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Stimmt das?: Ist die Zunge der stärkste Muskel des Menschen?

Ansichtssache, welches der stärkste Muskel unseres Körpers ist: Es streiten sich Kaumuskel und Po mit dem Herz und mehreren Kandidaten mit Außenseiterchancen. Der Titel für den flexibelsten und beweglichsten scheint allerdings vergeben.
Mann beißt herzhaft in einen Cheeseburger

Sie kann sich biegen und verdrillen, saugen und schlabbern: Unsere Zunge ist wie geschaffen für alle überlebenswichtigen bis spielerischen Augenblicke des Lebens. Eine Auszeichnung trägt sie jedoch, das vorweg, zu Unrecht. Denn der stärkste Muskel des Körpers ist sie nicht, auch wenn das gelegentlich behauptet wird. Zugegeben nicht ganz ohne Grund: Zungenexperten (ja, die gibt es) verraten, dass die falsche Antwort im Prinzip auch hätte richtig sein können.

Maureen Stone – sie arbeitet an der Maryland University School of Dentistry – vermutet hinter dem Mythos der superstarken Zunge die erstaunliche Ausdauer, mit dem der Muskel so subtile Vorgänge wie das Sprechen und Essen erledigt. Immerhin, wann hatten Sie schon einmal Muskelkater in der Zunge? "Wohl nie", meint Stone und erklärt, dass die Ausdauer des Muskels mit seinem charakteristischen Aufbau zu tun hat: Viele identische Partien können hier ein und denselben Vorgang verantworten. "Die Zunge ermüdet nicht, weil einiges an Redundanz in ihrer Muskelarchitektur steckt. Verschiedene Muskelfasern wechseln sich darin ab, bestimmten Aufgabe auszuführen."

Mehrere Muskeln in der Zunge

Der Sprechexperte Stephen Tasko von der Western Michigan University meint, die Frage nach der Zunge als "kräftigster Muskel" wäre ohnehin falsch gestellt, denn es handle sich bei dem platten Fleischklops um ein Konglomerat von nicht weniger als acht verschiedenen Muskeln. Anders als andere – etwa die des anatomisch halb falsch als Bizeps bezeichneten Armbeugers – bilden sich die Muskeln der Zunge nicht um einen Stützknochen. Stattdessen verdrehen sie sich umeinander und schaffen dabei eine flexible Matrix, die man als "muskuläres Hydrostat" bezeichnet: Ähnliche Strukturen sind die Fangarme von Kraken oder der Rüssel der Elefanten.

Vier Muskeln dieser Matrix (die "extrinsischen") verankern die Zunge im Kopf- und Nackenbereich: Einer hält Kontakt zur Schädelbasis, ein anderer zu einem Halsknochen im Hals, ein weiterer verbindet die Zunge mit dem Unterkiefer, und einer wickelt sich an den Gaumen. Alle zusammen ermöglichen die Bewegung von links nach rechts, von oben nach unten und von vorne nach hinten sowie umgekehrt.

Alle anderen Muskeln sind Teil des Zungenkörpers: Sie verleihen ihm die nahezu unbegrenzt scheinende Flexibilität, mit der sie sich verlängert und verkürzt, abflacht oder aufwölbt. Sie halten sie auch in der bei der Spracherzeugung oder dem Essen und Schlucken jeweils nötigen Form.

Die Zunge fügt sich als Muskel ohne Knochen extrem geschmeidig in allerlei Form und Gestalt, ohne dabei jedoch ihr Volumen zu verändern. Sie ähnelt, erklärt Tasko, "einem wassergefüllten Luftballon: Drückt man ihn an einer Seite ein, beult sie sich an anderer Stelle aus." Er vermutet übrigens, der Mythos der superstarken Zunge rühre von ihrer nimmermüden Flexibilität her: "Wir kennen und praktizieren doch alle ständig diese verschiedensten Zungengymnastikübungen – weil die Zunge ständig in Aktion und beweglich ist, kann man das leicht mit Stärke assoziieren."

Welche Kraft steckt in der Zunge?

Aber: Man kann den maximalen Druck, den die Zunge auf einen Gegenstand auszuüben in der Lage ist, recht einfach messen; etwa durch ein in den Mund appliziertes, luftgefülltes Messinstrument, das man in Fachkreisen als "Iowa oral performance instrument" kennt. Man führt es in den Mund ein und bittet Probanden, es möglichst kräftig mit der Zunge gegen das Gaumendach zu pressen. So misst man etwa die Kraftausdauer oder wie lange man die Zunge in einer bestimmten Position halten kann. Allerdings taugen diese Messungen ohnehin nicht, den Mythos der stärksten Zunge zu widerlegen, denn man misst hier ja ein ganzes Muskelsystem.

Bleibt also die Frage, welches denn nun der stärkste Muskel im Körper ist. Die Antwort darauf ist kompliziert – sie hängt unter anderem davon ab, was genau man eigentlich mit "stark" meint. In keinem Fall aber gewinnt am Ende die Zunge.

Stärke kann auf verschiedene Arten und Weisen gemessen werden. Nehmen wir zunächst reine "Kraft" – das, was man am besten mit den größten Muskeln erreicht. Sie bestehen aus einzelnen Muskelfasern und diese aus kleinen Krafterzeugungseinheiten, den Sarkomeren: "Verallgemeinert könnte man sagen: Je mehr Muskelmasse, desto mehr Sarkomere, desto größer die maximal mögliche Kraftentfaltung", fasst Tasko zusammen. So wäre dann der größte auch der stärkste Muskel, also etwa der Quadriceps im Oberschenkel oder der Gluteus maximus im Po.

Der kräftigste Muskel im Körper

Nun ist Muskelgröße und -kraft nicht alles: Muskeln ziehen an Knochen, die dann – je nach Muskelansatzstelle – als Hebel fungieren und die kleinräumigen Muskelkontraktionen zu weit ausholenden Bewegungen machen. Denken wir ans Hanteltraining: Hier wird ein schweres Gewicht über eine weite Distanz bewegt und dafür viel Muskelleistung benötigt, weil der Armbeuger ganz oben am Unterarm in Ellbogennähe ansetzt. Misst man solche anatomischen Systeme, so wird schnell der fürs Kauen zuständige Kiefermuskel zum Anwärter auf den stärksten aller Muskeln: Er kann über den kurzen Hebel des Kieferknochens einen Beißdruck von – hier schwanken die Angaben aus guten Gründen stark – vielleicht 800 Newton pro Quadratzentimeter ausüben. Nichts gegen die bissstärksten Tiere aller Zeiten, aber womöglich doch stark genug, ihn zum kräftigsten Muskel des Menschen zu küren.

Oder nicht, wenn man Ausdauer und Lebensleistung in die Gleichung einfließen lässt. So gesehen wäre dann sicher der am härtesten arbeitende Muskel der des Herzens, der tagaus, tagein den Blutkreislauf in Schwung hält und so auch alle anderen Muskeln des Körpers bis ans Lebensende mit Brennstoff versorgt.

Am Ende mag die Zunge schwächer sein als Po- und Kaumuskel oder das Herz – vielleicht ist sie aber das am besten zu trainierende Muskelpaket. Tasko weist etwa darauf hin, dass regelmäßiges Krafttraining für die Zunge womöglich positive Nebenwirkungen haben kann, etwa für Menschen mit Schluckbeschwerden oder Rekonvaleszenten nach einem Schlaganfall. Vielleicht nützt solches Training sogar – eine, so Tasko, zwar kontrovers diskutierte, aber nicht abwegige Theorie – gegen Wortbildungs- oder Sprechstörungen.


Eine Originalversion des Textes ist als "Fact or Fiction? The Tongue Is the Strongest Muscle in the Body" in "Scientific American" erschienen.

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