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Musikermedizin: Wenn die Finger nicht mehr mitspielen

Viele Stunden üben Musiker komplexe Bewegungsabläufe und erlangen damit eine ganz erstaunliche Fingerfertigkeit. Doch manchmal kann durch zu viel Üben ein "Musikerkrampf" ausgelöst werden - die Finger wollen nicht mehr gehorchen und verkrampfen. Die Ursache dafür liegt nicht in den Muskeln, sondern im Gehirn.
Dystonische Hand beim Klavierspiel
Victor Candia | Victor Candia musste seine Karriere als Gitarrist abbrechen, weil seine Finger nicht mehr mitspielten. Heute arbeitet er an Therapien gegen die Fokale Dystonie.
Victor Candia musste seine Karriere als Gitarrist abbrechen. Kurz vor Beendigung seines Musikstudiums an der Staatlichen Hochschule für Musik in Trossingen setzten die Symptome ein: Der Ringfinger der linken Hand rollte sich beim Spielen ein, benachbarte Finger führten unwillkürlich eine Kompensationsbewegung durch und streckten sich. Wie wohl jeder Musiker in dieser Situation reagierte Candia mit noch mehr Üben, doch dadurch wurden die Symptome nur noch schlimmer. Nachts wälzte er neurowissenschaftliche Bücher, um zu verstehen, wie es zu diesen Problemen kommen konnte.

"Schließlich bin ich auf ein Krankheitsbild gestoßen, das zu meinen Symptomen passte", erzählt Candia. Mit dieser Eigendiagnose ging er denn zum Neurologen, der seine Vermutung bestätigte: Candia litt an Fokaler Dystonie, bei Musikern auch "Musikerkrampf" genant. Eine Therapie gab es damals noch nicht, Candias Musikerkarriere war beendet. Heute arbeitet Candia am Collegium Helveticum, einem Institut der Eidgenössischen Technischen Hochschule und der Universität Zürich, und forscht unter anderem an einer Therapie zur Behandlung der Fokalen Dystonie, die er in Zusammenarbeit mit Thomas Elbert an der Universität Konstanz entwickelt hat.

Die Ursache der Verkrampfung liegt bei der Fokalen Dystonie nicht in den Fingern, sondern im Gehirn. Das Gehirn ist enorm plastisch. Hohe neuronale Aktivität fördert das Nervenwachstum, Hirnregionen die häufig gebraucht werden, dehnen sich aus. Bei Musikern, die täglich viele Stunden eine präzise Fingerkoordination üben und diese mit geschärftem Hörsinn verfolgen, verändert sich das Gehirn dadurch merklich.

Im sensorischen und motorischen Kortex, der Gehirnregion für Körperwahrnehmung und Bewegungssteuerung, ist jedem Finger eine bestimmte Region zugeordnet. Bekommt das Gehirn von einem bestimmten Finger ein Signal oder steuert einen einzelnen Finger an, wird die neuronale Aktivität in den Arealen der benachbarten Finger gehemmt. Durch die ständige Wiederholung von präzise koordinierten Bewegungsabläufen, an denen mehrere Finger gleichzeitig beteiligt sind, dehnen sich die sensorischen und motorischen Areale einzelner Finger aus und können unter Umständen mit denen der Nachbarfinger überlappen – eine mögliche Ursache der Fokalen Dystonie.

"Die Hemmung der Nachbarareale funktioniert nicht mehr. Der Gefühlseindruck kann dann nicht mehr präzise einem Finger zugeordnet werden, und entsprechend kann das Gehirn dann auch die Finger nicht mehr gezielt ansteuern", erklärt Eckart Altenmüller, Professor für Musikermedizin an der Hochschule für Musik und Theater Hannover, der sich ebenfalls mit Therapiemöglichkeiten zur Fokalen Dystonie befasst. Ein zu starkes und fehlgesteuertes Signal führt schließlich zur Verkrampfung der Finger. Meist ist nur ein Finger von der Dystonie betroffen, die benachbarten Finger versuchen dann unwillkürlich durch Kompensationsbewegungen den dystonischen Finger aus seiner Fehlstellung zu befreien.

"Gerade die Liebe zur Musik führt dazu, dass sich die falschen Abläufe stabilisieren"
(Eckart Altenmüller)
Das Problem bei der Fokalen Dystonie liegt aber nicht nur in der veränderten Sensorik – viel problematischer ist, dass sich das falsche Bewegungsprogramm sehr stark in das Gedächtnis einbrennt und dann kaum mehr herauszubekommen ist. Zu dieser starken Gedächtnisbildung tragen wahrscheinlich auch die Emotionen bei, die beim Musiker aufkommen, wenn ihm seine Finger nicht mehr gehorchen. "Es ist eine Erkrankung, die den Musiker in der Lebensqualität, in seinen Zielen und Plänen massiv bedroht. Und genau diese biografische Bedrohung führt dazu, dass gedächtnisbildende Stresshormone ausgeschüttet werden. Gerade die Liebe zur Musik führt dazu, dass sich die falschen Abläufe stabilisieren", sagt Altenmüller.

Zudem werden durch die häufige Wiederholung bestimmter Fingerfolgen am Instrument diese Bewegungsabläufe automatisiert. Automatisierte Bewegungen werden in den Basalganglia des Gehirns als Gesamtkonzept abgespeichert. Sobald sich der Musiker ans Klavier setzt, um eine bestimmte Sonate anzustimmen, wird das Programm abgespult und entzieht sich zum großen Teil dem bewussten Bereich des Gehirns. Das ist auch sinnvoll, das Bewusstsein wäre sonst mit den sensorischen Eindrücken und der Bewegungssteuerung hoffnungslos überfordert. Bei der Fokalen Dystonie aber wird dieser Automatismus zum Verhängnis. "Wenn sich die falschen Bewegungen als Automatismen eingeschlichen haben, ist es sehr schwierig, sie zu löschen, weil man nur noch bedingt bewusst eingreifen kann", erklärt Candia.

"Wenn sich die falschen Bewegungen als Automatismen eingeschlichen haben, ist es sehr schwierig, sie zu löschen, weil man nur noch bedingt bewusst eingreifen kann"
(Victor Candia)
Bewegungsprogramme werden stark kontextspezifisch abgespeichert. Entsprechend kontextspezifisch sind auch die Symptome bei der Fokalen Dystonie. Der Pianist, dessen Finger sich beim Klavierspiel verkrampfen, kann durchaus noch mit der Computertastatur umgehen, der Klarinettist kann noch Oboe spielen. Manchmal hilft es sogar kurzzeitig, wenn die Musiker mit Latexhandschuhen spielen, da durch den anderen sensorischen Eindruck der Automatismus zumindest erstmal durchbrochen ist. Allerdings wirkt der Trick nicht lange. Schon nach kurzer Zeit schleichen sich auch auf der Oboe und auch mit Latexhandschuhen dystonische Bewegungen ein.

Candia und Altenmüller haben unterschiedliche Therapieansätze zur Behandlung der Fokalen Dystonie, die aber doch auf das Gleiche abzielen – die Automatismen zu unterbinden, damit neue Bewegungsabläufe gelernt werden können. Altenmüller behandelt seine Patienten mit einer Injektion von sehr geringen Konzentrationen von Botulinumtoxin in die betroffene Hand. "Zunächst ist das eine symptomatische Behandlung der verkrampften Muskulatur", sagt Altenmüller. Dadurch wird dann, ähnlich wie bei dem Spiel mit Latexhandschuhen, die Sensorik der Hand verändert – die Behandlung wirkt aber entschieden länger. Das falsche Bewegungsprogramm wird durchbrochen und das Gehirn kann es durch neue Abläufe ersetzen.

Dass diese Methode auch wirklich auf das Gehirn zurückwirkt und sich die sensorische Repräsentation der betroffenen Hand im Kortex normalisiert, konnte zumindest bei Patienten mit Schreibkrampf gezeigt werden. Beim Musikerkrampf steht dieser Beweis noch aus, es ist aber anzunehmen, dass es sich hier ähnlich verhält. Hundertprozentig heilen kann man den Musikerkrampf mit Botulinumtoxin nicht – noch gibt es keine Therapie, die dies könnte. Bei vielen Musikern ist die Therapie aber doch so gut angeschlagen, dass sie weiter in ihrem Beruf tätig bleiben können.

Eckart Altenmüller | Eckart Altenmüller, selbst Musiker mit abgeschlossenem Musikstudium, behandelt seine Patienten zunächst mit geringen Mengen von Botulinumtoxin, um die verkrampfenden Muskeln zu lösen. Zur Therapie gehört aber auch eine psychologische Beratung.
Zusammen mit diesem neurologischen Ansatz bietet Altenmüller eine psychologische Beratung an und nimmt sich für seine Patienten viel Zeit – 1,5 bis 2 Stunden dauert eine Sprechstunde. "Schließlich betrifft die Krankheit die ganze Lebenswelt des Musikers", meint Altenmüller – selbst Musiker mit abgeschlossenem Musikstudium, weiß er sehr gut, wovon er spricht. Seine Doppelqualifikation kommt ihm bei seiner Tätigkeit sehr entgegen. "Wenn Musiker merken, dass ich auch einen Teil ihrer Welt repräsentiere, ist der Vertrauensvorschub schon sehr groß", erklärt Altenmüller. Vermutlich trägt auch das zum Erfolg seiner Therapie bei.

Auch Candias Therapie zielt darauf ab, das fehlerhafte Bewegungsprogramm zu unterbrechen, um es durch ein neues zu ersetzen, "und zwar auf ziemlich rigorose Weise", wie er selber sagt. Mit einer Schiene werden Finger fixiert – nicht der dystonische Finger selbst, sondern die benachbarten Finger, die Kompensationsbewegungen machen. Dadurch werden die Finger aus ihrer verkrampften Haltung gebracht, der dystonische Finger wird wieder frei, um ein neues Bewegungsmuster einzustudieren.

Erfunden hat Candia diese Vorgehensweise, indem er mit seiner eigenen Hand experimentierte. "Zunächst hat ein Freund den Finger festgehalten", erzählt er. Später kam er dann auf die Idee, den Finger zu schienen und an der Hand zu fixieren.

Erste Therapieerfolge stellen sich meist schon nach kurzer Zeit ein. Um eine anhaltende Verbesserung zu erzielen, müssen die Übungen aber über Monate, im manchen Fällen sogar über Jahre hinweg fortgesetzt werden. Letztendlich führt die Methode aber bei vielen Musikern zum Erfolg, vor allem Gitarristen und Pianisten profitieren ganz erheblich. In einer Studie konnten Candia und seine Kollegen bereits zeigen, dass die Therapie zu physiologischen Veränderungen im Gehirn führt: Nach der Behandlung reduzierte sich die Aktivität in den entsprechenden sensorischen Arealen des Gehirns einiger Musiker, die Fingerräpresentationen der betroffenen Hand hatten sich durch die Behandlung normalisiert.

Sich selbst hat Candia noch nicht therapiert. "Meine Hand ist mein Modell", sagt er – es ist ja schon praktisch, wenn man sein Untersuchungsobjekt ständig dabei hat. Außerdem ist ihm seine Therapie zu zeitaufwändig, als dass er sie in seinem ausgefüllten Forschungsalltag noch unterbringen könnte. "In zwanzig Jahren, wenn wir mehr verstanden haben und die Symptome mit einer zehnminütigen Therapie in den Griff bekommen, dann setze ich mich hin und mache das", meint er.

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