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Buchkritik zu »Die sieben Töchter Evas«

Als wir dieses Buch zur Rezension in die Hände bekamen, waren wir uns fast sicher, dass wir es verreißen würden, denn schon der Titel klingt unseriös (und ist es auch). Aber ganz so einfach ist es nicht – im Gegenteil! Bryan Sykes erzählt eine fesselnde Geschichte über ein ebenso aktuelles wie relevantes Kapitel der molekularen Evolutionsfor-schung, das in den vergangenen 15 Jahren zu wesentlich neuen Erkenntnissen über den Ursprung des modernen Menschen und die Besiedlungsgeschichte verschiedener Kontinente und Regionen geführt hat.Hauptdarsteller der Geschichte sind die Mitochondrien, genauer gesagt deren eigenes kleines Genom. Kinder erben die Mitochondrien (und damit deren DNA) ausschließlich von ihrer Mutter; das väterliche Spermium trägt nur einen Zellkern bei, die männlichen Mitochondrien hingegen bleiben bei der Befruchtung der Eizelle außen vor oder werden in der befruchteten Eizelle eliminiert. Die "Ahnentafel" des mitochondrialen Genoms ist also im Gegensatz zu der des Zellkerngenoms für jeden Menschen unverzweigt: Frauen wie Männer haben es jeweils von ihrer Mutter, die hat es von ihrer Mutter, und so weiter. So wie Geschwister eine gemeinsame Mutter und Vettern und Cousinen eine gemeinsame Großmutter haben, so gehen weiter entfernt verwandte Menschen auf eine (letzte) gemeinsame Urahnin zurück. Der Begriff der "Stammmutter" ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, denn er gilt in diesem Fall nur für das kleine Mitochondrien-Genom; obendrein ist in Sykes’ Abriss der menschlichen Evolution nur von dessen hypervariabler Region 1 (HVR-1) die Rede, einem kurzen Abschnitt der nicht-codierenden Kontrollregion. Der Löwenanteil des menschlichen Erbgutes liegt im Zellkern und ist ein Patchwork aus den Genomen zahlloser Ur-Ur-Ur…großmütter und -väter, deren Historie hier nicht betrachtet wird.Während der Vererbung ereignen sich in zufälligen Abständen Mutationen, die sich im Laufe der Zeit in einzelnen Linien ansammeln. Verwandtschaft äußert sich also in Sequenzähnlichkeit, und ausgehend von den DNA-Sequenzen der Jetztmenschen lassen sich ihre verwandtschaftlichen Beziehungen in Form eines Stammbaumes rekonstruieren (Spektrum der Wissenschaft 6/1992, S. 72). Sykes illustriert anhand etlicher spektakulärer Beispiele, welche überraschenden Befunde die mitochondrialen HVR-1-Sequenzen zu Tage brachten.Besondere Aufmerksamkeit erfährt einleitend die Besiedlung des polynesischen Archipels, die entgegen Thor Heyerdahls Theorie nicht von Nordamerika, sondern von Südostasien aus erfolgte. Hierfür sprachen bereits archäologische Befunde, nämlich Tonscherben der 2500 bis 3000 Jahre alten Lapita-Kultur, die in Polynesien und Mikronesien häufig sind und die auf etwa 6000 Jahre alte Kulturen in China und Taiwan zurückgehen.Weiter behandelt Sykes die Frage, ob es Überlebende der Zarenfamilie gibt (der Fall Anna Anderson), welche Identität "Ötzi" zuzusprechen ist und warum eine junge Lehrerin, deren Familie seit Jahrhunderten in England lebt, dieselbe mitochondriale DNA-Sequenz hat wie polynesische Frauen. Diese und andere Beispiele dienen zur Einstimmung auf die "Titelgeschichte", das genetische Erbe der heutigen Europäer. Nach der traditionellen Lehrmeinung, die vorwiegend auf archäologischen Befunden basiert, stammen wir von jenen Bauern ab, die vor etwa 10000 Jahren aus dem Nahen Osten einwanderten und die bis dahin in Europa ansässigen Jäger und Sammler verdrängten.Sykes (und andere!) sammelten nun überall in Europa Speichel- oder Blutproben für die Sequenzierung der mitochondrialen Kontrollregion HVR-1, und die anschauliche Beschreibung seiner Exkursionen durch verschiedene Regionen Englands sprüht vor Begeisterung – einer unentbehrlichen Zutat jedes Forschungsprojekts. Die Ergebnisse zeichnen ein erstaunliches Bild: Überall in Europa gibt es – in verschiedenen Häufigkeiten – sieben mitochondriale Sequenzgruppen, die untereinander näher verwandt sind als mit den entsprechenden Sequenzen aus Afrika, Asien oder Amerika. Aus der genetischen Diversität, das heißt der Anzahl der sich unterscheidenden Sequenzpositionen, innerhalb dieser sieben Gruppen lässt sich auf ihr jeweiliges Alter schließen, da man die Mutationsrate aus anderen Untersuchungen schon kennt. Sechs der sieben Gruppen sind sehr viel älter als 10000 Jahre – nur die siebte ist etwa 10000 Jahre alt. Und diese siebte ist im Nahen Osten deutlich häufiger als in Europa! Der Schluss liegt nahe: Nur die 20 Prozent der heutigen Europäer, die dieser siebten Sequenzgruppe angehören, stammen von den jungsteinzeitlichen Bauern ab, die aus dem Nahen Osten einwanderten. Die überwiegende Zahl der europäischen Jetztmenschen sind also direkte Nachkommen der altsteinzeitlichen Jäger und Sammler, die Ackerbau und Viehzucht von den Neuankömmlingen lernten, ohne ihnen jedoch weichen zu müssen. Auch ein direkter Beleg findet sich: Die DNA aus dem subfossilen Zahn eines Menschen, der etwa 7000 Jahre vor der Ankunft der Landwirtschaft in England lebte, fällt mitten in die größte der sieben heutigen Sequenzgruppen.Mit diesem Höhepunkt endet der wissenschaftliche Teil des Buches. Der Rest lebt im Reich der Fantasie. Bryan Sykes lässt die sieben "mitochondrialen Evas", die Urmütter der heutigen Sequenzgruppen, auferstehen und spekuliert über ihre Lebensumstände. Er gibt ihnen Namen und erfindet pittoreske Lebensgeschichten, so wie sie sich unter den klimatischen, geografischen und kulturhistorischen Gegebenheiten vor 45000 bis 10000 Jahren ereignet haben könnten. Der Leser schaut dem Feuersteinmetz über die Schulter, erlebt Glück und Pech der Wisentjagd mit, zittert in der klirrenden Kälte der Eiszeit, domestiziert Wölfe und ist schließlich bei der Entdeckung dabei, dass sich Grassamen aussäen lassen – die Anfänge der Landwirtschaft. Normalerweise haben solche rein fiktiven Geschichten weder in einem wissenschaftlichen noch in einem populärwissenschaftlichen Buch etwas zu suchen. Aber da hier Fakt und Fantasie so klar getrennt sind, ist es ausnahmsweise vielleicht doch erlaubt … Wir müssen zugeben, es liest sich gut.Das Buch ist eine faszinierende und treffend erklärte Kombination aus Ar-chäologie, Anthropologie und Molekularbiologie, die sich wie ein Krimi liest. Man merkt dabei kaum, wie viel man gleichzeitig aus diesem Zusammenspiel über die eigene Geschichte lernt. Das simplifizierte Bild von den sieben mitochondrialen Sequenzgruppen in Europa und den zugehörigen Urmüttern spiegelt die komplexe Wirklichkeit – und den heutigen Stand des Wissens – zwar nicht vollständig wider, trägt aber durchaus zum Verständnis der mitteleuropäischen Besiedlungsgeschichte bei. Der Titel des Buches ist als öffentlichkeitswirksames Schlagwort zu verstehen, denn die Gesamtheit der menschlichen Population stammt natürlich nicht nur von sieben Frauen ab.Leider gelingt es dem Autor nicht, seine zweifellos bedeutenden Beiträge zu dem umfangreichen Forschungsgebiet der menschlichen Populations- und Evolutionsbiologie angemessen einzuordnen. Er erweckt den Eindruck, als sei die ganze, groß gezeichnete Geschichte sein eigenstes Werk. Beiträge anderer Gruppen, wie die bahnbrechenden Befunde über die verwandtschaftlichen Beziehungen der Neandertaler zum modernen Cro-Magnon-Menschen, werden entweder im Passiv abgehandelt oder wie eigene Ergebnisse präsentiert. Die Namen seiner Fachkollegen zählt Sykes lediglich im Nachwort auf – aber dort ist es reichlich spät! Eine etwas bescheidenere Selbstdarstellung (und der Verzicht auf die Kompromittierung seiner wissenschaftlichen Widersacher) hätte dem Buch nicht geschadet.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 06/2002

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