großräumigen Schädigungen, z.B. nach einem Schlaganfall oder bei Alzheimer-Kranken, beinahe utopisch. Wenn überhaupt, dann könnten diese Patienten nur mit immensem Training von den aktivierten oder implantierten Stammzellen profitieren: ursprüngliche Entwicklungs- und Lernprozesse müßten im Prinzip wiederholt werden, um die neuen Zellen in den richtigen Kontext einzubinden. Als wesentlich einfacher dürfte sich die Überbrückung defekter Leitungsbahnen erweisen. Sogar die Transplantation von Rückenmark ist prinzipiell möglich und wurde auch schon versucht. In den nächsten Jahren wird es wohl möglich sein, dort neue Fasern einwachsen zu lassen und z.B. Querschnittslähmungen zu lindern oder gar zu heilen. – Eine gewisse Lenkung neuer Nervenzellen ist immerhin schon im Tierexperiment gelungen. So wurden auswachsende Axone aus anderen Hirnregionen in den Cortex von Mäusen geleitet, wo sie mit dem dortigen Gewebe Verbindung aufnahmen. Neue Zellen, die in einen Teil des Rhinencephalons von Hamstern eingewandert waren, begannen bei sexueller Erregung der Tiere zu feuern. Und die Manipulation inhibitorischer Moleküle wie Nogo in den Fasertrakten der weißen Substanz könnten zur Lenkung auswachsender Axone beitragen. Vielleicht ist das der erste Schritt zu einer gezielten Neuverschaltung geschädigter Hirnregionen, eine Reparatur des Gehirns von innen heraus. Das Gehirn ist offenbar nicht nur ein Gebäude, das lebenslang umgebaut und renoviert wird, es kann anscheinend in einem gewissen Maß auch erweitert werden.
Ebenfalls noch Zukunftsmusik ist das Umschalten neuronaler Verarbeitungszentren (modulare Systeme). Immerhin ist es z.B. bei neugeborenen Frettchen schon gelungen, Hirnregionen so umzuschalten, daß sie funktionsfähige visuelle Reize in Hirnregionen verarbeiten, die eigentlich für das Hören "zuständig" sind: Sie "sahen" Licht mit ihrem auditorischen Cortex. Ein anderes Beispiel für die enorme Plastizität im Nervensystem ist, daß Blinde die Braille-Schrift (aber nicht andere taktile Reize) zum Teil in ihrem anderweitig funktionslos gewordenen visuellen Cortex verarbeiten. Wenn die biochemischen Grundlagen der Plastizität besser bekannt sind, wird es vielleicht eines Tages gelingen, die corticale Reorganisation gezielt auszulösen und so zu steuern, daß z.B. Patienten mit Läsionen durch Tumoren, Schlaganfälle oder Verletzungen einen Teil ihrer abhanden gekommenen Fähigkeiten verlagern oder entfallene, sonst nicht mehr erlernbare Informationen anderweitig speichern können. – Man muß sich fragen, warum die Natur nicht selbst den Weg der neuronalen Regeneration über neue Hirnzellen einschlug, sondern stattdessen im Lauf der stammesgeschichtlichen Entwicklung hin zu den Primaten immer weiter eingeschränkt hat. Der Grund dafür besteht wohl darin, daß die eingeschränkte Plastizität des adulten Gehirns eine Voraussetzung für Lernen und Gedächtnis ist. Ein sich ständig modifizierendes Gehirn würde neu gespeicherte Informationen kontinuierlich "überschreiben" und somit den Erwerb neuer Fähigkeiten und Fertigkeiten unterlaufen.
Zu den großen Herausforderungen der klinischen Neurowissenschaft zählen die Demenzen. Heute leidet jeder siebte über 65 und jeder dritte über 85 an einer Form der Demenz. Die Kosten der Demenzen werden 2010 weltweit vermutlich 50 Milliarden Euro übersteigen, fast 10 Milliarden mehr als heute. Derzeit erkranken allein in Deutschland jährlich 135000 Menschen an Alzheimer-Krankheit. Im Jahre 1997 wurden 1,5 Millionen mittlere und schwere Alzheimer-Fälle gezählt, für 2010 rechnet man mit 1,7 Millionen und für 2030 mit 2,5 Millionen, weltweit sogar 22 Millionen (falls keine wirksame Therapie entwickelt wird). Hauptgrund ist die steigende Lebenserwartung (25% der Alzheimer-Patienten leiden an der erblichen Variante, der überwiegende Rest an sporadischen Formen, bei denen genetische Faktoren aber auch eine Rolle zu spielen scheinen). Mit zunehmendem Alter kommt es bei den Patienten zu einem Mangel an Acetylcholin, der durch Acetylcholin-Esterase-Hemmer wie Tacrin (Cognex) oder Donepezil (Aricept) bislang nur kurzfristig hinausgezögert werden kann. Danach setzt das Neuronensterben ein, das im Verlauf der Krankheit zu einer Schrumpfung des Gehirns um bis zu 20% führt. Ein charakteristisches Merkmal der Alzheimer-Erkrankung ist die Bildung harter Amyloide. Diese setzen sich als Plaques auf Nervenzellen ab und töten sie im Lauf der Zeit, indem sie Dendriten verkümmern lassen, aggressive Zellgifte produzieren und entzündungsfördernde Mikrogliazellen anziehen. Diese Plaques abzubauen bzw. rechtzeitig verhindern oder verzögern zu können, ist eine enorme Herausforderung im Kampf gegen die Alzheimer-Erkrankung, die einen erschreckenden Prozentsatz der Menschen höheren Alters befällt. Vielleicht wird man in einigen Jahren ihr Auftreten stark dezimieren können; schon jetzt gibt es erfolgversprechende Tierversuche mit Impfstoffen. Die Plaques entstehen durch Verklumpung von β-Amyloid-Peptiden; Mäuse, denen diese Peptide ins Blut gespritzt werden, bilden Antiköper, die den Fremdkörper unschädlich machen und die Plaque-Bildung drastisch unterdrücken (bei Impfung in der Jugend) oder dezimieren (bei Impfung bereits erkrankter älterer Tiere). Die Impfung hat keine auffälligen schädlichen Nebenwirkungen und kann sogar Lern- und Gedächtnisleistungen der Mäuse verbessern. Wirksamkeitsstudien mit Menschen, für die eine Impfung ebenfalls gut verträglich zu sein scheint, sind bereits angelaufen. Auch Mittel zur Senkung des Cholesterinspiegels (z.B. Simvastatin) sind als Verminderer von Plaque-Bildung im Gespräch. Ferner kann man versuchen, schon vorhandene Plaques zu bekämpfen: So könnte das Antibiotikum Cliochinolin bzw. Clioquinol die Plaques auflösen, indem es Kupfer- und Zinkionen bindet. Auch andere Ansätze könnten sich als erfolgreich erweisen: Die Stimulation oder Hemmung von Sekretasen, die das β-Amyloid aus dem größeren β-Amyloid-Vorläuferprotein (APP) herausschneiden. Durch α- und γ-Sekretasen entsteht ein harmloses Fragment mit 40 Aminosäuren, durch β- und γ-Sekretasen dagegen das toxische β-Amyloid mit 42 Aminosäuren. Es stört den Calcium-Haushalt von Zellen, scheint Mitochondrien zu beeinträchtigen, so daß sich toxische Sauerstoff-Radikale ausbreiten, und führt dazu, daß die geschädigten Neurone Immunzellen anziehen und eine Entzündungsreaktion auslösen. Ein Therapieansatz besteht demzufolge darin, die Entstehung des toxischen β-Amyloids zu minimieren. Eine Möglichkeit ist die Stimulation der α- und die Hemmung von β- und eventuell auch γ-Sekretasen. Außerdem laufen bereits klinische Studien mit Antioxidantien und Radikalfängern, z.B. Vitamin E, sowie mit nichtsteroidalen Entzündungshemmern wie Ibuprofen, die die toxischen Effekte des β-Amyloids abschwächen könnten.

Gentechnik und Gehirn-Design

Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms ist auch ein Meilenstein für die Zukunft der Neurowissenschaft und in den Auswirkungen bislang nur vage abzuschätzen. Mit wachsender Kenntnis der Funktion der einzelnen Gene und der von ihnen codierten Proteine wird sich auch das Verständnis der biochemischen und zellulären Vorgänge in den Nervenzellen und Nervennetzen, in der Ontogenie und Phylogenie des Nervensystems und bei Krankheiten und Vergiftungen enorm erweitern. Das gilt ebenfalls für die genetische Kartierung anderer Organismen (Mäuse, Ratten, Affen, Zebrafische, Caenorhabditis elegans, Drosophila melanogaster). Das Anwendungspotential dieses Wissens ist enorm, aber auch für die Grundlagenforschung wird es viele neue Impulse geben, sogar für die Anthropologie: Denn was den Menschen zum Menschen macht, hängt auch von den knapp zwei Prozent des Genoms ab, die uns von den Schimpansen unterscheiden. Welche Gene das sind und welche Funktionen sie haben, wird man wahrscheinlich schon in wenigen Jahren wissen. Es zeichnet sich bereits ab, daß weniger die Gene als deren Expression und Regulation entscheidend sind. Während sich Menschen und Schimpansen z.B. hinsichtlich ihrer Genexpression in Leber und Blut ähneln, aber von Rhesusaffen unterscheiden, sind die Unterschiede zwischen Menschen und Schimpansen bei der Genexpression im Gehirn wesentlich größer. Auch könnte sich herausstellen, daß für die kognitive Evolution des Menschen nicht nur wichtig war, was das Gehirn hinzugewann, sondern auch, was es verlor. Z.B. haben Menschen (und ebenso Neandertaler) im Gegensatz zu Schimpansen keine N-Glycolylneuraminsäure (Neu5Gc) im Gehirn, weil das Enzym, das diese synthetisiert, mutiert ist (die Ursachen und Folgen dieser Mutation sind allerdings noch unklar).
Gentechnische Eingriffe werden künftig eine wachsende Rolle spielen. Das schon heute mögliche gezielte Ausschalten (knock-out-Mäuse), Aktivieren oder Einsetzen von Genen (transgene Mäuse) in Tierversuchen dürfte die Neurophysiologie auch weiterhin um viele Erkenntnisse bereichern; langfristig betrachtet wird davon auch die Medizin profitieren. Vergleichsweise einfache Erkrankungen durch Erreger wie Viren oder Bakterien und durch Stoffwechseldefizite, beispielsweise einen Mangel oder Überschuß an bestimmten Transmittern, Neuromodulatoren oder Neurohormonen, werden relativ bald therapierbar sein. Inwiefern sich andere Erkrankungen behandeln lassen, die auf komplexeren Kausalgefügen oder großen, irreversiblen Schäden beruhen, muß noch offen bleiben und eher skeptisch betrachtet werden, selbst wenn ihre Genese einmal genau verstanden ist. Doch die Chance, ihr Auftreten präventiv zu verhindern, wird durch den zu erwartenden Wissenszuwachs ebenfalls steigen. Die Gentechnik wird auch ganz neue Möglichkeiten eröffnen hinsichtlich der Manipulation der Keimbahn (Keimbahntherapie), um bestimmte genetisch mitbedingte oder determinierte Eigenschaften auszuwählen und andere zu eliminieren – ein Thema unzähliger Science-fiction-Romane und ethischer Debatten. Haar- und Augenfarbe werden sich leicht designen lassen, aber mit komplexen Persönlichkeitsmerkmalen oder Intelligenz sieht es ganz anders aus, zumal hier die Umwelt eine entscheidende Rolle spielt. Und weil im Gehirn Tausende von verschiedenen Genen aktiv sind, erscheint eine signifikante Steigerung geistiger Fähigkeiten durch Eingriffe in die Keimbahn zumindest in naher Zukunft recht unwahrscheinlich. Dennoch: Daß Intelligenz und andere geistige Eigenschaften nicht nur von der Umwelt abhängen, in der ein Mensch aufwächst, sondern auch von einem genetisch angelegten Rahmen, belegen inzwischen zahlreiche Forschungen. Fest steht auch, daß eine höhere Intelligenz meistens mit einer besseren sozialen Stellung und einem größeren beruflichen Erfolg einhergeht. Wäre es also nicht verständlich oder sogar geboten, wenn Eltern ihrem Nachwuchs die besten Startchancen gleichsam gentechnisch in die Wiege legen würden?
Vielleicht läßt sich durch Zelltransplantationen oder eingespritzte Moleküle auch der Hirnalterungsprozeß verzögern. Im Gegensatz zur Alzheimer-Demenz und einigen anderen Erkrankungen, die Nervenzellen abtöten, ist der Neuronenverlust durch das Altern neueren Erkenntnissen zufolge relativ gering; allerdings nimmt das Volumen vieler Neurone im Lauf der Zeit um teilweise über 40% ab. Es gelang kürzlich bei Tierversuchen mit Makaken, diesen Schrumpfungsprozeß aufzuhalten und sogar umzukehren. Bei den Affen wurden Nervenzellen dort ins Gehirn eingesetzt, wo die sog. Ch4-Zellen beim Altern stark an Volumen verlieren. Drei Monate nach der Zelltransplantation waren die Ch4-Zellen bei den alten Affen jedoch fast wieder so groß wie bei den unbehandelten Jungtieren: Die eingepflanzten Zellen hatten den Nervenwachstumsfaktor abgegeben. Weitere Untersuchungen müssen nun klären, ob noch andere Hirnregionen damit verjüngt werden können und welche Folgen dies beispielsweise für Lernen und Gedächtnis hat.
Denkbar ist sogar, mit Nervenwachstumsfaktoren und Zellteilungsstimulatoren die Neuronen- und Verschaltungsdichte in manchen Hirnbereichen gezielt zu erhöhen. Dies birgt zwar enorme Risiken, z.B. eine unkontrollierte Aktivität wie bei epileptischen Anfällen hervorzurufen, aber es könnte auch ganz neue Chancen eröffnen. "Wenn ein Gehirn oder ein bestimmter Teil davon eine kritische Masse erreicht, könnten neue und unvorhersehbare Eigenschaften auftauchen", vermutet Vilayanur Ramachandran. "Eine Verdopplung der Neurone würde dann nicht einer Verdopplung des Talents entsprechen, sondern vielleicht einer Verhundertfachung." Wahrscheinlicher ist aber, daß sich die Effektivität des menschlichen Gehirns ohne technische Zusatzleistungen nur noch sehr eingeschränkt steigern läßt. Es ist aus Gründen der Nährstoffversorgung nicht möglich, beliebig große und dicht verknüpfte Nervennetze zu erzeugen. Außerdem gibt es auch Grenzen der Regulation. Schon jetzt könnten Depolarisationswellen (eine mutmaßliche Ursache der Migräne) wie auch Epilepsie der Preis sein, den die hochentwickelten Nervensysteme mitunter zu zahlen haben. In stammesgeschichtlich älteren Regionen ist die Neuronendichte und -vernetzung (und wohl auch die Anzahl der Neurotransmitter-Rezeptoren) nicht so hoch, als daß solche überschießenden Prozesse dort möglich wären. Überdies hätten sie erhebliche Selektionsnachteile zur Folge: Eine Depolarisationswelle, die z.B. durch das Myelencephalon läuft, würde die Atmung unterbinden und den Organismus sofort töten. Im Normalfall arbeitet auch der Cortex nur mit einem Bruchteil des maximal möglichen Outputs, wofür inhibitorische Mechanismen und negative Rückkopplungen sorgen. Wahrscheinlich sind höchstens 0,1% der Nervenzellen simultan aktiv. Entgleisen diese Regelungsprozesse jedoch, kann das System ausbrechen und zu epileptischen Anfällen oder Migräne-Attacken führen, deren Nachteile evolutionär bislang aber offensichtlich zu verkraften waren. Künftige Superhirne könnten jedoch an unkontrollierbaren Kaskaden elektrochemischer Aktivitäten scheitern.
Andererseits eröffnen gentechnische Eingriffe durchaus die Möglichkeit, kognitive Leistungen wie Lernen und Gedächtnis zu verbessern. So gelang es z.B. bereits, in die Eizelle, aus der eine Maus-Mutante namens Doogie entstand (benannt nach einer schlauen TV-Figur), ein zusätzliches Gen einzuschleusen – eine kleine Veränderung mit großer Wirkung. Durch das Gen wird nämlich mehr des körpereigenen Proteins NR2B gebildet, das in den Membranen von Nervenzellen die Öffnungsdauer bestimmter Ionenkanäle reguliert, der NMDA-Rezeptoren (Glutamatrezeptoren). Von diesen hängt ab, wie Zellen auf ankommende Reize reagieren und ihre künftige Empfindlichkeit regulieren. Doogies Gewinn an NR2B hat sich in zahlreichen Experimenten als vorteilhaft erwiesen: Die Maus kann Neues besser lernen und sich länger daran erinnern. Das NR2B-Protein kommt auch im menschlichen Gehirn vor: Seine Häufigkeit nimmt mit dem Alter ab, was die wachsende Vergeßlichkeit älterer Menschen mitverursachen könnte. Dies eröffnet neue Chancen für die Medizin, obwohl NR2B wahrscheinlich wiederum das Risiko eines Schlaganfalls erhöht. Eine andere gentechnische Leistungssteigerung wurde durch einen Eingriff erzielt, der die Funktion des Signalproteins Calcineurin blockiert, eine Phosphatase, die bei der Langzeitpotenzierung eine Rolle spielt. Die Folge: Mäuse mit dem Inhibitor-Gen zeigten ein gesteigertes Gedächtnisvermögen, sie konnten sich z.B. Wege aus einem Labyrinth (Morris-Wasserlabyrinth) drei Tage länger merken als Tiere der Kontrollgruppe und schnitten auch in nichträumlichen Gedächtnistests besser ab. Umgekehrt haben Mäuse mit einem gentechnisch erhöhten Calcineurin-Spiegel Lernschwierigkeiten. Dies eröffnet Chancen auch bei der Behandlung von Demenzen, während es das Gedächtnis Gesunder wahrscheinlich nicht verbessern dürfte.
Schon im Mittelalter galt: "Individuum est ineffabile" – der einzelne Mensch ist "unaussagbar", d.h. niemand, nicht einmal er selbst, kann ihn vollständig erfassen. Er bleibt sich selbst und anderen letztlich immer ein Stück rätselhaft und überraschend, auch wenn viele allzu oft den gegenteiligen Eindruck machen. Diese Unaussagbarkeit wird sich durch die ausgefeilten Methoden der Gen- und Neurotechniken zwar weiter verringern, aber nicht völlig eliminieren lassen. Die Feinstruktur des Gehirns ist nicht genetisch oder embryonal festgelegt, sondern wird erst während der Kindheit und Jugend ausgebildet und lebenslang modifiziert. Selbst mit einer genauen Kenntnis des menschlichen Genoms und seiner Proteinprodukte wird es deshalb nicht möglich sein, die charakterlichen und kognitiven Fähigkeiten von Embryonen zuverlässig zu erkennen. "Den gläsernen, durchschaubaren Menschen wird es nicht geben, weil die Verschränkung von Erbanlagen, Entwicklungsbedingungen, Lernerfahrung, äußeren Einflüssen und schöpferischer Spontaneität jeden Menschen nicht nur einzigartig macht, sondern zugleich auch selbstbestimmt eigenartig und eigensinnig, so daß es niemals gelingen wird, ihn ganz auf den Begriff und dadurch auch in den Griff zu bekommen", schrieb Hubert Markl. Selbst das "Gedankenlesen" wird technisch nur eingeschränkt funktionieren. Mit den modernen bildgebenden Verfahren läßt sich schon jetzt grob erkennen, mit was ein bestimmtes Individuum bzw. Gehirn gerade beschäftigt ist. Man kann sogar ziemlich präzise die einzelnen kognitiven Komponenten lokalisieren, z.B. beim Schachspielen ( siehe Zusatzinfo 1 ). Mit geeigneten Verfahren lassen sich auch Gedanken bereits technisch erschließen. Diese Methoden eröffnen völlig neue und ethisch problematische Möglichkeiten, z.B. bei der Wahrheitsfindung vor Gericht (Lügendetektor). Andererseits knüpfen sich daran auch Chancen z.B. für Schwerstbehinderte, die fast völlig gelähmt sind.

Neurotechnik und Neuroprothesen

Blind und gelähmt, das muß künftig kein lebenslanges Schicksal mehr sein: Computer können schon heute Gedanken in Taten umsetzen, Chips auf der Netzhaut senden Bildsignale ins Gehirn, und mit Neuroprothesen lassen sich bewegungslose Gliedmaßen wieder nützen. Seit Luigi Galvani 1786 Nerven von Froschschenkelmuskeln mit zwei verschiedenen Metallen verband und durch den so erzeugten elektrischen Strom zur Kontraktion brachte, hat die Neurotechnologie, insbesondere in den letzten Jahren, gewaltige Fortschritte gemacht ( siehe Zusatzinfo 2 ). Elektrodensysteme zur Stimulation z.B. des Zwerchfellnervs (Nervus phrenicus) bei Schädigungen des Atemzentrums im unteren Hirnstammbereich sowie des Vagus bei Magenschleimhautentzündungen infolge einer verminderten Magensaftsekretion haben sich wie das am längsten, nämlich bereits seit den 1950er Jahren benutzte mikroelektronische Implantat, der Herzschrittmacher, bewährt. Was mit automatischen Prozessen in peripheren Nerven begann, hat inzwischen das Zentralnervensystem und bewußte Prozesse erreicht. Taube hören, Blinde sehen, Lahme gehen – diese biblischen Verheißungen werden womöglich bald ihre neurotechnische Erfüllung erfahren. Es sind diese Schnittstellen zur Sensorik und Motorik, die durch Geräte unterstützt bzw. überbrückt werden können, ohne daß allzu viel von der komplexen Informationsverarbeitung im Gehirn entschlüsselt sein muß. Mittels Feedback sorgt der Proband gleichsam für sich selbst, rückgekoppelte Lernvorgänge sind für die Bedienung der Steuerungen unerläßlich. Für Menschen mit einem Locked-in-Syndrom, die z.B. aufgrund der amyotrophen Lateralsklerose oder eines Hirnstamminfarkts vollständig gelähmt sind und allenfalls noch willentlich mit den Augen zwinkern können, ist eine elektrische Verstärkung ihrer Gedanken die einzige Chance, hin und wieder das Gefängnis ihres Körpers zu verlassen, der beatmet und künstlich ernährt werden muß. Dies erfolgt über eine willentliche Änderung der langsamen Hirnpotentiale, die mit an den Kopf aufgesetzten Elektroden registriert und in einem Computer verstärkt und sichtbar gemacht werden sowie gemäß einer vorprogrammierten Einstellung in bestimmte Aktionen überführt werden (E thought translation device). Durch Anspannung kann eine Person damit z.B. einen Punkt über einen Bildschirm bewegen und damit Wörter oder Buchstaben auswählen, so daß sie Mitteilungen schreiben kann – gedacht, getan. Auch ein hirngesteuertes Surfen im Internet ist möglich. Je nach Computerprogramm lassen sich auch Schalter betätigen, um z.B. das Licht abzustellen, ein anderes Fernsehprogramm zu wählen oder den Rollstuhl zu bewegen. Spezifischere Steuerungen sind denkbar, wenn den Patienten z.B. Glaselektroden ins Gehirn eingepflanzt würden. Dann könnten bestimmte Hirnareale gezielt abgeleitet werden, während die Methode über die langsamen Hirnpotentiale auf weiträumigen corticalen Aktivitäten beruht. Ratten bedienten auf diese Weise bereits robotische Wasserspender, und Affen konnten mit der Kraft ihrer Gedanken und mit Hilfe von Roboterhänden nach Früchten greifen. Bei Menschen hat Ähnliches ebenfalls schon funktioniert. Auch andere Formen der Mensch-Maschinen-Kopplung sind vielversprechend. Inzwischen können Stimulatoren gewisse gewünschte motorische Effekte erzeugen. Der Zwerchfellschrittmacher etwa stimuliert mit Hilfe von Elektroden die Zwerchfellnerven, damit Querschnittsgelähmte, deren Rückenmark bereits auf Nacken- oder Brusthöhe durchtrennt ist, von mechanischen Atemgeräten unabhängig werden. Mit dem Harntraktstimulator kann der Gelähmte seine Blase auf Knopfdruck entleeren, mit dem neuen autoadaptiven Blasenstimulator auch die Darmentleerung oder sogar eine Erektion initiieren ( siehe Zusatzinfo 3 ). Mit dem Gehstimulator können Gelähmte, die sich mit den Armen abzustützen vermögen, einige Schritte tun, die Muskeln trainieren, die Durchblutung fördern und Gelenkversteifungen vermeiden. Per Knopfdruck steuern Elektroden auf Beinen und Gesäß nach einem festen Programm Aufstehen, Gehen und Hinsetzen; den Rollstuhl macht dies freilich noch nicht überflüssig. So leicht lassen sich eben die 100000 Nervenstränge, die allein in der Wirbelsäule am Gehen beteiligt sind, nicht ersetzen, auch nicht durch Systeme mit inzwischen immerhin 400 Elektroden. Doch gewisse Funktionen können schon heute überbrückt werden, d.h. von der Hirnrinde ohne Beteiligung des Rückenmarks direkt mit Hilfe von Neurotechnologie umgesetzt werden: Z.B. macht das Freehandsystem Greifen bereits möglich; hier stimulieren in den Unterarm implantierte Elektroden die gelähmte Handmuskulatur. Auch künstliche Gliedmaßen, die mit Nervensträngen verschaltet sind, werden sich künftig vom Gehirn relativ präzise steuern lassen. Einen großen Fortschritt werden "intelligente" rückgekoppelte Neuroprothesen bieten: Sie vergleichen eine tatsächliche Bewegung mit einer gewünschten und regulieren sich demgemäß. Erfolgversprechende Experimente zeigen, wie das funktioniert: Nerven im Unterarm gelähmter Patienten werden mit implantierten Elektroden gereizt. Die Stimulationen berechnet ein künstliches neuronales Netz aus dem Wunsch des Patienten, den es aus der Schulterbewegung (für Öffnen oder Schließen der Hand) und Informationen aus einem Datenhandschuh (für die Position) erschließt. Der Computer lernt dabei aus den Greifversuchen, so daß nicht der Patient sich der Neuroprothese anpassen muß, sondern umgekehrt diese sich ihm anpaßt. Sensoren am Datenhandschuh messen Druck und Temperatur und leiten sie über Vibrationen an sensible Hautpartien weiter. Je mehr Elektroden implantiert und je genauer sie angesteuert werden, umso feiner wird die manuelle Geschicklichkeit – das Bewußtsein wird gewissermaßen handgreiflich. Mit druckempfindlichen Prothesenfüßen können Beinamputierte sogar wieder Gas- und Bremspedal im Auto betätigen. Experimente zeigten, daß Nervenzellen durch winzige Metallgitter wachsen können, die die elektrischen Impulse der Neuronen aufnehmen und per Draht weiterleiten können. Auf diese Weise wird es vielleicht bald möglich sein, Bein- oder Handprothesen direkt vom Gehirn aus zu steuern.
Hirnschrittmacher, d.h. implantierte Elektroden, sind bereits bei der Behandlung von Psychosen und Angststörungen eingesetzt worden (Stimulation der Amygdala). Auch Dystonie und die Parkinson-Krankheit lassen sich mitunter durch Hirnstimulationen lindern: Zwei Elektroden im Pallidum blockieren mit Frequenzen von 130 bis 185 Hz permanent die krankhafte elektrische Überaktivität von Neuronen. Bei manchen Patienten nehmen die unkontrollierten Bewegungen daraufhin ab, und im Falle eines Mißerfolgs können die Elektroden wieder aus dem Gehirn entfernt oder anders positioniert werden – ein Fortschritt gegenüber der früheren irreversiblen Zerstörung bestimmter Hirnareale durch Verschmoren.
An der anderen Seite der neurotechnischen Forschungsfront, der sensorischen Schnittstelle, gibt es ebenfalls Erfolgsmeldungen. Am weitesten fortgeschritten sind Cochlea-Implantate, die schon von über 20000 Gehörlosen getragen werden. Bei diesen Hörprothesen stimulieren implantierte Metallelektroden (bis zu 22) bis zu 18000 Mal pro s die Nervenzellen im Innenohr oder, bei zerstörtem Cochlearis, die neuronalen Relaisstationen im Hirnstamm. Die mit einem Mikrophon empfangenen Signale werden in Stromimpulse umgewandelt, die jedoch nicht den natürlichen Reizen entsprechen. Anfangs hören die Patienten daher nur Rauschen und Knacken, doch nach einigen Monaten, wenn sich das Gehirn an die Stimuli gewöhnt hat, können sie Worte verstehen und sogar telefonieren. Dies funktioniert aber nur bei Personen gut, die nicht von Geburt an taub waren. Doch wenn die Implantate bereits kurz nach der Geburt Gehörloser eingebaut werden, kann sich die noch sehr plastische akustische Hirnrinde ebenfalls anpassen. Viel größere Herausforderungen stellt die künstliche Netzhaut (Retina-Implantat), denn im Gegensatz zu den ca. 30000 Fasern im Hörnerv besteht der optische Nerv aus etwa einer Million. Um Lichtimpulse aufzunehmen und als bedeutungstragende Signale ins Gehirn zu leiten, müssen einzelne Nervenzellen oder –gruppen gezielt aktiviert werden. Wenn defekte Photorezeptoren in der Netzhaut die Ursache der Blindheit sind (von der Netzhautdegeneration Retinopathia pigmentosa sind allein in Deutschland 30000 Menschen betroffen), könnten winzige Photodioden auf einem implantierten Retinachip das Licht in elektrische Impulse umwandeln und diese mit Mikroelektroden in die tiefergelegenen Schichten der Netzhaut oder den Opticus leiten. Eine andere Methode beruht darauf, daß ein digitaler Photochip außerhalb des Auges die visuelle Szene aufzeichnet und in einem Computer verrechnet. Dessen Signale werden dann an eine ins Auge implantierte Mikrokontaktfolie gesendet. Winzige Elektroden reizen die weiterleitenden Nervenzellen. Sogar eine direkte Stimulation des visuellen Cortex ist möglich. Versuche haben gezeigt, daß solche Signale, die eine Dobelle-Brille (Kamera und Ultraschallsensor am Brillengestell) aufnimmt, ein Kleincomputer aufbereitet und via Kabel in den Hinterkopf einspeist, im visuellen Cortex verarbeitet werden können. Nach einigem Training führt dies dazu, daß die Patienten eine rudimentäre Sehfähigkeit entwickeln, z.B. schemenhafte Umrisse und Helligkeitsunterschiede wahrnehmen. Dies ist für von Geburt an Blinde ebenso wie für Menschen, die z.B. aufgrund einer Netzhautdegeneration zunehmend weniger sehen, bereits eine gewaltige Verbesserung. Ein weiterer Schritt würde darin bestehen, Menschen mit ganz neuen Sinnen auszustatten, um die biologischen Grenzen zu überwinden: mit Ultraschall-Ortungsgeräten oder Sensoren für Infrarot-, Ultraviolett- oder Röntgenstrahlung oder für Radioaktivität. Nicht einmal funkgesteuerte Telepathie von Gehirn zu Gehirn erscheint manchen Ingenieuren zu utopisch.

Von Cyborgs und Gehirnen im Tank

Noch futuristischer mutet eine Verschmelzung der "Wetware" des Gehirns mit der Hard- und Software des Computers an. Nervenzellen (von Blutegeln, Schnecken und inzwischen auch Ratten) können bereits auf Siliciumchips (Biochips) wachsen und deren Aktivität lesen, wie auch umgekehrt die Chips auf neuronale Impulse zu reagieren und die Nervenzelle zu reizen vermögen. Es ist sogar möglich, daß sich das Neuron über den Chip selbst stimuliert oder ein zweites aktiviert. Von einzelnen Zellen zu größeren Gruppen und ganzen Zellverbänden ist es freilich noch ein weiter Weg, doch erste gezielte neuronale Verknüpfungen auf Chips sind bereits gelungen. Sogar ein Neuronenrechner wurde schon hergestellt, der 3 + 5 addieren kann; er besteht aus fünf Blutegel-Neuronen mit Siliciumchips und einem zugeschalteten Computer. Ein weitergehender Versuch besteht aus einigen Dutzend Ratten-Hirnzellen, die auf 26 Halbleiterbahnen wachsen und einander rechtwinklig kreuzen. An 169 Kreuzungspunkten können hier elektrische Impulse aufgezeichnet werden, und Computer verfolgen, wie sich Signale durch den Zellverband ausbreiten und verändern. Außerdem werden Nervenzellen nun auch gentechnisch manipuliert, damit sie mehr Ionenkanäle ausbilden, was die Kommunikation mit der Elektronik verbessert. Neurochips versprechen zahlreiche Anwendungen. Z.B. lassen sich damit die Auswirkungen potentiell giftiger Substanzen oder künftiger Medikamente ohne Tierversuche prüfen. So wurde für einen solchen Neurotoxizitätstest ein Neurosensor entwickelt, der aus einem Glasplättchen mit 64 Leiterbahnen aus Indium-Zinnoxid besteht, worauf in einem Nährmedium embryonale Nervenzellen von Mäusen wachsen. Innerhalb von drei Wochen entwickelte sich daraus ein System mehrerer hundert Neurone und Gliazellen, das elektrische Impulse erzeugte, die von den Elektroden aufgefangen und an einem Computer zur Analyse weitergeleitet wurden. Bei der Zugabe neurotoxischer Stoffe wie Trimethylzinn änderte sich die räumliche und zeitliche Dynamik des Nervennetzes. Daraus läßt sich z.B. schließen, ob die Weiterleitung der Aktionspotentiale oder die synaptische Übertragung gestört ist. Außerdem können die Neurone mikroskopisch auf strukturelle Veränderungen hin untersucht werden. Der Neurosensor liefert somit wesentlich mehr Informationen über die Auswirkungen von Medikamenten als die Beobachtung von Mäusen, die nach der Injektion der nervenschädigenden Stoffe z.B. heftig zu zittern beginnen. Weitere praktische Anwendungen neurotechnischer Kopplungen bestehen z.B. in der Detektion von Substanzen. So wurde bereits versucht, Explosivstoffe mit Hilfe der abgetrennten Antennen von Motten aufzuspüren. Diese Geruchsorgane wurden mit elektronischen Geräten verbunden, die Variationen der Nervenimpulse registrieren können. Doch bislang sind die Chips noch nicht empfindlich genug, um die verschiedenen sensorischen Signale zu deuten. Noch utopischer mutet eine Hybridisierung von Mensch und Neurochips an. Doch erste Versuche mit unter die Haut implantierten Chips, die sensorische und motorische Nervenimpulse registrieren und zu Computern funken können, sind bereits angelaufen. Damit soll es möglich werden, daß Computer den Aufenthaltsort des Chip-Trägers oder dessen Zugangsberechtigung zu bestimmten Orten registrieren, aber auch Informationen über seine Physiologie und Psychologie. Der Computer kann die Nervenimpulse via Radiowellen auch zu Chips senden, die in einem anderen Menschen implantiert sind und dort eine physiologische Reaktion auslösen – eine ganz neue Verbindungsmöglichkeit z.B. für Verliebte oder enge Teams. – Bei Hummern gelang es bereits, Neurone durch künstliche Nerven zu ersetzen: Die Schaltkreise der Krebstiere sind gut erforscht und leicht zugänglich, z.B. eine Neuronengruppe aus 14 Zellen, die den Transport der Nahrung vom Magen in den Darm steuert. Wurden einige dieser Zellen durch elektronische Komponenten ersetzt, lebten und fraßen die Hummer scheinbar unbekümmert weiter. Auch der umgekehrte Ansatz verbuchte kürzlich die ersten Erfolge: Ein Roboter wird von lebenden Gehirnzellen eines Tieres gesteuert. Dazu wurde der Larve eines Meeresneunauges (Petromyzon marinus) das Stammhirn sowie Teile des Rückenmarks entnommen und in eine Nährlösung gebracht. Bestimmte Neurone, die bei Neunaugen besonders groß sind, wurden dann mit optischen Sensoren verbunden. Andere wurden mit der elektronischen Steuerung des Roboters verschaltet, so daß die Nervensignale die Bewegungen des Roboters kontrollieren konnten. Die künstlichen Augen des Roboterfischs stimulierten das Nervensystem in der Nährlösung, das die "Sinneseindrücke" verarbeitete und daraufhin über motorische Nervenzellen Befehle an die Mechanik des Roboters gab. Das Hybridwesen zeigte verschiedene Verhaltensweisen: Es folgte bisweilen dem Licht, wendete sich ab oder fuhr im Kreis um eine Lichtquelle. Da sich das Nervengewebe nur wenige Tage lang am Leben halten ließ, konnte nicht geklärt werden, ob es zu Lernprozessen fähig war. In einem anderen Experiment wurden einem Roboter Froschmuskeln eingebaut, die dieser reizen und sich damit fortbewegen konnte (die Energie bezogen sie aus einer Zuckerlösung). Diese – für manche Menschen grausig erscheinenden – Experimente sind erst der Anfang und doch auch nur die konsequente Fortführung einer Symbiose von Biologie und Technik. Denn daß Herzschrittmacher den Nervenknoten am Herzmuskel ersetzen, und zwar schon seit den 1950er Jahren, ist inzwischen so selbstverständlich wie es die Neuroprothesen bald werden dürften. Die Verschmelzung von Mensch und Maschine hat längst begonnen, obwohl sie noch immer für Alpträume und Machtphantasien sorgt. Möglicherweise werden in ein paar Jahrzehnten Cyborgs, biotechnische Chimären, neben uns Menschen die Erde bevölkern und z.B. als moderne Sklaven in Haushalt, Büros und Fabriken arbeiten. Vielleicht wird die Nanotechnologie den Bau winziger Maschinen ermöglichen, die im Gehirn Zellreparaturen und Gewebeoptimierungen bewerkstelligen können oder unser Innerstes abtasten und ausloten. Prothesen-Anzüge mit Mikromotoren und eingebauten Muskeln könnten Behinderten neue Mobilität verleihen, aber es z.B. auch Soldaten erlauben, schneller zu laufen, höher zu springen und schwerere Waffen zu tragen. Vielleicht lassen sich sogar menschliche Gehirne einmal in Roboter transplantieren. Das würde nicht nur die Lebenserwartung weiter erhöhen – erkrankte Körper könnten einfach gewechselt werden –, sondern Menschen bzw. menschlichen Gehirnen auch ganz neue Fähigkeiten ermöglichen, denn solche Robotkörper könnten viel mehr Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer, Geschicklichkeit usw. haben, könnten ganz anderen Umweltbedingungen trotzen, könnten fliegen, tauchen und im Weltraum viel einfacher als Astronauten agieren. Bis es soweit ist, könnten Gehirne transplantiert oder zumindest Köpfe auf Ersatzkörper gepflanzt werden. Diese Gehirn- bzw. Kopftransplantation sollte allerdings (aus menschlicher Sicht) besser als Ganzkörpertransplantation bezeichnet werden. Sie ist im Prinzip heute schon möglich (Affenköpfe wurden bereits auf andere Körper übertragen), und an der makaberen Züchtung kopfloser Wesen als Ersatzkörper wird ebenfalls schon gearbeitet. Solange das Rückenmark nicht überbrückt werden kann, ist zwar eine Totallähmung die Folge, d.h., der neue Körper wäre nicht mehr als eine Art Versorgungsstation, doch manche würden dies, insbesondere bei zunehmend besseren Kommunikationsmöglichkeiten z.B. über Hirnströme, dem Tod vorziehen. Vielleicht wird es sogar eines Tages gelingen, ganze Köpfe einzufrieren und später wieder aufzutauen, wenn die medizinischen Techniken so weit fortgeschritten sind, daß die solchermaßen zum Leben wiedererweckten Menschen eine neue Chance bekommen können. Das ist zwar gegenwärtig reine Zukunftsmusik, hält obskure Cryofirmen jedoch nicht davon ab, schon heute die Köpfe von Leichen oder auch ganze Körper für hohe Summen im Gefrierfach aufzubewahren. Noch radikaler ist das beliebte Gedankenexperiment des "Gehirns im Tank" (E brain in the vat). Würde so ein Hirn, hinreichend ernährt und mit Sensorik und Motorik verkabelt und solchermaßen z.B. mit einem anderen Körper oder virtuellen Realitäten verbunden, überhaupt merken, daß es ein Gehirn im Tank ist, bzw. würde dies einen Unterschied ausmachen?
Ob es, wie Philosophen und Science-fiction-Autoren sich ausgemalt haben, möglich ist, sukzessive das menschliche Gehirn durch Elektronik zu ersetzen, ist ebenfalls ungewiß. Eine Art Hirnersatzteil zur Kompensation von Schäden durch Schlaganfall oder Alzheimer-Erkrankung wäre triumphal. Jedoch ist noch völlig unklar, wie die darin gespeicherten Informationen ins Nervengewebe eingespeist, von diesem verarbeitet und modifiziert werden können. Wäre diese kontextuelle Integration möglich, könnten im Prinzip auch Gesunden Chips zur Erweiterung von Gedächtnis und Kognition eingepflanzt werden, z.B. der Wortschatz fremder Sprachen. Zwar ist eine Aufbesserung des Gedächtnisses durch reines, zunächst unverknüpftes Faktenwissen nur von begrenztem Wert, aber es könnte viel Zeit sparen und wäre eine Grundlage für zahlreiche "höhere" mentale Funktionen. Wenn ein weiteres "kognitives Wettrüsten" in Gang kommt, das schon in den letzten Millionen Jahren für eine drastische Volumenvergrößerung der Hirnrinde gesorgt haben dürfte (vielleicht aufgrund eines komplexeren Soziallebens; Willensfreiheit), wird sich eine technische Nachhilfe für unseren steinzeitlichen Cortex wohl kaum vermeiden lassen; schon jetzt ist die Welt eigentlich zu komplex für ihn. Langfristig ist sogar eine komplette Ersetzung des Kohlenstoff-Systems durch Silicium denkbar. Dann wäre Bewußtsein nicht mehr ortsgebunden, sondern könnte gleichsam auf Datenträgern gespeichert, aber auch dupliziert werden: Der menschliche Geist, solchermaßen auf einem im Prinzip austauschbaren Gefüge funktionaler Relationen basierend, könnte den Tod von Körper und Gehirn überleben und wäre gewissermaßen unsterblich; vielleicht werden die Software-Bewußtseine eines Tages eine schattenhafte Existenz in globalen Computernetzwerken führen, wie es Greg Egan in seinem Roman Cyber City beschrieben hat. Inwieweit solche Visionen, z.B. von Hans Moravec und Ray Kurzweil propagiert, mehr als nur denkmöglich sind, ist umstritten. Das gilt auch für die Vision von Gedankenübertragung via Implantate und Funksender und von virtuellen Realitäten, in die sich Menschen über Cortex-Computer-Kopplungen direkt einloggen und verlieren können, ähnlich wie von den Science-fiction-Autoren Daniel Francis Galouye und William Gibson in ihren Romanen Simulacron-3 bzw. Neuromancer beschrieben. Es entstünde ein Internet der menschlichen Bewußtseine und ein Superhirn aus weltweit zusammengeschalteten Köpfen. Die individuelle Person würde alsbald aufhören zu existieren und Teil einer kollektiven Intelligenz werden.

Ein neues Menschenbild

Es bedarf keiner blühenden Phantasie um abzuschätzen, daß die Hirnforschung das Bild vom Menschen mindestens so tiefgreifend umwälzen wird wie die Kosmologie, Evolutionstheorie oder Psychoanalyse, von der Entschlüsselung des Genoms ganz zu schweigen. Und manches moralische Dilemma wird beispiellos sein. Wird man Menschen, die Diebstähle und andere Verbrechen begehen, noch schuldig sprechen und bestrafen können, wenn sich herausstellt, daß sie z.B. eine Schädigung im Stirnhirn (orbitofrontaler Cortex; das Frontallappensyndrom geht mit sozialer Verantwortungslosigkeit einher) und in der Amygdala (was das Mitleidsempfinden und Schuldbewußtsein beeinträchtigt) haben? Handelt es sich nicht vielmehr um Kranke? Andererseits: Werden solche Menschen, weil man keine Hoffnung auf Besserung mehr hat, womöglich gerade deshalb lebenslang weggesperrt? Und wie groß wird die Versuchung sein, potentielle Kriminelle und Sexualverbrecher allein aufgrund einer Hirndiagnose hinter Gitter zu schicken – bevor sie straffällig werden? Angeblich verüben nur 6% der männlichen Bevölkerung 70% aller Kapitalverbrechen – warum die Risikokandidaten also nicht gleich präventiv wegsperren oder einer Zwangsoperation unterziehen? Auch die Psychochirurgie könnte in verfeinerter Form wieder auferstehen. Die Leukotomie, die ihre Opfer häufig so apathisch wie Jack Nicholson im Film Einer flog über das Kuckucksnest läßt, mag in zivilisierten Gesellschaften der Vergangenheit angehören. Aber raffiniertere Methoden könnten sich mit zunehmendem Wissen wieder anbieten. Und wie werden Ärzte mit Leuten umgehen, die sich durch eine Operation andere Charaktereigenschaften erhoffen (kosmetische Hirnchirurgie)? – Diese Beispiele zeigen schon, daß der Erkenntnisfortschritt in der Neurowissenschaft unweigerlich mit ethischen Problemen einhergehen wird. Denn viele Erkenntnisse sind ambivalent in ihren Wirkungen. Andererseits: Wäre es akzeptabel, aufgrund der Mißbrauchsgefahr potentielle Chancen von vornherein zu ignorieren? Psychopharmaka können zur massiven Manipulation eingesetzt werden und sogar abhängig machen ( siehe Zusatzinfo 4 ), aber sie haben auch schon viel Leid gelindert. Und die Psychochirurgie, durch die Individuen buchstäblich zerschnitten wurden, hat nicht nur Schattenseiten. In Extremfällen lassen sich damit auch chronische Schmerzen lindern oder Panikstörungen behandeln.
Das sind aber nur relativ naheliegende Aspekte der neurowissenschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten; dabei bleibt es nicht notwendigerweise:
- Wie wird das künftige neurowissenschaftliche Wissen das Alltagsverständnis von Menschen prägen? Wird "Glück" zu einer bestimmten Mischung aus Endorphinen (Rausch), Dopamin (Belohnungen), Oxytocin (Liebe) und Serotonin (inneres Gleichgewicht)?
- Was wird aus der menschlichen Individualität, wenn das Zentralnervensystem – bislang gleichsam der privateste oder intimste Teil einer Person – durch Neuroprothesen usw. zur Außenwelt geöffnet wird? Wenn technische Surrogate und Systeme immer mehr in die Bewußtseinsvorgänge eingreifen (im Gegensatz z.B. zum Herzschrittmacher)?
- Wie wird der neurowissenschaftliche Fortschritt Erziehung, Lernen und das Zusammenleben fördern und verbessern? Kann er das überhaupt? Jedenfalls hat er nicht nur bedrohliche Seiten, sondern dürfte auch zunehmend nützliche, alltagspraktische Relevanz bekommen, und zwar nicht nur in medizinischer Hinsicht.
– Wird es Cerebralhelme geben, wie Arthur C. Clarke in seinem Roman 3001 schildert, über die in kürzester Zeit ein riesiger Wissensfundus aufgenommen werden kann? Welchen Stellenwert kann ein solches, wie durch einen "Nürnberger Trichter" eingeimpftes Wissen haben? Werden unsere fernen Nachkommen mental in virtuelle Realitäten auswandern und ihre Körper von Maschinen versorgen lassen? Oder werden sie mit Computer, Sensoren und Mikromotoren zu Übermenschen heranwachsen? Wozu sollte dies dann gut sein?
– Wie wird sich das Selbstverständnis des Menschen ändern, wenn immer mehr organische Materie durch Technik ersetzt und ergänzt wird? Und wenn Computer und Roboter zunehmend intelligenter werden (künstliche Intelligenz, künstliches Leben) und allmählich Sprachfähigkeit und womöglich sogar Bewußtsein entwickeln? Worin besteht die Würde und Freiheit einer Person angesichts immer raffinierterer genetischer und neuronaler Eingriffe und Modifikationsmöglichkeiten? Wird es zu einer neuen Kränkung des Menschen kommen, gegen die die Erkenntnisse von Nikolaus Kopernikus, Charles Darwin und Sigmund Freud harmlos waren? Und wie wird sich daraufhin die Einstellung der Menschen zu der Neurowissenschaft ändern ( siehe Zusatzinfo 5 )? Wird sie sogar, wie die Evolutionstheorie von den Kreationisten, hart bekämpft werden?
– Muß es, wie Thomas Metzinger es gefordert hat, neue Disziplinen im Gefolge der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse, der Bewußtseinstechnik und den philosophischen Implikationen geben: Anthropologiefolgenabschätzung, Bewußtseinsethik und Bewußtseinskultur? Werden wir neu bedenken müssen, was es heißt, ein Mensch zu sein, was es heißt, ein gutes Leben zu führen, und wie wir mit anderen Organismen umgehen dürfen? Und welche ethischen Regeln sollten für die Neurowissenschaft aufgestellt werden ( siehe Zusatzinfo 6 )?
– Was wird aus der personalen Identität eines Menschen, wenn das Gehirn Stück für Stück ergänzt, erneuert oder ersetzt werden kann (Persönlichkeit und Personalität)? Was wird aus der Zuschreibung von Verantwortlichkeit, was aus moralischer Schuld? Könnte ein Neuronenimplantat eines Verbrechens beschuldigt werden, das derjenige begeht, dem die Zellen implantiert wurden? Und darf die Persönlichkeit eines Menschen durch Eingriffe in sein Gehirn verändert werden, um z.B. die Wahrscheinlichkeit von Verbrechen zu vermindern?
- Was wird aus den Geisteswissenschaften, wenn Kognitionspsychologie und Neurophysiologie das menschliche Bewußtsein immer genauer zu erklären vermögen und womöglich zu den eigentlichen Wissenschaften des Geistes avancieren?
- Werden wir überhaupt in der Lage sein, so schnell zu leben, wie es uns die immer rasantere Beschleunigung des technischen Fortschritts diktiert?
- "Was denkt ein Mensch mit 800 Jahren?", ist mit Detlef Linke zu fragen – vorausgesetzt, der Prozeß der senilen Demenz läßt sich verhindern, der im Augenblick bis 135 praktisch unvermeidbar sein dürfte, auch wenn alle anderen Körperfunktionen durchhalten würden. Wie wird sich die Gesellschaft verändern, wenn rüstige 500jährige das Sagen haben? Gelten 20jährige dann noch als unmündige Kleinkinder?
– Welchen Stellenwert wird der Tod erhalten? Schon heute könnten Komapatienten mit Reizstrom in den Hirnstamm oder ins Halsmark aufgeweckt und für eine Weile wach gehalten werden. Wird der Tod sich noch weiter hinauszögern lassen, werden Menschen womöglich über Jahrhunderte in einem Dämmerzustand gehalten und sporadisch reaktiviert werden, wie es Philip K. Dick in seinem Roman UBIK ausmalte? Kann man sich mit (Schein-)Toten verständigen?
- Wird es eines Tages möglich sein, allein durch Gedanken zu kommunizieren, Autos zu lenken oder Flugzeuge zu navigieren? Wird es möglich sein, umgekehrt mit technischer Hilfe direkt auf das Gehirn einzuwirken, sich über elektronische Verbindungen in andere Bewußtseine einzuloggen, Illusionen einzuspeisen, Gefühle auf Knopfdruck zu manipulieren, Werbebotschaften in die "Lustzentren" zu projizieren, Gedanken zu kontrollieren und Verhaltensweisen zu lenken? Das sind Vorstellungen, gegen die der Totalitarismus in George Orwells Roman 1984 beinahe vorsintflutlich anmutet. Doch vielleicht ist die Dystopie einer Selbstunterjochung, wie sie Aldous Huxley in Schöne neue Welt skizziert hat, realistischer ( siehe Zusatzinfo 4 ). Und: "Jeder, der einflußreich genug ist, ein ganzes Volk dazu zu bringen, daß es sich Elektroden in den Kopf setzen läßt, würde sein Ziel schon erreicht haben, ohne auch nur ein einziges Volt abzufeuern" (Seymour Kety).

Informationsflut und ungelöste Fragen

Die Menge der Daten, Doktorarbeiten, Publikationen, Forscher, Institute und auch der finanziellen Förderung hat in den Biowissenschaften in den letzten 50 Jahren extrem zugenommen. Dies gilt insbesondere auch für die Neurowissenschaft, deren Erkenntnisflut niemand mehr überblicken kann. Schon eine Übersicht über die einzelnen Forschungsfelder und die Zusammenhänge der Teilbereiche von der molekularen Neurobiologie bis zur Neuroethologie und von der Neuroinformatik bis zur Bewußtseinsforschung ist inzwischen schwierig. Zwar erleichtern große Datenbanken, eine Vernetzung des Informationstransfers und die zunehmende Online-Präsenz von Fachzeitschriften Recherche und Wissensaustausch, doch zugleich wächst die Gefahr, in der Informationsflut förmlich zu ersticken. Die Handhabung der Datenmenge wird eine der großen Herausforderungen nicht nur für die Zukunft der Neurowissenschaften sein. Auch der Stellenwert von Übersichtsartikeln und die wissenschaftsjournalistische Aufbereitung in Sachbüchern und allgemeinverständlichen Zeitschriften wird immer wichtiger. Gegen das Gefühl des Überwältigtseins mag auch eine Liste mit grundlegenden Fragekomplexen und Forschungsproblemen für die Zukunft helfen, wie sie Patricia Churchland aufgestellt hat. Um nützlich zu sein, dürfen diese Fragestellungen weder zu speziell noch zu allgemein sein. Ihre in Zusammenarbeit mit führenden Neurowissenschaftlern erstellte Liste lautet:
- Wie codieren Nervenzellen Informationen?
- Wie ist der Zusammenhang von Zeit und Gehirn, welche Rolle spielen neuronale Synchronisationen?
- Wie spezifisch ist die genetische Kontrolle der Gehirnentwicklung?
- Welche Rolle spielen neuronale Rückkopplungen (E back projections)
- Wie entstehen und wozu dienen spontane neuronale Aktivitäten?
- Wie hängen Kognition und Emotionen zusammen, wie interagieren sie, was ist ihr Status in der neuronalen Informationsverarbeitung?
- Was sind die Mechanismen des Lernens, worin unterscheiden sich die einzelnen Formen?
- Wie konsolidiert sich das Gedächtnis, warum kann man sich nur an bestimmte Sachverhalte und Erlebnisse erinnern und vergißt anderes, warum kann man wichtige, aber auch triviale Informationen abrufen?
- Wie entstehen Entscheidungen zu Bewegungen (Willkürmotorik)?
- Welche neuronalen Prozesse und Strukturen liegen Aufmerksamkeit, Bewußtsein und Subjektivität zugrunde (neuronale Korrelate des Bewußtseins)?
Künftige Antworten auf diese Fragen werden das Verständnis der neuronalen Strukturen und Prozesse gewaltig vorantreiben. Natürlich werden sich daraus wieder neue Fragen ergeben, und zehn Fragen reichen ja ohnehin nicht aus. Wenn man jedoch hinreichend viele weitere Fragen formuliert (Wie werden äußere Stimuli diskriminiert, kategorisiert und integriert? Worin besteht der Unterschied zwischen Schlafen und Wachen? Wie wird die Aufmerksamkeit fokussiert? Wie wird eine bestimmte Bewegung aus der Fülle der verschiedenen Alternativen ausgewählt und kontrolliert? Was sind die neuronalen Grundlagen der Sprache mit ihrer komplexen Syntax, die es ermöglicht, potentiell unendlich viele verschiedene Sätze zu bilden? Worauf basieren Persönlichkeit und Personalität?), dann wird man sehr schnell schon davon aufs Neue überwältigt – von übergreifenden Fragestellungen ganz abgesehen ( siehe Zusatzinfo 7 ). Und doch sind die meisten dieser Fragen einfache Probleme im Gegensatz zum schwierigen Problem des Bewußtseins. David Chalmers hat dieses von den "einfachen" Problemen abgegrenzt, weil die Subjektivität (Qualia) sich per definitionem einer rein objektiven Beschreibung und Erklärung sperrt. Manchen Philosophen zufolge ist dieses Problem prinzipiell unlösbar, für andere dagegen ein Scheinproblem, das verschwinden wird, wenn alle "einfachen" Probleme gelöst sind. Die Frage, wie aus der grauen Masse unseres Gehirns die bunte Welt unseres Bewußtseins entsteht, ragt jedoch weit über den Forschungsbereich der Neurowissenschaft hinaus und gehört, wenigstens heute noch, zu den größten Rätseln im Universum. Und weil es so eng mit unserem eigenen Selbstverständnis zusammenhängt, ist es vielleicht auch das interessanteste.

Das Ende der Neurowissenschaft

Möglicherweise wird das Gehirn eines Tages so weit erforscht sein, daß es nichts Signifikantes mehr in den Neurowissenschaften zu entdecken gibt. Diese Zukunft wäre das Ende der Neurowissenschaft – übrig bliebe nur noch Neurotechnologie im weitesten Sinn. Doch dieser Tag wird noch lange auf sich warten lassen, denn bislang wirft jede beantwortete Frage zehn neue auf. Und das Universum in unserem Kopf ist so vielgestaltig und diffizil, daß es zweifelhaft ist, ob es jemals ausgelotet werden kann. Ungewiß ist zudem, ob die Komplexität des menschlichen Gehirns überhaupt ausreicht, seine eigene Komplexität zu verstehen. Vielleicht stoßen unsere fernen Ahnen einmal an eine Grenze der Komplexität, die auch mit den ausgefeiltesten Methoden nicht mehr überschritten werden kann: ein weiterer Erkenntnisgewinn würde dann an unseren praktischen Fähigkeiten scheitern. Auch das wäre das Ende der Neurowissenschaft. Doch auch daran kann man zweifeln, denn mit unseren Kenntnissen wachsen auch unsere Fähigkeiten. Ob sich alle Fragen beantworten lassen, z.B. die nach der Entstehung von Bewußtsein, ist gegenwärtig nicht entscheidbar. Aber vielleicht lernen unsere Nachkommen, ihr kognitives Vermögen so weit zu steigern, z.B. durch gezielte Veränderungen des Gehirns, daß sie sich wie Münchhausen gleichsam selbst am Schopf aus dem Sumpf ihrer Begrenztheit ziehen und die Erkenntnisgrenzen Stück für Stück weiter hinausschieben. Ob dies noch Menschen in unserem Sinn sein werden, ist eine andere Frage. Die dritte – und wohl wahrscheinlichste – Möglichkeit eines Endes der Neurowissenschaft ist allerdings wesentlich banaler: Daß wir nämlich nicht mehr in der Lage sein werden, weiter zu forschen. Sei es aus Gründen mangelnder Infrastruktur, oder sei es, weil wir uns unserer eigenen Zukunft berauben und infolge von Kriegen, Krankheiten und Umweltzerstörung (oder aufgrund einer globalen Katastrophe, z.B. dem Einschlag eines großen Meteoriten aus dem All) in die Steinzeit zurückfallen oder ganz ausgelöscht werden. Dies zu verhindern ist auch eine Aufgabe der Wissenschaft – und sogar eine Pflicht, gerade weil sie uns überhaupt erst die technischen Mittel bereitgestellt hat, die Lebensbedingungen auf der Erde in einem biologisch unvergleichlichen Ausmaß zu verändern. Auch Neurowissenschaftler können einen kleinen Beitrag für eine bessere Zukunft leisten. "Es ist mittlerweile billig geworden, zu behaupten, die Zukunft gehöre unseren ungeborenen Kindern. Tatsache ist, daß die Zukunft uns gehört", schrieb Boris Pasternak. "Was wir heute tun, entscheidet, wie die Welt morgen aussieht."

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Zukunft der Neurowissenschaft

1 Gehirnaktivität beim Schach:
"Ich hatte das Schachbrett mit seinen Figuren nach innen projiziert... ich empfand mein Gehirn aufgefrischt und durch die ständige Denkdisziplin sogar noch gleichsam neu geschliffen", läßt Stefan Zweig den eingesperrten Protagonisten seiner Schachnovelle (1943) berichten, der nur im geistigen Duell gegen sich selbst Ablenkung zu finden vermag. "Ich konnte nur Schach denken, nur in Schachbewegungen, Schachproblemen; manchmal wachte ich mit feuchter Stirn auf und erkannte, daß ich sogar im Schlaf unbewußt weitergespielt haben mußte, und wenn ich von Menschen träumte, so geschah es ausschließlich in den Bewegungen des Läufers, des Turms, im Vor- und Zurück des Rösselsprungs." Diese in den Wahnsinn abdriftende "geistige Überreizung", in das der Dichter uns scheinbar leichthin einzuführen vermochte, und die ja sein eigenes Gehirn erschuf, wird der Hirnforschung so niemals zugänglich sein. Doch mit modernen bildgebenden Verfahren, in erster Linie der Positronenemissionstomographie (PET) und der Kernspinresonanztomographie, ist es seit einigen Jahren möglich, faszinierende Einblicke in die neuronalen Systeme zu erhalten, die für die höheren Hirnfunktionen verantwortlich sind. Mit Hilfe subtiler kognitionspsychologischer Methoden kann man somit dem Gehirn gleichsam beim Denken zusehen. Wurden früher hauptsächlich die Verarbeitung einzelner Tätigkeiten wie Lesen, Sprechen, Hören oder Erinnerung an gelernte Wörter lokalisiert, wird es zunehmend gelingen, auch dem Wechselspiel verschiedener Hirnregionen auf die Spur zu kommen, die aktiv werden, wenn Menschen komplexe geistige Aufgaben lösen, z.B. beim Schachspiel. – Um die hierarchisch organisierten Hirnfunktionen voneinander unterscheiden zu können, die komplexen mentalen Leistungen zugrundeliegen, muß man Differenzbilder der einzelnen PET-Aufnahmen erzeugen. Dabei werden die separaten Prozesse lokalisiert, indem man die Aktivitäten der unter- bzw. vorgeordneten Leistungen, auf die sie zurückgreifen müssen, von der Gesamtaktivität subtrahiert. Die rechnerisch so eliminierten Daten sind durch einfachere Aufgaben zuvor zu bestimmen. Im Fall des Schachspielens wurden die folgenden vier Tests der Reihe nach durchgeführt: Schwarz-Weiß-Unterscheidung, räumliche Unterscheidung, Regelabrufen und Mattsetzen. Dadurch ließ sich nachweisen, welche Stellen der Großhirnrinde zu welchem Zweck jeweils aktiv waren. Verschiedene, räumlich mehr oder weniger begrenzte, voneinander getrennte Regionen erfüllen dabei unterschiedliche Aufgaben, und die Lösung komplexer Probleme erfolgt aus dem geordneten Zusammenspiel einfacherer Hirnfunktionen. Zuerst mußten die Versuchspersonen nur freie von besetzten Feldern sowie die Stellung bestimmter Figuren und deren Farbe unterscheiden (alle Antworten wurden durch das Drücken einer Ja- oder Nein-Taste gegeben). Bei dieser Aufgabe waren bestimmte Windungen an der Grenze von Scheitel- und Hinterhauptslappen beider Hirnhälften und in der Mitte des linken Schläfenlappens aktiv. In der visuellen Informationsverarbeitung gibt es zwei getrennte Wege. Einer dient der Objekt-Erkennung (hier: Schachfiguren); er zieht sich vom Hinterhaupts- in den Schläfenlappen. Der andere ist für die Erkennung räumlicher Beziehungen zuständig (hier: Positionen der Figuren); er erstreckt sich vom Hinterhauptslappen nach oben in den Scheitellappen. Aktiv war auch eine Region im prämotorischen Cortex, wo die Bewegungskoordination geplant wird. Als nächstes wurde gefragt, ob eine bestimmte Figur eine bestimmte Position erreichen kann, ob z.B. der weiße Turm den schwarzen Bauern schlagen darf. Neben den bereits genannten Hirnregionen waren bei diesem Test verschiedene Stellen im linken Schläfenlappen und Hippocampus aktiv. Offenbar wurden von hier die jeweiligen Regeln abgerufen. Eine aktive Stelle zeigte sich auch im Kleinhirn. Schließlich sollten die Probanden entscheiden, ob der Spieler einer angegebenen Farbe den Gegner in einem Zug mattzusetzen vermag. Hierbei wurden zwei größere Hirnregionen aktiv. Die Verbindungen zwischen Hinterhaupts- und Scheitellappen beider Hemisphären scheinen mentale Repräsentationen der vorgestellten Zug-Sequenzen zu erzeugen und die rasche Verschiebung der Aufmerksamkeit von einer Alternative zur anderen. Die Aktivitäten im Vorderhirn dürften zum einen mit den zusätzlichen Augenbewegungen zusammenhängen, die mit diesem Durchspielen der Züge assoziiert sind. Zum anderen wird angenommen, daß im frontalen Cortex gewissermaßen das Organisations-Management des Arbeitsspeichers stattfindet, also bei der Schach-Aufgabe das Wissen für die Planung und sequentielle Ausführung der Endspielstrategien zur Anwendung kommt.

Zukunft der Neurowissenschaft

2 Neurotechnologie:
Von einer technischen Unterstützung neuronaler Prozesse, z.B. über Neuroprothesen, profitieren nicht nur Patienten und Hirnforscher, sondern auch Ingenieure (Neurotechnologie, Neuroinformatik). Denn seit der Entwicklung neuronaler Netze dient das Nervensystem als Vorbild bzw. Inspirationsquelle für neue technische Verfahren. Die Simulation der Funktionsweise neuronaler Gewebe, z.B. der Sehrinde, führt nicht nur zu einem besseren Verständnis der biologischen Prozesse, sondern zeigt auch die Grenzen technischer Zugänge. Im Gegensatz zu den physiologischen Vorgängen, z.B. bei der Mustererkennung, die effektiv, schnell und energiesparend sind, brauchen Computersimulationen viel Energie und Rechenzeit. Inzwischen wird aber versucht, auch analoge elektronische Schaltkreise zu entwickeln. In digitalen Computerchips werden Zahlen binär als 0 und 1 repräsentiert, was verschiedenen Spannungszuständen entspricht; der Informationsfluß wird mit exakten Algorithmen verarbeitet und von einer zentralen Uhr reguliert. Bei analogen Schaltkreisen repräsentieren verschiedene Spannungszustände unterschiedliche Zahlen, und die Informationen werden zwischen verschiedenen Bereichen ohne zentrale Kontrolle ausgetauscht; auch gibt es keine präzisen Algorithmen, sondern die Architektur ist so gebaut, daß die Outputs die anvisierten, nützlichen Funktionen erfüllen. Die komplexen natürlichen Nervennetze werden bei diesen neuromorphischen Techniken nicht detailgenau nachgebaut, sondern in vereinfachter Weise analog konzipiert. Dies hat sogar schon zu praktischen Anwendungen geführt, z.B. zu einer optischen Computermaus, welche die Bewegungen nicht mit Hilfe einer Kugel registriert, sondern mit einem optischen Sensor, der auf die Oberfläche unter ihr "schaut". Ein digitaler Bildabgleich wäre dafür viel zu rechenintensiv, aber ein analoger neuromorphischer Chip, der wenig Energie verbraucht und sich an den Aufbau des optischen Systems der Fliege anlehnt, verarbeitet die Bewegungen hinreichend schnell und genau.

Zukunft der Neurowissenschaft

3 Lustgefühle auf Knopfdruck:
Im wortwörtlichen Sinn stimulierende neurowissenschaftliche Erkenntnisse sind sogar patentfähig. So könnten kleine Implantate, vergleichbar mit Herzschrittmachern, die Lustspender der Zukunft werden: Orgasmen könnten auf Knopfdruck erzeugt werden. Als bei einer Behandlung gegen chronische Rückenschmerzen unter örtlicher Betäubung eine Elektrode in die Wirbelsäule einer Patientin eingepflanzt wurde, die verhindern sollte, daß die schmerzerzeugenden Impulse das Gehirn erreichen, stöhnte die Frau plötzlich laut auf – nicht vor Schmerz, sondern aus Lust. Der Arzt hatte die korrekte Stelle verfehlt, jedenfalls, was die Rückenschmerzen betraf. Nun sollen klinische Tests zeigen, inwiefern sich das Verfahren eignet, sexuelle Störungen zu behandeln – oder gleich direkt das Leben lustvoller zu gestalten. Ein Kassenschlager wäre wohl garantiert. Allerdings besteht die Gefahr, daß sich Menschen dann buchstäblich zu Tode vergnügen. Ratten, die per Tastendruck und via Elektrode bestimmte Regionen ihres eigenen Gehirns reizen konnten (intracraniale Selbststimulation insbesondere des ventromedialen Vorderhirnbündels; Motivation), taten dies bis zur völligen Erschöpfung: Sie fraßen nichts mehr, vernachlässigten Sexualpartner und Nachwuchs und betätigen bis zu 5000mal in der Stunde die Taste. Sie nahmen sogar Schmerzen (z.B. Elektroschocks) auf sich, um an die Taste zu gelangen.

Zukunft der Neurowissenschaft

4 Der Psychotrip als Freizeittip: Wann werden Gefühle mit Stimmungspillen maßgeschneidert?
"Sollte sich durch einen unglücklichen Zufall wirklich einmal etwas Unangenehmes ereignen, nun denn, dann gibt es Soma, um sich von der Wirklichkeit zu beurlauben. Immer ist Soma zur Hand, um Ärger zu besänftigen, einen mit seinen Feinden zu versöhnen, Geduld und Langmut zu verleihen. Früher konnte man das alles nur durch große Willensanstrengungen und nach jahrelanger harter Charakterbildung erreichen. Heute schluckt man zwei, drei Halbgrammtabletten, und damit gut!" Diese Schilderung stammt aus dem Roman Schöne neue Welt von Aldous Huxley. Erschienen ist er im Jahr 1932, und inzwischen sind wir – Psychopharmaka sei Dank – dieser schönen Welt schon beträchtlich näher. Rapide wachsen die Erkenntnisse, wie körpereigene Neurotransmitter in verschiedenen Hirnregionen unsere psychische Befindlichkeit prägen. Die Rede von Glückshormonen und biochemischen Stimmungsmachern mag eine schlechte Metapher sein, doch daß unsere Befindlichkeit physiologisch nicht nur ge-, sondern auch bestimmt wird, läßt sich schwerlich bezweifeln. Mit dem Erkenntnisgewinn wächst die Möglichkeit gezielter Eingriffe. Schon jetzt wachsen (insbesondere in den USA) Menschen auf, die mit Prozac ihre Niedergeschlagenheit bekämpfen, mit Ritalin ihre Aufmerksamkeit erhöhen oder mit Paxil ihre Schüchternheit zu überwinden trachten. "Heutige Psychopharmaka verdanken wir Zufallsentdeckungen. Künftig aber werden wir eine Macht über das Gehirn gewinnen, von der wir niemals zu träumen gewagt hätten", vermutet Antonio Damasio. Vielleicht werden sich die Menschen des 21. Jahrhunderts nicht mehr – je nach Geschmack – mit trällernder Schlagermusik, Kerzenlichtromantik oder Alkohol in Stimmung bringen, sondern ihren Gemütszustand aus einem Chemikalien-Cocktail individuell zusammenstellen – passend zur Krawatte, dem Wetter oder der gerade angesagten Partylaune: der Psychotrip als Freizeitgestaltung, die kosmetische Pharmakologie als neuer Absatzmarkt. Und wer nicht mitfühlt, könnte als antiquiert und vielleicht sogar gefährlich gelten und wird womöglich schon zu Lebzeiten in eine biochemische Hölle geschickt – ein paar Moleküle könnten genügen. Und später werden solche Korrekturen womöglich gar nicht mehr nötig sein, sondern gentechnisch von vornherein ausgeschlossen. Altmodische Empfindsamkeiten sind dann aus dem Erbgut des Menschen eliminiert. "Die Qualen der Ich-Jagd, diesen uralten, in den neuen Katalog genetischer Defekte aufgenommenen Trieb, hat man ihm gründlich ausgetrieben. Anvisiert ist die geschichtslose Kreatur, ein Wesen ohne Vergangenheit, nur noch mit einer Zukunft aus fremder Hand, Ichlosigkeit als Ideal einer neuen Befindlichkeit", fürchtet Linus Geisler. "Das Ganze vollzieht sich in einem interdisziplinären Alptraum, in dem Molekularbiologen, Biophysiker, Gerontologen, Lifestyle-Spezialisten, Gesundheitsökonomen und Universal-Ethiker aus ihren Welt- und Menschenbildern eine Patchwork-Kreatur namens Mensch zusammenfantasieren, eine Art hochkomplexen humanoiden Tamagotchi, zum "liebhaben" ebenso geeignet wie zur programmierten Entsorgung."

Zukunft der Neurowissenschaft

5 Hirnforschung im Prinzip ja, aber... – die Meinung der Bevölkerung:
Fast drei Viertel der bundesdeutschen Bevölkerung sind dem Fortschritt in der Hirnforschung und den wachsenden medizinischen Eingriffsmöglichkeiten gegenüber zwar eher positiv eingestellt, doch die Mehrheit hat zugleich Bedenken und Befürchtungen und fordert strenge ethische Maßstäbe, Kontrollen und Beschränkungen. Dies ergab eine 1993 vom Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegebene repräsentative Meinungsumfrage des EMNID-Instituts (Bielefeld). Gegen Gewebeverpflanzungen sprachen sich 45% der Bevölkerung aus, 15% nahmen keine Stellung. 42% halten es ethisch nicht für vertretbar, Computer eines Tages mit dem menschlichen Nervensystem zu koppeln, nur 37% (mehr Männer als Frauen) hätten nichts dagegen. Darauf aufmerksam gemacht, daß Operationen am Gehirn auch das Denken und Fühlen verändern können, sprechen sich zwei Drittel aller Befragten dagegen aus. Ein Drittel würde dies aber in Kauf nehmen, wenn dadurch Krankheiten geheilt werden könnten. 79% sind der Meinung, daß es für die Hirnforschung besonders strenge ethische Maßstäbe geben sollte. Allerdings spricht sich nur knapp die Hälfte der Befragten für gesetzliche Einschränkungen aus (in den neuen Bundesländern weniger als in den alten), 20% fordern die Eigenverantwortung der Wissenschaftler. Mehr als die Hälfte heißen eine uneingeschränkte Erforschung des Gehirns als "Sitz der Seele" auch nicht gut. Meinungsverschiebungen im Lauf der Umfragen und die relativ große Anzahl der Unentschiedenen (10 bis 20%) zeigen, daß die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ein noch relativ geringes Informationsniveau hat. Mit zunehmender Bildung jedoch wächst die Akzeptanz der Hirnforschung und möglicher Eingriffe.

Zukunft der Neurowissenschaft

6 Entwurf für eine Ethik der Neurotechnologie:
Aufgrund der rapiden Fortschritte in der Neurotechnologie haben Florian Rötzer, Thomas Metzinger, Detlef B. Linke und Hinderk Emrich schon 1995 Reflexionen über eine Ethik der Neurotechnologie angeregt, die insbesondere folgende Fragen berücksichtigen muß:
– Welche Hirnareale sehen wir als wesentlich für die Identität eines Menschen an?
– Gibt es im Gehirn Bereiche, in die wir auf keinen Fall eingreifen sollten?
– Welche psychischen Mängel, Leiden, Defizite sollen als "reparaturbedürftig" betrachtet werden?
– Wieviel Autonomie wollen wir intelligenten, mit kognitiven Eigenschaften ausgestatteten Computersystemen zugestehen?

Als zentrale Aspekte einer solchen Ethik der Neurotechnologie wurde vorgeschlagen:
– Transparenz der Forschung und Offenheit der Diskussionen
– Chancen und Risiken müssen interdisziplinär diskutiert werden
– Risiken müssen den Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit offengelegt werden
– Dialoge dürfen auch bei Konflikten und Interessensgegensätzen nicht abbrechen
– Dialoge müssen institutionalisiert werden, und zwar unter angemessener Beteiligung verschiedener gesellschaftlicher Kräfte
– größtmögliche Freiheit der Grundlagenforschung, der Rechtssicherheit gegeben werden muß.

Hinzu kommen als wesentliche Punkte außerdem:
Die Versuche und neurotechnologischen Eingriffe an Menschen
– müssen mindestens den Grundsätzen der Helsinki-Tokio-Deklaration zur biomedizinischen Forschung entsprechen
– sollten erst bei gesicherten Erkenntnissen über die Funktion der betroffenen Hirnregionen und ihr Zusammenwirken erfolgen
– sollten mit psychologischer Begleitung einhergehen
– sollten stets als ultima ratio eingesetzt werden, wobei Behandlungsmethoden mit reversiblen Wirkungen den Vorzug haben.

Zukunft der Neurowissenschaft

7 Neurophilosophie und Wissenschaftstheorie:
Der neurowissenschaftliche Fortschritt wird auch auf übergreifende Fragestellungen Einfluß nehmen, obwohl er allein sie nicht zu lösen vermag. Doch wahrscheinlich werden sich in den nächsten 100 Jahren manche Fragestellungen vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Entwicklungen neu angehen lassen oder aber an Bedeutung verlieren. Das Problem von Geist und Gehirn (Leib-Seele-Problem, Intentionalität, Selbstbewußtsein, Personalität, Willensfreiheit, Handlungstheorie) wird sich im Rahmen einer Neurophilosophie allein nicht entscheiden lassen, aber immer akuter werden. Damit zusammenhängend, aber empirisch schon besser zugänglich, ist die Frage, worin sich bewußte und unbewußte Prozesse voneinander unterscheiden. Außerdem werden symbolische und Individuum-zentrierte Forschungsansätze z.B. in der Ethologie, Kognitionspsychologie und künstlichen Intelligenz-Forschung zunehmend durch Ansätze ergänzt oder sogar z.T. ersetzt werden, die implizite Prozesse (Konnektionismus), Verkörperlichung (E embodiment; embodied cognitive science) und die Wechselwirkung mit verschiedenen Umwelten (affordance), d.h. die "Ökologie" stärker berücksichtigen. Die Tendenz dürfte zunehmend von 1) verbalen allgemeinen Konzepten über 2) mathematische Konzepte zu 3) Computermodellen und 4) autonomen Agenten (z.B. Roboter) gehen, d.h. von "weichen" zu "harten" Studien und zugleich von allgemeinen zu spezielleren Fragestellungen und Untersuchungen. Auch wissenschaftstheoretische (Wissenschaftstheorie) und begriffliche Probleme werden weiterhin von Bedeutung sein. Da sind zum einen die Zusammenhänge und Unterschiede verschiedener Beschreibungs- und Erklärungsebenen: Bei informationsverarbeitenden Systemen, wozu neben Computern eben auch Nervensysteme zählen, wird häufig zwischen Hard- und Software bzw. der implementationalen, algorithmischen und computationalen Ebene unterschieden. In der Neurowissenschaft reichen die Beschreibungsebenen von den Molekülen bis zum Verhalten und zu mentalen Vorgängen. Hier stellt sich die Frage nach der Emergenz neuer Eigenschaften und den Mechanismen der Selbstorganisation. In der Biologie hat sich die Unterscheidung von proximaten und ultimaten Beschreibungen bzw. Ursachen bewährt ("wie?"-Frage z.B. in der Physiologie versus "warum?"-Fragen in der Evolutionstheorie; Verhalten, Tab.). In psychologischen und sozialen Kontexten sind verschiedene Beschreibungsebenen einschließlich normativer Aspekte schon aus pragmatischen Gründen kaum vermeidbar. Und schließlich werden Daten immer erst in theoretischen Kontexten verständlich oder sogar erst erzeugt. Sind all diese Ansätze komplementär zueinander, inwiefern lassen sie sich reduzieren, und wie kann hier noch von der einen Welt oder Menge von Phänomenen die Rede sein?

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