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Theoretische Chemie: Chemie mit ungewöhnlichen Elementarteilchen

Protonen, Neutronen, Elektronen sind die Bausteine der Materie. Forscher haben jetzt jedoch ein viertes Elementarteilchen, das Myon, in eine chemische Reaktion eingeschmuggelt.
Im Labor
Internationales Jahr der Chemie 2011
Myonen sind die großen Geschwister der Elektronen: Sie sind zweihundert Mal so schwer, haben aber die gleiche Ladung und besitzen wie die Elektronen ein zugehöriges Neutrino. Weniger bekannt ist eine weitere Gemeinsamkeit: Man kann mit Myonen auch Chemie betreiben. Sie lassen sich von Atomkernen einfangen und besetzen dann die gleichen Energieniveaus wie die Elektronen. Ihre kurze Lebensdauer von zwei Mikrosekunden ist dabei im Zeitalter der Femtosekundenchemie kein Hindernis.

Exotische Atome
So kann man mit Myonen einerseits besonders leichten, andererseits besonders schweren Wasserstoff erzeugen. Das ist weit mehr als nur ein interessantes Experiment: Isotopen haben in vielen Bereichen der Wissenschaft enorme Bedeutung erlangt. Mit dem Kernspin des Kohlenstoffisotops 13C entschlüsseln Chemiker Molekülstrukturen, die Zerfallsrate von 14C gibt das Alter organischer Materie an. Sauerstoffisotopen verraten die Temperatur prähistorischer Ozeane, und die verschiedenen Massen der Metallatome in Erzen wie Coltan zeigen an, ob der Rohstoff aus einer bekannten Mine stammt – oder illegal in Zentralafrika geschürft wurde.

Die Isotopen des Wasserstoffs spielen für die Chemie eine ganz entscheidende Rolle, denn dank ihrer unterschiedlichen Massen verhalten sie sich in Reaktionen unterschiedlich und geben so Aufschluss über ihren Mechanismus.

Um die exotischen Wasserstoffkerne herzustellen, braucht man einen Teilchenbeschleuniger, der Myonen und Antimyonen erzeugt. Beschießt man Helium mit einem Myonenstrahl, fangen die Atome je ein Myon ein und sortieren es auf dem niedrigsten Energieniveau der Elektronenhülle ein. Weil es so schwer ist, bewegt sich das Myon jedoch viel näher am Kern und schirmt dort die Ladung eines Protons effektiv ab. Damit ist die effektive Ladung des Atomkerns nur noch 1: Das entstehende Atom ist per Definition Wasserstoff. Ein Team um den Chemiker Donald Truhlar von der Universität Minnesota hat dieses exotische Isotop nun am TRIUMF, dem Kanadischen Nationallabor für Teilchen- und Atomphysik, erzeugt. Tatsächlich verhält sich das so gewonnene Atom chemisch genau wie ein Wasserstoffisotop mit der Masse 4,1.

Atom mit Antimaterie im Herzen
Das Anti-Myon wiederum trägt eine positive Ladung und kann in einem Wasserstoffatom den Platz des Protons einnehmen. Dieses "Atom" mit etwas über einem Zehntel der Masse von Wasserstoff bezeichnet man als Myonium, und es unterscheidet sich sowohl in der Größe als auch dem chemischen Verhalten von den normalen Wasserstoffisotopen um höchstens ein halbes Prozent. Auch dieses Konstrukt zerfällt zwar nach etwa zwei Mikrosekunden wieder, doch das ist lang genug für chemische Reaktionen, wenn man das neue Atom im Reaktionsgemisch direkt erzeugt.

Truhlars Team nutzte den in der Natur beispiellosen Massenunterschied zwischen den mit Myonen erzeugten Wasserstoffisotopen – das schwere Isotop ist 36 Mal schwerer als das leichte – um die grundlegendste aller chemischen Reaktionen mit bisher ungeahnter Genauigkeit zu untersuchen: Die Reaktion eines freien Wasserstoffatoms mit dem Wasserstoffmolekül H2. Diese sehr einfache Reaktion, bei der einfach ein Wasserstoff gegen einen anderen ausgetauscht wird, ist die einfachste und grundlegendste Reaktion der gesamten Chemie.

Die beteiligten Atome zeigen dabei ein quantenmechanisches Phänomen, das bislang nicht vollständig verstanden ist: Ein Wasserstoffatom kann die Energiebarriere nicht nur überwinden, sondern auch durchtunneln. Dadurch scheitern alle klassischen Berechnungen der Reaktion, und Chemiker haben ein Korrekturverfahren eingeführt, dessen Gültigkeit Truhlar und Kollegen in ihrem Experiment überprüften. Dank der freundlichen Mithilfe der kurzlebigen Myonen können die Forscher nun sagen: Es funktioniert sowohl bei sehr kleinen und sehr großen Werten, und damit können Forscher mit diesem Verfahren Aussagen über alle anderen chemischen Reaktionen machen. Manchmal sind auch zwei Mikrosekunden lang genug für einen tiefen Blick in die Struktur der Welt.

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  • Quellen
Truhlar et al.: Kinetic Isotope Effects for the Reactions of Muonic Helium and Muonium with H2. In: Science 331, S. 448 – 450, 2011

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