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News: Frische Gene für die Kolonie

Für die meisten Menschen sind Nacktmulle auf den ersten Blick einfach nur hässliche Glatzköpfe. Aber die kleinen Nager zeichnen sich durch eine Besonderheit aus: Sie sind die einzigen bekannten Wirbeltiere, die in einer Kolonie leben und von einer Königin regiert werden - in ähnlicher Weise, wie wir es beispielsweise von Bienen, Ameisen, Wespen oder Termiten kennen. Bisher nahmen Wissenschaftler an, dass sich Nacktmull-Kolonien nur durch Inzucht fortpflanzen. Langjährige Beobachtungen eines amerikanischen Forschers im Freiland zeigen nun, dass einige Nacktmulle ihre Heimatkolonie verlassen, um nach neuen Partnern zu suchen, mit denen sie sich paaren und neue Kolonien gründen.
Tageslicht sehen die Nacktmulle in der Regel nicht. Sie sind, von einigen Tasthaaren abgesehen, völlig nackt und blind. Ihre Heimat sind die Länder Ostafrikas, wo sie in Kolonien unterirdische Höhlensysteme bewohnen, deren Gänge und Wohnkammern sie mit ihren hervorstehenden Schneidezähnen durch den oftmals steinharten Boden graben. Berühmt geworden sind die auch als "Säbelzahnwürstchen" oder "Walrossbabys" bekannten Nacktmulle jedoch durch eine ganz andere Besonderheit: Jede Kolonie wird von einer Königin regiert, die sich als einzige fortpflanzt und den Rest der Gruppe zu verschiedensten Arbeiten rekrutiert.

Bis zu 290 der kleinen Nager wurden schon in einer Kolonie gezählt. Die Königin ist die größte und zugleich aggressivste der Mulle in der Kolonie. Sie tötet unerwünschte Freier genauso wie weibliche Konkurrenten. Gewöhnlich paart sich die Königin nur mit einem Männchen, in Ausnahmefällen können es aber auch zwei oder drei sein. Die meisten Arbeiter hingegen pflanzen sich nicht fort, es sei denn, die Königin wählt sie hierfür aus. Das restriktive Fortpflanzungssystem führt zu weitgehender Inzucht, sodass ein Großteil der Tiere einer Kolonie dieselben Eltern hat. Schätzungsweise 85 Prozent der Paarungen finden denn auch zwischen Eltern und ihren Nachkommen oder zwischen Geschwistern statt. Der Verwandtschaftsgrad zwischen den sexuell aktiven Tieren beträgt deshalb etwa 80 Prozent. Im Vergleich hierzu haben Vollgeschwister von Arten, bei denen nahe Verwandte sich in der Regel nicht miteinander paaren, einen durchschnittlichen Verwandtschaftsgrad von 50 Prozent.

Bisher nahmen Wissenschaftler an, dass die heranwachsenden Nachkommen der Königin später nicht zur Partnersuche abwandern. Ihre Vermutung stützte sich auf ausgeprägte genetische Unterschiede zwischen entfernten Kolonien und fehlenden Beobachtungen von abwandernden Tieren. Beispielsweise waren Mitglieder von Kolonien aus Nord- und Südkenia, die etwa 300 Kilometer weit auseinander liegen, genetisch so verschieden, wie bei manchen anderen Nagetieren einzelne Unterarten. Die einzige Möglichkeit zur Neugründung von Kolonien, so glaubten die Forscher, bestand deshalb in der Aufspaltung der Mutter-Kolonie.

Stanton Braude, Zoologe an der Washington-University in St. Louis fand nun heraus, dass die Nacktmulle viel wanderfreudiger sind, als bisher angenommen. Seinen Untersuchungen zufolge werden die Auswanderer oftmals sexuell aktiv und wirken so der Inzucht entgegen. Seit 1986 fing er in Kenia mehr als 8 000 Nacktmulle, deren Größe, Geschlecht und sozialen Status er bestimmte, und die er anschließend markierte, um sie zu einem späteren Zeitpunkt beim Wiederfang eindeutig identifizieren zu können.

Die Ergebnisse seiner zwölfjährigen Studie sind überraschend. Er fing 21 der zuvor markierten Tiere fernab ihrer Heimatkolonie wieder. Rund die Hälfte davon waren Weibchen. Braude wies insgesamt 20 neu entstandene Kolonien nach, die aus einem einzigen Paar und dessen ersten Wurf hervorgingen. 1998 fand er gar ein vor etwa zehn Jahren aus seiner ursprünglichen Kolonie ausgewandertes Männchen wieder, dass in einer neuen Kolonie sogar der Gemahl der Königin wurde (Behavioral Ecology vom Januar 2000, Abstract).

Dem Forscher zufolge wandern die Ausreißer ausschließlich nachts zu fremden Kolonien und neuen Gründungsorten. Dabei legen die nackten Nager bis zu 1,6 Kilometer zurück, eine erstaunliche Reise, wenn man sich die geringe Größe sowie die Blind- und Nacktheit der Mulle vor Augen hält. Doch scheinbar bereiten die Nager ihre lange Reise gut vor. Im Labor beobachteten Wissenschaftler, dass einige Männchen einer Kolonie fetter und fauler sind als ihre Mitbewohner. Zudem verweigerten sie die Arbeit. Braude fand heraus, dass die von ihm gefangenen Auswanderer vor ihrer Reise deutlich schwerer waren als Arbeiter von ähnlicher Größe. Für den Nacktmull-Experten liegt nun der Schluss nahe, dass die zukünftigen Wanderer auf diese Weise Fettreserven für ihre bevorstehende Reise aufbauen.

Braudes Beobachtungen bringen das bestehende Bild vom Inzucht-Staat der Nacktmulle ins Wanken. "Meine Ergebnisse bestätigen zusammen mit denjenigen von Forschern an der University of Capetown in Südafrika und der University of Michigan in den USA, dass inzuchtfreie Fortpflanzung das Fortpflanzungs-System der Wahl für Nacktmulle ist", sagt Braude. "Sie mögen Inzucht dulden, da ihre Populationen häufig sehr klein werden, und dann hierdurch Gene ausselektiert werden, welche die negativen Folgen der Inzucht fördern." Braude zufolge sind Phasen geringer Populationsdichten die Auslöser für das Abwandern von Nacktmull-Pärchen, die dann anschließend eine neue Kolonie an einem entfernten Ort gründen.

Aus zukünftigen Untersuchungen erwartet Braude weitere Hinweise für erfolgreiche Ausbreitungen und inzuchtfreie Fortpflanzung bei Nacktmullen. Immerhin, so sagt er, habe es zehn Jahre gedauert, bis er das in den Jahren 1988/89 ausgewanderte Männchen als Gatte der Königin in einer fremden Kolonie wiederfing.

Siehe auch

  • Spektrum Ticker vom 29.9.1999
    "Gesunder Mix aus Jung und Alt"
    (nur für Ticker-Abonnenten zugänglich)
  • Spektrum der Wissenschaft 10/92, Seite 90
    "Die enge Gemeinschaft der Nacktmulle"
  • Spektrum der Wissenschaft 9/90, Seite 25
    "Nacktmulle: Innzuchtexperiment der Natur?"

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