Direkt zum Inhalt

Epidemien: Über wenige zu den Vielen

Manchmal brauchen Epidemien einzelne Personen als unfreiwilige Helfer, um richtig in Fahrt zu kommen. Springen die Erreger auf so einen Superspreader, ist das für sie wie ein Jackpot-Gewinn. Leider wissen Mediziner aber vor dem Ausbruch nicht, wer diese Individuen sind.
Superspreader
Superspreader – das klingt nach dem Helden eines fantastischen Comics. Spätestens seit der Sars-Epidemie des Jahres 2003 ist Infektionsepidemiologen der Name ein Begriff. Und er bedeutet nichts Gutes. Damals gaben die Superspreader so etwas wie die Bösewichte ab – allerdings unfreiwillig.

Bei dem tödlichen Lungenleiden waren die Superspreader – die behelfsmäßige deutsche Übersetzung lautet Superverbreiter oder Superstreuer – infizierte Personen, die das Virus gleich auf ein Dutzend oder mehr Menschen übertrugen. Zu diesen Mutiplikatoren gehörte etwa ein chinesischer Arzt.

Der hatte sich bei Patienten im Ausbruchsgebiet angesteckt, stieg wenig später in einem Hotel in Hongkong ab und infizierte dort mindestens zehn Reisende aus sechs verschiedenen Ländern. Darunter befand sich auch eine Flugbegleiterin aus Singapur, die das Virus wiederum exportierte und auf wahrscheinlich über hundert weitere Menschen übertrug. Die meisten anderen Infizierten dagegen gaben die Lungenkrankheit gar nicht oder nur an wenige Personen weiter.

Das Phänomen, dass sich unter Infizierten das Potenzial, andere Individuen anzustecken, ungleich verteilt, kennen Mediziner indes seit längerem. Etwa von durch Sexualkontakt übertragenen Infektionskrankheiten, was intuitiv einleuchtet. Illustriert wird dies durch die Geschichte des sexuell hochaktiven "Patienten Null", der später, wie viele seiner Sexualpartner, an Aids starb.

Superspreader | Die Grafik veranschaulicht die explosive Dynamik beim Sars-Ausbruch in einem Krankenhaus in Peking 2003 (Superspreader in rot). Andere Krankheiten wie die Influenza breiten sich eher mit stetigem Tempo aus.
Solch ein Superspreader erscheint, wenn Forscher die Ausbreitung von Seuchen mathematisch modellieren, als ein stark ausstrahlender Knotenpunkt. Informationsnetzwerke haben eine ganz ähnliche Struktur. Dort sind es kommunikativ besonders eifrige Menschen, die Informationen sehr viel stärker verteilen als das Gros der Bevölkerung. Für Werbestrategen sind diese Personen ungemein attraktiv – seit neuestem sprechen sie auch vom Superspreader-Marketing.

Mit mathematischen Methoden kommen die Epidemieforscher unterdessen noch zu anderen Ergebnissen. So extrahierten sie aus Verbreitungsdaten zu HIV, Malaria und Bilharziose die "20/80-Regel": Zwanzig Prozent der Infizierten sind für achtzig Prozent der Neuansteckungen verantwortlich – jedenfalls bei durch Parasiten und durch Sexualkontakt übertragenen Krankheiten.

James Lloyd-Smith und Wayne Getz von der Universität von Kalifornien in Berkeley stellten sich nun die Frage, ob diese Regel auch für andere Seuchen gilt. Die Forscher werteten dazu die noch recht spärliche Literatur zum Thema aus. Für einige Epidemien der letzten sechzig Jahre wurden akribisch alle neu infizierten Patienten und alle Personenkontakte aufgezeichnet. Mit diesem Material konnten die Forscher dann Ausbreitungsmodelle entwickeln.

Das Ergebnis: Die asymmetrische Ausbreitung kommt häufiger vor als bisher gedacht. Zwar war sie bei Sars am ausgeprägtesten – hier gingen knapp neun Zehntel der Neuinfektionen auf die infektiösesten zwanzig Prozent der Befallenen zurück. Aber auch bei Masern- und Pocken-Epidemien wurden Werte zwischen sechzig und siebzig Prozent erreicht. Diese Zahlen kamen allerdings auch zustande, weil ein sehr großer Teil der Infizierten die Erreger gar nicht weitergab. Jedoch gab es für beide Krankheiten auch Superspreader.

So etwa den Seemann, der in Grönland rund 250 Menschen mit Masern ansteckte. Und 1970 in Deutschland war es ein Pockenkranker, der in einem Krankenhaus ein gutes Dutzend anderer Patienten infizierte. Der Grund: Er litt gleichzeitig an einer Bronchitis und hustete daher große Mengen viralen Materials aus. "Der Fall, dass die eine Krankheit der anderen hilft, scheint recht verbreitet zu sein", meint Lloyd-Smith.

Ganz am Ende der Asymmetrie-Skala rangierte übrigens die Ebola-Epidemie in Uganda aus dem Jahr 2000. Hier gingen nur etwa dreißig Prozent der Infektionen auf das Konto der infektiösesten zwanzig Prozent. Das mag daran liegen, dass das Ebola-Fieber so rasch zum Tode führt und damit die Infizierten an einer Virusweitergabe hindert.

Auch "bei hochinfektiösen Krankheiten wie der Influenza spielen Superspreader nur eine untergeordnete Rolle", erklärt Walter Haas, Epidemiologe am Robert-Koch-Institut in Berlin. Da sich die Grippe über Aerosole verbreiten könne, sei kein enger körperlicher Kontakt notwendig. Da genüge schon der Besuch einer Großveranstaltung oder die Fahrt mit einem öffentlichen Verkehrsmittel für die Infektion – und innerhalb von Wochen habe man eine flächendeckende Verbreitung. "Bei mehreren Millionen Erkrankten pro Grippesaison ist der Einfluß von Individuen verschwindend klein." Für Krankheiten mit niedrigen Betroffenenzahlen und eher geringer Infektiösität könne das aber durchaus anders aussehen.

Befindet sich eine Epidemie im Anfangsstadium, besteht wegen der vielen nur schwach übertragenden Infizierten eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie rasch im Sande verläuft. Schaffen die Erreger aber den Sprung auf einen Superspreader, bedeute das für die Krankheit, wie im Falle von Sars, einen Jackpot-Gewinn, meint Llyod-Smith. "Dann kann die Epidemie explosiv verlaufen", bestätigt auch Alison Galvani, Epidemiologin an der Yale Universität.

Tritt so ein Fall ein, sei es wichtig, die potenziellen Superstreuer schnell zu identifizieren, meinen Getz und Lloyd-Smith. Denn durch gezielte Impfstrategien ließen sich Epidemien sehr viel effizienter eindämmen, als wenn einfach breite Bevölkerungsschichten behandelt würden. Allerdings bräuchte man dazu verlässliches Wissen darüber, wie ein Superspreader schon vor dem Ausbruch erkannt werden könne. Daher seien weit mehr Daten über den Verlauf von Epidemien nötig, mahnen die Forscher.

Was macht also einen Superspreader aus? "Das ändert sich von Krankheit zu Krankheit. Es ist wohl eine Sache des Verhaltens und auch von genetischen Faktoren", meint Getz. Entscheidend seien – wenig überraschend – hohe Mobilität und Kontaktraten. Deshalb hat natürlich besonders das medizinische Personal mit engem Kontakt zu den Risikogruppen eine Schlüsselposition inne.

Zudem seien Ko-Infektionen mit anderen Erregern riskant, so Getz weiter, und wahrscheinlich variiere auch bei einzelnen Personen der Pegel an infektiösen Viren und Bakterien. Darüber hinaus kann sich Getz auch Sonderfälle vorstellen, beispielsweise wenn eine individuell besondere Morphologie der Atemwege ein Herausniesen begünstigt.

In der gesichteten Literatur erwiesen sich aber eine nicht erkannte oder falsch diagnostizierte Erkrankung als am gefährlichsten. Ein historisches Beispiel für diesen Fall ist Mary Mallon, eine Irin, die Anfang des vergangenen Jahrhunderts als Köchin in zahlreichen New Yorker Haushalten arbeitete. Sie trug zeitlebens Typhusbakterien in ihrem Körper, erkrankte selbst jedoch nie ernsthaft. In den Häusern ihrer Arbeitgeber allerdings hinterließ sie eine Spur der Krankheit und des Todes. Ihre letzten Lebensjahrzehnte verbrachte die "Patronin der Superspreader" in Quarantäne auf einer Insel und schaffte es wegen dieser kuriosen Vita sogar zur Comicfigur: "Typhoid Mary".

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.