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Phänomenologie des Sehens

Wer seinem Nächsten tief in die Augen blickt, sieht geradewegs in dessen Gehirn. Die Sinneszellen der Retina sind der einzige Teil des menschlichen Denkorgans, der bis an den äußeren Rand des Körpers vordringt, nur durch Hornhaut und Augapfel von der Umwelt getrennt.
Wer seinem Nächsten tief in die Augen blickt, sieht geradewegs in dessen Gehirn. Die Sinneszellen der Retina sind der einzige Teil des menschlichen Denkorgans, der bis an den äußeren Rand des Körpers vordringt, nur durch Hornhaut und Augapfel von der Umwelt getrennt. Auch in unserem subjektiven Erleben spielt das "Augenlicht", die Metapher schlechthin für Erkenntnisfähigkeit, eine Sonderrolle: Von allen Sinnen ist uns das Sehen der teuerste. Nicht hören, schmecken oder riechen zu können, erscheint den meisten Gesunden jedenfalls längst nicht so schlimm wie die Vorstellung, die Welt um sie herum könnte in ewiger Dunkelheit versinken.

Doch Sehen – das macht Oliver Sacks in seinem neuen, elften Buch deutlich – ist kein Alles-oder-nichts. Der berühmteste Neurologe der Welt schildert die verschlungenen Pfade der visuellen Verarbeitung, angefangen bei den Zapfen und Stäbchen des Auges bis hin zur Sehrinde im Kortex; besser gesagt, er zeigt, was auf diesem langen Weg alles schiefgehen kann.

Sieben Fallgeschichten, sieben Schicksale führen uns auf ganz unterschiedliche Weise die enorme Bedeutung des Sehens für unser Leben vor Augen. Wir begegnen Lilian, der Pianistin, die auf Grund einer Zelldegeneration in höheren Arealen ihres visuellen Kortex die Bausteine der Welt nicht mehr zusammensetzen kann. Und dem Geschäftsmann Oscar, der eines Tages die Fähigkeit zu lesen verliert. Sacks skizziert auch die Folgen, die Blindheit auf andere Sinne und geistige Fähigkeiten hat – etwa in Form gesteigerten Tastempfindens oder einer ans Halluzinatorische grenzenden Vorstellungskraft. Allerdings beschränkt er sich weit gehend darauf, Bericht zu erstatten.

Der Mediziner schildert die eigentümlichen Störungen seiner Patienten und wie diese damit in ihrem Alltag umgehen; nur sehr selten forscht er nach den tieferen Ursachen der neurologischen Ausfallerscheinungen. Die bloße Tatsache, dass Probleme mit den Augen, der Sehbahn und im visuellem Kortex zu allerlei eigenartigen Wahrnehmungsphänomenen führen können, ist freilich nicht weiter verwunderlich. Diese nur zu referieren, macht deshalb noch nicht plausibel, warum "die visuelle Welt weitaus komplizierter ist, als wir es uns vorstellen".

Zu oft tritt Sacks hinter sein medizinisches Knowhow zurück und reicht die Probleme und Beobachtungen seiner Patienten vermeintlich ungefiltert und unkommentiert an den Leser weiter. Sollte ein Neurologe nicht schon von Berufs wegen danach streben, die Wurzel des Übels zu finden und wenn möglich zu beheben? Sacks kümmert das offenbar wenig. So bleibt der Erkenntniswert der Geschichten weit geringer, als er sein könnte. Der mit rund 60 Seiten längste, knapp ein Viertel des Buchs füllende Fallbericht ist der von Sacks’ eigenem Leiden – das Tagebuch seiner Krebserkrankung. Im Dezember 2005 sieht er bei einem Kinobesuch auf einmal merkwürdige Flecken und Muster. Die ärztliche Untersuchung bestätigt die schlimmsten Vermutungen: In seinem rechten Auge wächst ein bösartiger Tumor. Es folgen visuelle Ausfälle, verzerrte Wahrnehmungen; Sacks’ geordnete Welt gerät ins Wanken, wie er eindrucksvoll schildert. Die schließlich geglückte Operation markierte nicht nur einen Neubeginn im Leben des heute 78-jährigen Autors, sondern gab wohl auch den eigentlichen Anlass für dieses Buch über das Sehen. Nicht unbedingt sein bestes, aber das persönlichste.

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  • Quellen
Gehirn&Geist 5/2011

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