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Zukunft der Menschheit: Zweifelhafte Annahmen schärfen Bevölkerungsbombe

Zehn Milliarden Menschen sollen bis 2100 auf der Erde leben - meinen die Vereinten Nationen. Der britische Journalist und Bevölkerungsexperte Fred Pearce widerspricht. Teil 8 der Serie "Zukunft der Menschheit".
Menschenmassen
Die neuesten globalen Bevölkerungsprognosen der Vereinten Nationen behaupten, dass bis zum Ende des Jahrhunderts 10,1 Milliarden Menschen die Erde besiedeln werden – eine Milliarde mehr, als bislang vorhergesagt wurde. Schon mahnen einzelne Stimmen, dass die Bevölkerungsbombe wieder lauter tickt. Ein genauerer Blick auf die Annahmen, auf denen dieses Szenario der UNO basiert, zeigt jedoch, dass diese verdreht und widersprüchlich sind. Sie sehen tatsächlich eher nach einem politischen Konstrukt denn nach einer wissenschaftlichen Analyse aus.

Gesellschaft 3.0 | Bevölkerungswachstum, Ernährung, Überalterung, Immigration und Integration: Wir leben in einer Zeit großer gesellschaftlicher Veränderungen. Spektrum der Wissenschaft und spektrumdirekt stellen im Heft und online aktuelle Forschungsansätze zu den wichtigsten Herausforderungen vor.
Das neue Zahlenwerk vermerkt, dass sowohl die gegenwärtige Weltbevölkerung als auch die weltweiten Fertilitätsraten kleiner sind als die Werte, die in der letzten Berechnungen vor zwei Jahren angenommen wurden. Dagegen schätzen die UN-Experten nun, dass die zukünftigen Zuwächse größer ausfallen als noch 2009 vermutet wurde. Dieser Kontrast steht im Mittelpunkt des Problems.

Verursacht wird dieses paradoxe Ergebnis scheinbar durch eine willkürlich veränderte Annahme bezüglich der zukünftigen Fruchtbarkeitsraten, die eine ordentliche – und schnelle – offizielle Erklärung verlangt. Viele Konzepte, wie der wachsenden Zahl an globalen Herausforderungen wie Klimawandel oder Nahrungsmittelversorgung begegnet werden soll, gründen auf den demografischen Prognosen der Vereinten Nationen. In den letzten Jahren wurde eine Fülle an wissenschaftlichen Studien veröffentlicht, wie sich denn neun Milliarden Menschen ernähren ließen. Bald dürften diese Annahmen überarbeitet werden, ob uns dies auch bei zehn Milliarden Bewohnern gelänge.

Uns gelingt es momentan ganz gut, die Bevölkerungsbombe zu entschärfen. Heute bringen Frauen weltweit durchschnittlich nur noch halb so viele Babys auf die Welt wie ihre Großmütter. Die globale Fruchtbarkeitsrate fiel von 4,9 Kindern pro Frau in den 1960er Jahren auf 2,45 in der Zeit zwischen 2010 und 2015 – vor zwei Jahren hatte die UNO noch 2,49 Kinder prognostiziert.

Dieser Trend ist nahezu allgemein gültig. Da sich Kinderkrankheiten wie Masern oder Infektionen wie Tetanus dank Schutzimpfungen auf dem Rückzug befinden, erreichen zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die meisten Kinder das Erwachsenenalter. Wegen dieser Verbesserung vervierfachte sich die Weltbevölkerung im letzten Jahrhundert. Mittlerweile reagieren Frauen auf die sinkende Kindersterblichkeitsrate, indem sie weniger Nachwuchs bekommen.
Im Herbst soll der siebenmilliardste Mensch geboren werden. Aus diesem Anlass berichtet spektrumdirekt in einer mehrteiligen Serie über die "Zukunft der Menschheit" und ihre Chancen wie Probleme, die sich durch die wachsende Zahl an Erdenbürgern ergeben.

Die übrigen Teile der Serie finden Sie unter:
spektrumdirekt.de/zukunft-der-menschheit
Dazu kommt die Urbanisierung: Afrikanische Kleinbauern benötigen Kinder als Arbeitskräfte, die Ziegen hüten oder auf dem Feld mithelfen. In der Stadt sind sie dagegen eher eine Bürde, die eigentlich eine jahrelange Ausbildung benötigen, damit sie Arbeit bekommen. Auch deshalb ist die Fertilitätsrate in Städten geringer.

Sinkende Fruchtbarkeitsraten bedeuten jedoch nicht automatisch gleich weniger Babys: Die Babyboomer sorgten im 20. Jahrhundert für einen demografischen Bauch. Heute sind sie selbst erwachsen – und bekommen eigene Kinder. Sobald sie aber altern – und falls die Geburtenraten weiterhin sinken –, verlangsamt sich das Bevölkerungswachstum und könnte sogar zurückgehen.

Die Schlüsselfragen sind, wie schnell und stark die Fertilität sinken wird. Denn die Vereinten Nationen merken an, dass bereits "kleine Veränderungen der Fruchtbarkeitsrate langfristig riesige Unterschiede bei der Bevölkerungszahl bewirken können". Deshalb sind die Annahmen, die in die neuen Berechnungen eingeflossen sind, von entscheidender Bedeutung.

Die von der UNO 2008 veröffentlichte mittlere Prognose schloss, dass die Weltbevölkerung von gegenwärtig 7 auf etwa 9,15 Milliarden Menschen Mitte des Jahrhunderts steigen und damit den Scheitelpunkt des Wachstums erreichen werde. Die neue Schätzung hat dagegen keinen Scheitel, sondern erreicht 9,3 Milliarden Menschen im Jahr 2050 und 10,1 Milliarden zum Ende des Jahrhunderts – ohne dass die Zunahme dann stoppt.

Bislang haben die Vereinten Nationen die genauen Gründe für diese Annahme nicht publiziert. Zusammen mit den Zahlen haben sie jedoch eine Reihe von Stellungsnahmen veröffentlicht, die darauf eingehen. Die Unterschiede gingen demnach vor allem auf nach oben korrigierte Vorhersagen zur Fertilität zurück – eine Korrektur, die nichts mit den gegenwärtigen Trends zu tun hat.

Viele Jahre lang rechneten Demografen damit, dass sich die weltweiten Fortpflanzungsraten unaufhaltsam auf die Zahl 2,1 Kinder pro Frau zubewegen – der Anzahl an Kindern, die eine wohlhabende Gesellschaft benötigt, um sich zu erhalten. In den letzten 30 Jahren sah es aber zunehmend danach aus, als ob dies zu hoch gegriffen wäre. In fast allen entwickelten Staaten sind die Geburtenraten unter diesen Schwellenwert gesunken. Trotz eines leichten Aufwärtstrends in den letzten Jahren liegt er in Europa unterhalb von 1,5.

Viele Länder Asiens und Südamerikas befinden sich auf dem gleichen Weg, weshalb die UNO vor knapp zehn Jahren ihren Endwert von 2,1 revidierte. 2003 beschloss sie unter der Ägide des Direktors Joseph Chamie der Weltbevölkerungsabteilung, dass ihre mittlere Projektion bei einem Wert von 1,85 enden sollte. Laut Chamie handelte es sich dabei um einen Kompromiss, denn ein Teil der Fachleute hatte für den Wert 1,6 plädiert, während andere die 2,1 beibehalten wollten. Letztere fürchteten, dass niedrige Angaben falsche Botschaften aussenden könnten, dass die Bevölkerungsexplosion ausfalle, sagte er damals.

Die letzte Prognose 2008 behielt die 1,85 bei, doch nun wurde sie wieder auf 2,1 heraufgesetzt – der Hauptgrund für den Sprung von 9 auf 10 Milliarden. Nun geht man davon aus, dass fruchtbare Länder nur bis auf die 2,1 abfallen werden, während sich andere Nationen daran von unten wieder annähern.

Doch ist das realistisch? Joel Cohen, Demograf an der Columbia University in New York, meinte 2002: "Es ist bislang kein Fall bekannt, in dem sich eine fruchtbare Nation dem Erhaltungsniveau seiner Bevölkerung angenähert und dort einfach verharrt hätte." Bislang trifft dies immer noch zu. Chamie sieht daher bislang keinen überzeugenden Beweis, der eine Rückkehr zum Wert von 2,1 rechtfertigen würde.

Die Vereinten Nationen rühmen sich, dass ihre neuen Berechnungen einen wesentlich probabilistischeren Ansatz in ihrem Modell berücksichtigen. Das ist gut. Aber die UNO macht deutlich, dass ihr Modell die zusätzliche Annahme beinhaltet, das Erhaltungsniveau werde langfristig erreicht. Mit anderen Worten: Der kritische neue Endwert 2,1 ist nicht das Ergebnis der Analyse – er wurde ihr von außen aufgedrückt. Und das sollten die Vereinten Nationen erklären.

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