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Supraleitung: Jahrhunderträtsel für Physiker

Vor 100 Jahren entdeckte der Niederländer Heike Kamerlingh Onnes die Supraleitung. Doch noch wartet die verlustfreie Stromleitung auf ihren großen technischen Durchbruch.
Stromleitungen
Universität Leiden im April 1911: Der Physiker Heike Kamerlingh Onnes lässt seine drei Mitarbeiter mehrmals nachmessen, denn er ist überzeugt, dass es sich um einen Messfehler handeln muss. Aber es ist keiner. Alle elektrischen Kontakte sitzen richtig, und die Apparatur gaukelt keine irrealen Messergebnisse vor. Schließlich, am 8. April, notiert er: "Quecksilber praktisch null." Die Notiz markiert den Anfang eines der größten Rätsel der Physik.

Vor 100 Jahren waren Kamerlingh Onnes und seine Kollegen weltweit die einzigen Menschen, die Helium so weit abkühlen konnten, dass es flüssig wurde. Das öffnete ihnen eine Spielwiese für damals einzigartige Experimente bei nur wenigen Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt, der bei minus 273 Grad Celsius liegt. Im April 1911 untersuchten sie beispielsweise, wie der elektrische Widerstand von hochreinem Quecksilber parallel zur Temperatur sinkt.

Diese Frage, was mit dem Widerstand in der Nähe des absoluten Temperaturnullpunkts passiert, interessierte theoretische Physiker brennend: Einige dachten, der Widerstand würde bis zu einem bestimmten Wert fallen und dann bis zum Temperaturnullpunkt konstant bleiben, andere dachten, er würde bei dessen Erreichen ganz verschwinden. Onnes' Experiment deutete an, dass beide Parteien sich irrten. Schon etwa vier Grad Celsius über dem absoluten Nullpunk fiel der Widerstand abrupt auf null. Die Leidener Physiker hatten ein neues, mysteriöses Phänomen entdeckt: die Supraleitung.

Enorme Konsequenzen

Die Konsequenzen für die Technik konnten enorm sein, wie Kamerlingh Onnes schnell erkannte. Denn ein Abkühlen auf ein paar Grad über dem absoluten Nullpunkt war technisch möglich, also würden sich Stromkabel aus supraleitendem Material so weit kühlen lassen, dass sie Strom verlustfrei leiten.

In der Folgezeit entdeckten die Niederländer weitere Materialien, die bei extremer Abkühlung die magische Eigenschaft zeigten, etwa Blei oder Zinn. Onnes baute zum Beispiel ein supraleitendes Bleikabel und setzte einen Stromfluss darin in Gang. Ein Jahr später floss der Strom immer noch, ohne messbare Abschwächung.

Solche Phänomene kamen Wissenschaftlern des frühen 20. Jahrhunderts wie Zauberei vor. Selbst damalige Physikstars wie Albert Einstein oder Werner Heisenberg scheiterten daran, die Supraleitung zu erklären. Das gelang erst 1957 den drei US-amerikanischen Physikern John Bardeen, Leon Cooper und John Schrieffer. Nach ihrer so genannten BCS-Theorie verbinden sich die Elektronen in Supraleitern bei Unterschreiten einer kritischen Temperatur zu Paaren, den Cooper-Paaren. Sie ziehen sich auf ähnliche Weise an wie zwei Personen in einem Wasserbett. Die eine verursacht eine Kuhle im Bett, in die die andere hineinrutscht. Analog dazu verzerrt ein Elektron durch seine negative Ladung das positiv geladene Kristallgitter des Supraleiters. Das zweite Elektron wird von dieser Deformation angezogen, und das Cooper-Paar entsteht.

Von Cooper-Paaren zum LHC

Die Elektronenpaare haben die Fähigkeit, sich mit allen anderen Cooper-Paaren im Supraleiter zu einer Art Superelektron zu verbinden. Dieses erstreckt sich dann über den gesamten Supraleiter. Ein einzelnes Elektron kann nicht aus dem Kollektiv ausbrechen – es verliert quasi seine Individualität und befindet sich nicht mehr an einem bestimmten Ort. Daher kann es auch nicht an einer bestimmten Stelle des Supraleiters mit einer Unregelmäßigkeit im Kristallgitters zusammenstoßen. Solche Stöße sind die Ursache elektrischen Widerstands – ohne sie erfolgt der Stromtransport verlustfrei.

Dieser einzigartige Vorteil wird heute technisch genutzt – vor allem zum Erzeugen von besonders starken und stabilen Magnetfeldern mit Hilfe von supraleitenden Spulen. Herkömmliche Spulen erzeugen durch ihren elektrischen Widerstand Abwärme und verlieren so Energie; durch die supraleitende Spule hingegen fließt ein einmal angestoßener Strom oft monatelang.

Ihren breitesten Einsatz finden supraleitende Magnete mittlerweile in der Medizin, besonders in der Magnetresonanztomografie. Ihre starken Magnetfelder kommen zudem in vielen Forschungslabors zum Einsatz: Zum Beispiel zwingen sie im weltgrößten Teilchenbeschleuniger LHC am europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf Protonen auf ihre Kreisbahn.

Leider noch nicht alltagstauglich

Ansonsten spielen Supraleiter im Alltag jedoch noch kaum eine Rolle. Dies, so betonen Forscher oft, würde sich radikal ändern, wenn es Materialien gäbe, die bei Raumtemperatur supraleitend sind. Der Aufwand durch das Kühlen mit Flüssighelium oder -stickstoff fiele dann weg. Stromleitungen mit derart hoher Kapazität könnten etwa Solarstrom verlustfrei von der Sahara nach Europa bringen; Transformatoren, Motoren und Generatoren ließen sich leichter und kleiner bauen und würden mit weniger Energieverlust arbeiten.

Bis in die 1980er Jahre waren Raumtemperatursupraleiter undenkbar. Die höchste Temperatur, bei der ein Material noch supraleitend war, lag bei etwa minus 250 Grad Celsius. Doch 1987 entdeckten die Physiker Karl Müller und Johannes Bednorz eine Substanz, die bei einer deutlich höheren Temperatur noch supraleitend war. Die darauf folgende Suche nach ähnlichen Materialien führte zur Entdeckung einer neuen Klasse von Supraleitern: die so genannten Kuprate, Kupferoxid enthaltende Keramiken, die als Hochtemperatursupraleiter bis hinauf auf etwa minus 150 Grad Celsius supraleitend sind.

Supraleitung im "Warmen"

Sie sind also noch nicht perfekt, schicken sich jedoch bereits an, die Vision Kamerlingh Onnes' von einer supraleitenden Stromversorgung zumindest teilweise zu erfüllen. Denn sie werden schon durch Kühlung mit flüssigem Stickstoff supraleitend, der wesentlich günstiger herzustellen ist als Flüssighelium. Weil manche zentralen Stromleitungen von Metropolen überlastet und Wegerechte für neue Leitungen teuer sind, wollen die Energieversorger auf diese Weise durch die vorhandenen unterirdischen Leitungen mehr Strom pressen, indem sie supraleitende Kabel aus bestimmten Kupraten verwenden, die bei gleichem Querschnitt bis zu fünfmal so viel Strom leiten wie herkömmliche Kabel.

Dieser Fortschritt hat allerdings seinen Preis: Die Kabel sind aufwändig herzustellen und müssen unter Energieaufwand gekühlt werden. Das lohnt sich nur in wenigen, besonders belasteten Stromtrassen, wie in Kopenhagen, wo ein supraleitendes Kabel getestet wurde. Und in Amsterdam soll nun ein mehr als sechs Kilometer langes Kabel für den Dauereinsatz installiert werden.

Raumtemperatursupraleiter schließlich wären solchen Einschränkungen nicht unterworfen. Ihre Entwicklung stagniert allerdings seit Jahren, denn die höchste Sprungtemperatur liegt immer noch bei etwa minus 130 Grad Celsius. Das Problem liegt in der unterschiedlichen Funktionsweise von herkömmlicher und Hochtemperatursupraleitung, die sich die Physiker noch nicht erklären können. Mangels schlüssiger Theorie für die "warmen" Stromleiter fehlt den Forschern quasi der Kompass.

Kompass für die Kompassnadeln fehlt

Zwar bilden sich auch in den Kupraten Cooper-Paare, aber sie werden nicht durch Verzerrungen des Kristallgitters zusammengehalten – wodurch dann, darüber rätseln Physiker bis heute. Von mehreren Erklärungsmodellen wird zwar eines favorisiert, bewiesen ist es aber nicht, und die Debatte dauert an. Bei dem bevorzugten Modell werden die Elektronenpaare von so genannten Spinfluktuationen zusammengehalten. Die Atome in dem Material sind magnetisch und bilden gewissermaßen ein dreidimensionales Gitter winziger Kompassnadeln. Bewegt sich ein Elektron durch das Gitter, werden diese "Kompassnadeln" abgelenkt, während ein zweites Elektron von der resultierenden Ungleichmäßigkeit in der Magnetisierung des Gitters angezogen wird. Der Mechanismus ist also analog zum oben beschriebenen Wasserbetteffekt.

"Es deutet einiges darauf hin, dass Spinfluktuationen gewissermaßen der Klebstoff für die Cooper-Paare in Hochtemperatursupraleitern sind", sagt Lambert Alff von der Technischen Universität Darmstadt. Vor zwei Jahren hätten deutsche Physiker ein Set von Proben mit unterschiedlichen Methoden untersucht und dabei übereinstimmend Hinweise auf Spinfluktuationen als "Klebstoff" gefunden [1].

Allerdings gibt es neue experimentelle Hinweise darauf, dass die Spinfluktuationen zumindest nicht der alleinige Kleister zwischen den Elektronen sind. So haben japanische Forscher einen Hochtemperatursupraleiter mit Fotoemissionsspektroskopie untersucht und dabei Hinweise auf so genannte Orbitale Fluktuationen als Paarungsmechanismus gefunden [2]. Schweizer Forscher entdeckten jetzt außerdem winzige Kreisströme im Innern von Kupraten, die sich durch das Springen von Elektronen zwischen Kupfer- und Sauerstoffatomen ergeben. Auch sie könnten an der Bildung von Cooper-Paaren beteiligt sein [3].

Und noch eine Alternative

Die japanischen Forscher hingegen untersuchten kein Kuprat, sondern einen Vertreter einer zweiten Klasse von Hochtemperatursupraleitern, die erst vor drei Jahren entdeckt wurde, die so genannten Pniktide. Sie haben einen ähnlichen Aufbau wie die Kuprate, enthalten jedoch statt Kupferoxiden Eisenverbindungen. Ihre Entdeckung löste einen neuen Forschungsboom aus, da man hoffte, mit ihrer Hilfe die Hochtemperatursupraleitung besser zu verstehen. "Diese neue Klasse könnte neue Möglichkeiten bieten, Supraleiter herzustellen, die bei praktikablen Temperaturen operieren", schwärmte damals Eric Hand, Redakteur bei "Nature".

Mancher Forscher bleibt indessen skeptisch. "Auch wenn eines Tages ein Raumtemperatursupraleiter entdeckt wird, heißt das noch lange nicht, dass er praxistauglich sein wird", dämpft Robert Cubitt vom Institut Laue-Langevin (ILL) in Grenoble die Erwartungen. Denn durch den Supraleiter fließender Strom kann die erwünschte Eigenschaft zerstören: Er setzt im Material dünne Magnetfeldschläuche in Bewegung, was elektrischen Widerstand verursacht. "Der heilige Gral der Supraleitung ist nicht nur, ein Material zu entdecken, das bei Raumtemperatur supraleitend wird. Wir benötigen eines, bei dem die Magnetfeldschläuche festgehalten werden können, so dass ein großer Strom fließen kann", so Cubitt. Dies gelingt zwar bei tiefen Temperaturen, aber ein Experiment, das Cubitt am ILL durchführte, legt nahe, dass sich dieser Wunsch bei Raumtemperatur zumindest schwerer erfüllt.

"Mit den derzeit bekannten Materialien wie Kupraten und Pniktiden kann keine Supraleitung bei Raumtemperatur erreicht werden", sagt Rudolf Hübner von der Universität Tübingen. Dies sei aber auch gar nicht so wichtig, findet er. Denn flüssiger Stickstoff sei ein "technisch sehr akzeptables Kühlmittel". Eine größere Hürde stellen Hübner zufolge die mechanischen Eigenschaften der neuen Materialien dar: Als Keramiken sind sie spröde und bei Weitem schlechter zu verarbeiten als Metalle. Auch 100 Jahre nach ihrer Entdeckung dürfte der große Durchbruch für die Supraleiter also noch eine Weile auf sich warten lassen.

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  • Quellen
[1] Dahm, T. et al.: Strength of the spin-fluctuation-mediated pairing interaction in a high-temperature superconductor. In: Nature Physics 5, 217–221, 2009
[2] Shimojima, T. et al.: Orbital-Independent Superconducting Gaps in Iron-Pnictides. In: Science 10.1126/science.1202150, 2011
[3] Scagnoli, V. et al.: Observation of Orbital Currents in CuO. In: Science: 0.1126/science.1201061, 2011

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