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Nuklearer Notstand: Der Weg der radioaktiven Wolke

Die Bilder des explodierenden Kernreaktors in Japan wecken Ängste. Doch Folgen wie nach Tschernobyl drohen Deutschland dadurch nicht. Tokio ist dagegen gefährdet.
Honshu aus dem All
Explosion an einem Atommeiler; Rauch und Staubwolken steigen auf, Sirenen schrillen. Als am vergangenen Samstag Bilder von einer Explosion am japanischen Kernreaktor Fukushima I um die Welt gehen, denken viele Menschen hier zu Lande sofort an die Katastrophe von Tschernobyl, bei der es am 26. April 1986 zu einer Kernschmelze und anschließenden Explosion im Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks kam.

Durch die Detonation und den Brand der zur Moderation der Zerfallsreaktion eingesetzten Graphitblöcke wurden damals große Mengen radioaktiver Spaltprodukte wie Jod-131 oder Zäsium-137 freigesetzt und in der Atmosphäre verteilt. Ein großer Teil des Fallouts ging in der unmittelbaren Umgebung des havarierten Reaktors nieder. Wegen der großen Hitze des Graphitbrands stiegen viele Partikel aber auch bis in 10 000 Meter Höhe auf, wo sie von verschiedenen Luftströmungen quer über Europa verteilt wurden. So gelangten radioaktive Elemente ebenso nach Skandinavien wie nach Mitteleuropa, auf den Balkan und in die Türkei, wo sie von Niederschlägen ausgewaschen wurden. In der Folge maßen Physiker vielerorts erhöhte Radioaktivität, und radioaktive Elemente reicherten sich in Böden, Pilzen oder Wildfleisch an. Vor dem Verzehr bestimmter Nahrungsmittel wurde gewarnt.

Satellitenbild des Wetters über dem Pazifik | Die Daten und Wetteraufnahmen der japanischen Wetterbehörde zeigen, dass in den nächsten Tagen meist ablandige Windströmungen vorherrschen. Radioaktiver Fallout würde also auf das Meer geblasen.
Befürchtungen vor einem ähnlichen Szenario werden auch jetzt wieder wach – unabhängig davon, ob Fukushima I tatsächlich explodiert ist oder ob die Detonation auf den äußeren Mantel des Reaktorblocks beschränkt war, wie es momentan offizieller Standpunkt der japanischen Regierung ist und was die aktuellen Strahlungswerte auch andeuten. In diesem Fall steht noch die Stahlhülle mit dem eigentlichen Kern des Meilers: den Brennstäben. Sollte es allerdings in Fukushima I oder einem der anderen Kernkraftwerke, in denen noch gegen den Ausfall der Kühlsysteme gekämpft wird, wirklich zu einem Super-GAU und der Freisetzung großer Mengen an radioaktiven Elementen kommen, so könnte die momentane Wettersituation zumindest das Schlimmste an Land verhindern helfen.

Laut dem Deutschen Wetterdienst (DWD) liegt Japan im Einflussbereich eines Tiefdruckgebiets, dessen Kern sich nordöstlich der Nordinsel Hokkaido erstreckt. Da es sich gegen den Uhrzeigersinn dreht, strömen die Winde im kritischen Bereich über der betroffenen Insel Honshu aus westlicher Richtung und blasen daher die Luftmassen – inklusive eines möglichen Fallouts – hinaus auf den offenen Pazifik.
Mehr zum Thema finden Sie auf unserer Sonderseite"Erdbeben und Reaktorunglück in Japan".
Dazu passt, dass auf einem US-amerikanischen Flugzeuträger vor der Küste erhöhte Radioaktivität gemessen wurde. Sie stammt wahrscheinlich aus dem Dampf, den die Kraftwerksbetreiber aus dem Reaktor abgelassen haben, um den Druck in seinem Kern zu senken. Möglich ist auch, dass bei der Explosion radioaktiver Dampf aus dem Zwischenraum zwischen äußerer Hülle und innerem Kern freigesetzt wurde.

Das Tief bei Hokkaido zieht im Lauf des Tages weiter nach Nordosten Richtung Beringstraße und wird abgelöst von einem neuen Tiefdruckkomplex, der sich gerade im Pazifik entwickelt. Kurzzeitig wird dann der Wind laut DWD auf Nord bis Nordwest drehen, so dass radioaktive Partikel tatsächlich auch Tokio und südliche Inselregionen erreichen könnten.

Diese Phase erscheint gegenwärtig für die Menschen in der Multimillionenmetropole am kritischsten: Laut den Modellrechnungen der Wiener Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik bläst der Wind radioaktive Wolken direkt auf die japanische Hauptstadt zu, bevor er sich südlich davon wieder etwas dreht und dann auf das Meer hinausweht. Die Meteorologen erwarten dabei relativ geringe Windgeschwindigkeiten, so dass die Luftmassen relativ lange über dem Ballungszentrum verweilen. Ab Dienstagnachmittag könnte es dann auch regnen, so dass vorhandene radioaktive Partikel ausgewaschen würden – für die Fachleute das momentan denkbar ungünstigste Szenario.

Ab Dienstagabend sollen die Winde laut DWD wieder ablandig wehen und Schadstoffe über dem Meer verteilen – eine Wetterlage, die bis in die zweite Wochenhälfte anhält. "Kräftige Winde sorgen dabei für eine gute Durchmischung der Atmosphäre", meint Martin Jonas vom DWD. Dadurch sollten sich keine größeren Konzentrationen an radioaktiven Partikeln herausbilden.

Im weiteren Verlauf driften diese Luftmassen in Richtung Alaska: "Allein für diese Strecke braucht die Luft etwa eine Woche", prognostiziert Jonas. Von dort ziehe sie über Kanada teils in Richtung Grönland, teils in die Vereinigten Staaten, wobei sich die Luft zunehmend weiter vermischt. Auch zeigen die Trajektorien – die Linien, entlang deren sich die Luftmassen verlagern –, dass die Luftpakete auf ihrem langen Weg nach Osten in einem Tief auf mehrere 1000 Meter Höhe angehoben werden.

Dadurch verteilen sich die Verunreinigungen noch weiter in der Atmosphäre, und sie werden mit den Niederschlägen auch zumindest teilweise ausgewaschen. Bis sie Deutschland nach etwa 12 000 Kilometern erreichen, dürfte der radioaktive Fallout – so es denn überhaupt zu einer größeren Freisetzung kommen sollte – so weit verdünnt sein, dass er nur noch mit empfindlichen Messgeräten wahrgenommen wird. Der kürzere Weg gen Westen über Asien nach Europa ist bei den momentan herrschenden Wetterbedingungen ohnehin ausgeschlossen.

Schneller ginge es ebenso über den Jetstream – den Hochgeschwindigkeits-"Strahlstrom" konzentrierter Luftmassen in der oberen Troposphäre, die mit bis zu 540 Kilometer pro Stunde in den mittleren Breiten um die Erde rasen. Die Explosion von Fukushima I war jedoch viel zu schwach, um Material bis in zehn oder zwölf Kilometer Höhe zu pusten. Das Material kann also allenfalls von bodennahen Luftströmungen erfasst werden. Selbst wenn der Kern schmilzt und der Reaktor heftiger explodiert – etwa weil sich Wasserstoff entzündet –, schleudert es das radioaktive Material nicht bis in den Jetstream empor. Denn diese Detonation ist keinesfalls mit der Sprengung einer Atombombe vergleichbar, die eine entsprechende Höhenwirkung hätte.

Zum einen verwenden Kernreaktoren Brennstäbe, die entweder nur wenig angereichertes Uran-235 und große Mengen Uran-238 beinhalten, während Atombomben zu 80 Prozent aus Uran-235 bestehen. Oder sie verwenden Mischoxid-Brennstäbe aus Uran- und Plutoniumoxiden, die ebenfalls nicht angereichert sind wie in Kernwaffen. Die Konzentration der Kernbrennstoffe fällt also viel zu niedrig aus, um den hochenergetischen Neutronenfluss zu erzeugen, der eine explosive Kettenreaktion in Gang setzt. Die Gefahr einer verheerenden Explosion wie bei einer Atombombe ist also nicht gegeben. Stattdessen schmelzen die Metalle bei 2700 Grad Celsius, wenn sie nicht mehr ausreichend gekühlt werden – so wie es möglicherweise bereits geschehen ist. Diese Schmelze kann sich durch den Reaktorboden ins darunterliegende Erdreich fressen, ihr Weg endet aber nach etwa 10 bis 20 Metern.

So tragisch die Ereignisse in Japan sind: Für Deutschland besteht durch den nuklearen Notstand vor Ort momentan keine akute Gefährdung – im Gegensatz zum nur 1400 Kilometer entfernten Tschernobyl befindet sich Fukushima I tatsächlich zu weit weg.

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