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HIV: Warnlampen in Tansania

Weniger als fünf Prozent resistente HI-Viren registrierte die WHO in vielen afrikanischen Staaten. Jetzt stellt sich heraus: Die wahre Zahl ist möglicherweise ein Vielfaches davon.
HI-Viren unter dem Elektronenmikroskop

Das Epizentrum der weltweiten Aids-Epidemie liegt in Afrika südlich der Sahara – doch Besserung ist in Sicht. Seit einigen Jahren existieren in vielen Ländern des Kontinents systematische Bekämpfungsprogramme, und die Situation für die Erkrankten verbessert sich vielerorts. Mit besserem Zugang zu modernen Medikamenten tritt allerdings auch hier ein altbekanntes Problem auf: Der Erreger wird gegen die Medikamente unempfindlich. Resistente HI-Viren haben insbesondere in Afrika das Potenzial, die mühsam errungenen Erfolge der letzten Jahre zunichtezumachen.

HIV | Jedes Jahr tötet dieser Winzling weltweit zwei Millionen Menschen – indem er unser Immunsystem kapert. Wie, das zeigt diese Visualisierung: Das nur 100 Nanometer große HI-Virus (orange) befällt Immunzellen (grau) und löst dann nach gewisser Zeit die Immunschwächekrankheit Aids aus. Im Zuge der Eroberung binden Hüllproteine des Virus an Rezeptoren, die auf der Membran seiner Wirtszelle sitzen. Daraufhin verschmilzt der Erreger mit der Zelle und schleust sein Erbgut in diese ein, wo nun ein weiteres spezialisiertes Protein die virale RNA in DNA umschreibt. Sie integriert sich in das menschliche Genom im Zellkern und beutet es für ihre Zwecke aus – denn sobald die weiße Blutzelle die HIV-Gene abliest, entwickelt sie sich zur tödlichen Virenfabrik.

Für ihre Darstellung nutzten Ivan Konstantinov und seine Kollegen von der Visual Science Company in Moskau Daten aus mehr als 100 Publikationen und erreichten damit den ersten Platz im 2010 International Science and Engineering Visualization Challenge der Zeitschrift "Science". (gw)

Jetzt deutet eine Studie von Forschern um den Virologen Carsten Scheller von der Universität Würzburg darauf hin, dass dieses Problem bisher sogar unterschätzt wird. Denn bislang kommt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihren eigenen Untersuchungen meist zu dem Ergebnis, dass die Resistenzquote bei den Neuinfektionen quer durch Afrika unter fünf Prozent liegt. Das allerdings ist möglicherweise eine viel zu niedrige Zahl, erzeugt durch eine selektive und nicht repräsentative Auswahl.

Die Würzburger Forscher kommen in ihrer Untersuchung zu dem Schluss, dass etwa einer von fünf neu Infizierten einen Virenstamm trägt, der gegen mindestens ein gängiges Medikament resistent ist. Den Großteil dieser Resistenzen fanden sie dabei in Altersgruppen, die von der WHO schlicht nicht erfasst werden. Scheller und sein Team haben zwar bisher nur eine relativ geringe Zahl von Probanden untersucht, aber wenn sich ihr Ergebnis bestätigt, müssen die gerade erst etablierten Gesundheitsprogramme wohl wieder auf den Prüfstand.

Fehlende Ressourcen begünstigen resistente Erreger

HI-Viren | 1983 entdeckten Françoise Barré-Sinoussi und Luc Montagnier in den Lymphknoten eines Aids-Patienten Viruspartikel, die sich aus den Zellen herausschnüren.

Seit antivirale Therapien auch in Regionen mit großer HIV-Prävalenz und entsprechend hohen Ansteckungsraten weithin verfügbar sind, steigt der Selektionsdruck auf den Erreger, und man muss damit rechnen, dass sich über kurz oder lang Stämme etablieren, die gegen diese Wirkstoffe immun sind. Und genau die Probleme, die lange wirksame Maßnahmen gegen die Epidemie verhindert haben, erschweren nun die Bekämpfung der auftretenden Resistenzen: Die Ressourcen von Ländern wie Tansania, wo auch die aktuelle Studie stattfand, sind nach wie vor begrenzt.

Zwar gibt es in dem ostafrikanischen Staat seit 2004 ein staatliches HIV-Programm, das Infizierten antivirale Medikamente kostenfrei zur Verfügung stellt. Doch eigentlich sei mehr nötig, erklärt Scheller: "Es ist in Afrika meist nicht möglich, bei Resistenzen einfach auf andere Medikamente umzusteigen, wie es in Europa gemacht wird. Deswegen haben die resistenten Erreger dort einen ganz anderen Stellenwert als hier." Außerdem fehle das Geld für routinemäßigen Tests, ob die Therapie den Virentiter im Blut tatsächlich senkt und ob der gefundene Stamm tatsächlich für die verwendeten Medikamente empfänglich ist, so Scheller.

Das Ausschlussverfahren der WHO

Das führt dazu, dass resistente Viren unbemerkt auftauchen und sich in der Population ausbreiten können. Die Weltgesundheitsorganisation testet deswegen regelmäßig den Anteil resistenter Stämme bei der Weitergabe des Virus. In den allermeisten afrikanischen Ländern kommt die WHO dabei auf einen Wert von deutlich unter fünf Prozent resistenter Neuinfektionen – eine erstaunlich geringe Rate. Vor allem steht der Befund in krassem Widerspruch zu der Erfahrung aus der klinischen Praxis, dass ein beträchtlicher Anteil der begonnenen HIV-Therapien im subsaharischen Afrika binnen weniger Wochen scheitert. Die neuen Zahlen von Scheller und Kollegen deuten in der Tat darauf hin, dass etwa bei einem Fünftel aller neu Infizierter das Virus ganz oder teilweise immun gegen die Standardtherapien ist.

Neben der Behandlung der Immunschwäche selbst haben moderne antivirale Medikamente einen weiteren Vorteil: Sie reduzieren die Wahrscheinlichkeit, dass das Virus weitergegeben wird, um 96 Prozent. Die Zeitschrift "Science" kürte diese Erkenntnis zum wissenschaftlichen Durchbruch des Jahres 2011.

Das Ergebnis der Würzburger Forscher deutet darauf hin, dass die Ausschlusskriterien der WHO bei der Erfassung von Resistenzen dazu führen, dass die Studien die meisten resistenten Stämme übersehen. Die WHO testet nur Patienten, die jünger als 25 Jahre sind, vorher noch nicht schwanger waren und noch nicht mit antiviralen Medikamenten in Berührung gekommen sind.

Dafür gibt es gute Gründe. Die WHO möchte möglichst die Infektionen erfassen, die frisch sind und bei denen etwaige Resistenzen schon vor der Übertragung vorhanden waren. Ältere Patienten zum Beispiel könnten schon länger infiziert sein und dadurch das Bild der Neuinfektionen verzerren, und Schwangere nehmen oft an Programmen teil, bei denen mit einmaligen Medikamentengaben verhindert wird, dass das HI-Virus bei der Geburt auf das Kind übertragen wird. Dadurch ist allerdings die entstehende Stichprobe naturgemäß alles andere als repräsentativ, und es steht die Frage im Raum, ob sie das Resistenzprofil der Gesamtbevölkerung zutreffend wiedergibt. Die neue Studie gibt eine recht klare Antwort, und die lautet Nein.

HIV-Infektion | Entwicklungszyklus des Aids-Erregers: Das HI-Virus dockt mit Proteinen, die auf seiner Hülle sitzen, an Zellen des menschlichen Immunsystems an und dringt in die Zelle ein. Hier wird die virale RNA in DNA umgeschrieben und in das zelluläre Erbgut integriert. Zelleigene Proteine übersetzen das eingedrungene Erbgut in RNA, die wiederum die Bauanleitung für virale Proteine enthält. Die fertig zusammengesetzten Viren verlassen die sterbende Zelle, und der Zyklus beginnt von Neuem.

Schellers Team hat diejenigen Teile der Bevölkerung untersucht, die bei den WHO-Tests nicht erfasst werden, vor allem die Altersgruppen über 25. Die Proben stammen aus einer klinischen Studie mit einem experimentellen HIV-Medikament. Die Forscher gelangten so an Blutzellen und Plasma von insgesamt 120 HIV-infizierten Personen aus der Mwanza-Region in Tansania, die eine wesentlich breitere Altersverteilung abbilden als die WHO-Stichprobe und zum Beispiel auch Frauen mit mehreren Kindern einschließen. Aus 88 dieser Proben gewannen sie Virenerbgut, das sie auf bekannte Resistenzgene prüften. Die Typisierung der Sequenzen erbrachte insgesamt 16 verschiedene resistente HIV-Stämme, also fast ein Fünftel aller Fälle und damit ein Vielfaches der Quote, die die WHO mit ihrer Methode ermittelt. "Die Studie ist zu klein, um solche Zahlen mit der nötigen Genauigkeit zu liefern", erklärt Scheller. "Sie zeigt aber, dass Resistenzen bei höheren Altersgruppen signifikant häufiger auftreten, und das ist das, was wir mit der Untersuchung herausfinden wollten."

Resistenzen hauptsächlich bei Älteren

In der von der WHO ausschließlich berücksichtigten Altersklasse der unter 25-Jährigen tauchte auch in der Würzburger Studie bei 20 Probanden kein einziger resistenter Erreger auf – hätten die Wissenschaftler ihre Patienten nach den Kriterien der WHO ausgesucht, wären sie zu dem gleichen Ergebnis gelangt wie die Weltgesundheitsorganisation. Doch in den höheren Altersklassen ab etwa 30 Jahren nimmt die Häufigkeit resistenter Viren drastisch zu, bei den Patienten zwischen 30 und 40 Jahren erwies sich jeder dritte Virenstamm als in irgendeiner Weise widerständig. Klar ist noch nicht, durch welche Mechanismen diese hohe Rate zu Stande kommt. Die Wissenschaftler spekulieren, dass heimliche Selbstmedikation mit Wirkstoffen vom Schwarzmarkt dabei eine Rolle spielen könnte – zwar sind die Medikamente aus den staatlichen Programmen kostenfrei, möglicherweise fürchten HIV-Infizierte jedoch eine Stigmatisierung, wenn sie an diesen Programmen teilnehmen.

Und einiges deutet sogar darauf hin, dass auch die Untersuchung der Würzburger Forscher die Prävalenz resistenter Viren unterschätzt. Sie weisen darauf hin, dass die Typisierung von Viren aus Blut oft Resistenzen nicht zuverlässig entdeckt, zumal wenn sie nur eine Unterpopulation der HIV-Erreger im Patienten stellen. Doch schon die vorliegenden Daten deuten darauf hin, dass die Therapie bei einem beträchtlichen Anteil der Probanden nicht wie gewünscht wirken wird – im Einklang mit den Erfahrungen, die Mediziner schon jetzt bei vielen Patienten in der Region machen. Abhilfe versprechen billige und robuste Tests auf Resistenzen, die aber erst noch entwickelt werden müssen. Die Ergebnisse zeigen, dass man sich darüber nun Gedanken machen müsse, sagt Carsten Scheller: "In Tansania ist nun eine Warnlampe angegangen."

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