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Wildes Europa

Europa: dicht besiedelt, von Straßen und Schnellzugtrassen durchzogen, weiträumig von Äckern und Wiesen geprägt, die Wälder meist Forste, die Flüsse begradigt und kanalisiert – wer hier als Tier oder Pflanze überleben will, muss hart im Nehmen sein und sich anpassen. Der Rest? Stirbt aus oder wird in Nischen zurückgedrängt.

Auch wenn viel Wahres in diesen Sätzen steckt – ein Viertel aller europäischen Säugetiere, vierzig Prozent aller Amphibien, jedes Fünfte Reptil unseres Kontinents gelten als gefährdet –, so ist das oben gezeichnete Bild doch zu scharf gezeichnet. Das zumindest ist die Botschaft des wunderbaren Buchs "Wild Wonders of Europe" von Peter Cairns und seinen Kollegen, das nun auf Deutsch (mit dem englischen Titel) erschienen ist. Es zeigt in eindrucksvollen Aufnahmen von Naturfotografien aus ganz Europa, wie viel Natur doch noch auf unserem alten Kontinent übrig geblieben ist – und wie viel Wildnis auch schon wieder zurückgekehrt ist.

Von den Kanarischen Inseln im Westen bis zum Kaukasus im Osten, von Spitzbergen und Grönland im Norden bis Malta und Kreta im Süden sind sie kreuz und quer durch die Lande gereist und haben Tiere, Pflanzen und Landschaft abgelichtet. Da stehen Dickschnabellummen im Eis, stieben Moschusochsen über die Tundra, schweben Pottwale scheinbar schwerelos im Wasser und glüht das Polarlicht über der Taiga. In Makro röhrt der Hirsch, blüht der Sumpf-Stendelwurz und verspeist ein Wiedehopf einen bedauernswerten Maikäfer. Oft lohnt noch ein zweiter und dritter Blick, denn manch überraschendes Detail offenbart sich erst dann – etwa beim Panorama des Mont-Blanc-Massivs, der sich in einem Bergsee spiegelt: Links im Bild taucht dann der kleine Umriss eines Alpensteinbocks auf, der sich vor den aufsteigenden Wolken abzeichnet.

Aus allen Ländern Europas haben die Fotografen Eindrücke zusammengetragen. Sie beweisen, dass es auch hier auf diesem seit Jahrtausenden besiedelten und bestellten Land und in den angrenzenden Meeren noch viel zu entdecken gibt – Naturlandschaften, die man eher in Kanada vermutet oder Unterwasserszenen, die an die Karibik erinnern. Dank strengerer Gesetze, aber auch weil sich die Menschen aus entlegenen Gebieten zurückziehen oder sich ihre Einstellung gegenüber manchen Arten gewandelt hat, macht sich zudem vielerorts auch wieder mehr Natur breit. Wölfe oder Adler erobern sich verlorene Lebensräume in Mitteleuropa zurück. Lachse schwimmen wieder im Rhein, Kraniche rasten zu Tausenden in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern.

Jedes Bild ist mit einer erklärenden Bildunterschrift versehen (die zum Teil gesammelt einige Seiten davor oder danach abgedruckt sind, um die ganze Seite für die Fotografie nutzen zu können); dazu kommen kurze Texte der Fotografen, die ihre Erlebnisse und Eindrücke im Gelände schildern. Nur hier erfährt man, dass natürlich noch immer nicht alles Gold ist, das in Europa glänzt. Das Bild des Tunfischschwarms aus dem Mittelmeer stammt tatsächlich aus einer Fischfarm, weil die Art so begehrt in der Sushi-Industrie ist, dass sie fast ausgerottet ist. Ausschließlich in den Texten klingt an, welche Probleme viele Arten der Kulturlandschaft haben, weil sie von der industriellen Landwirtschaft an den Rand gedrängt werden. Die eine oder andere Aufnahme der Schattenseiten hätte hier tatsächlich noch gut getan.

Davon abgesehen, ist das Buch aber rundum gelungen – und ein Tipp für jeden Natur- oder Fotografiefreund. Und wer dann noch selbst seinen Teil zur Bewahrung des europäischen Naturerbes leisten möchte, bekommt zum Abschluss 21 Ratschläge, wie man dieses Vorhaben in die Tat umsetzen kann.

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