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News: Opfergang

Genau 131 von ihnen gehen freiwillig in den Tod, damit 959 überleben können - so sieht die Bilanz bei den Zellen des Nematoden Caenorhabditis elegans aus. Die Entdeckung der genetischen Steuerung des programmierten Zelltodes bescherte drei Wissenschaftlern den Medizin-Nobelpreis 2002.
Er ist winzig klein – knapp einen Millimeter lang – und hat schon eine erstaunliche Karriere hinter sich: Der Fadenwurm Caenorhabditis elegans gilt unter Entwicklungsbiologen als eine der am besten untersuchten Tierarten.

Sein Siegeszug durch die Labore begann in den sechziger Jahren, als Sydney Brenner, der damals in Cambridge arbeitete, auf der Suche nach einem Organismus war, bei dem sich das Schicksal jeder einzelnen Zelle im Laufe der Embryonalentwicklung verfolgen lässt. Bis dahin war den Biologen bekannt, dass der wachsende Embryo über einen Anlagenplan verfügt, der festlegt, zu welchen Organen sich die einzelnen Bereiche des Embryos entwickeln. Dabei war auch schon klar, dass bestimmte Zellen bei der Embyronalentwicklung freiwillig in den Tod gehen. So sterben beispielsweise beim menschlichen Fötus Zellen an Händen und Füßen ab, damit sich Finger und Zehen herausbilden können. Der programmierte Zelltod – auch Apoptose genannt – gehört damit unabdingbar zum Leben.

Während sich durch Anfärbeexperimente die Embyronalentwicklung bei Wirbeltieren in groben Zügen verfolgen ließ, blieb immer noch unbekannt, warum welche Zelle zu welchem Zeitpunkt sich weiter teilt – oder zugrunde geht. Dafür ist die Anzahl der Zellen, aus denen bereits ein früher Embryo besteht, einfach zu groß.

Ganz anders sieht es jedoch bei Caenorhabditis elegans aus. Bevor Sydney Brenner das Würmchen als "Haustier" der Entwicklungsbiologe etablierte, interessierte sich kaum jemand für den Organismus, der im Gegensatz zu vielen parasitischen Nematodenarten freilebend vorkommt. Doch Brenner erkannte die Vorzüge dieses Fadenwurms: Er besteht aus nur wenigen Zellen, ist durch seine kurze Generationszeit leicht im Labor zu züchten und – er ist durchsichtig, was mikroskopische Beobachtungen erheblich erleichtert.

Bei seinen Experimenten konnte Brenner schließlich 1974 nachweisen, dass wichtige Schritte in der Embryonalentwicklung von C. elegans genetisch gesteuert werden: Sobald er die sich entwickelnden Wurmeier der mutationsauslösenden Substanz Ethylmethansulfonat aussetzte, lief die Organentwicklung gestört ab.

Auf den Arbeiten von Brenner baute John Sulston vom Sanger Centre in Cambridge auf. Ihm gelang es 1976, einen ersten Stammbaum aller Zellen von C. elegans aufzustellen. Demnach entstehen aus der befruchteten Eizelle exakt 1090 Körperzellen. Nur 302 von ihnen entwickeln sich beispielsweise zum Nervensystem weiter. Und genau 131 der 1090 Zellen sterben während der Embryonalentwicklung, sodass der ausgewachsene Wurm aus 959 Körperzellen besteht.

Sulston entdeckte auch das erste Gen, das an diesem Zelltod beteiligt ist: Das Gen nuc-1 codiert für ein Enzym, das die DNA der todgeweihten Zellen abbaut.

Den genauen Mechanismus der Apoptose konnte schließlich Robert Horvitz vom Massachusetts Institute of Technology 1986 aufklären. Dabei spielen vor allem zwei Gene, ced-3 und ced-4 (ced steht für cell death), eine entscheidende Rolle. Horvitz entdeckte, dass ohne diese Gene der programmierte Selbstmord nicht stattfindet.

Kontrolliert werden die Gene von einem weiteren Gen namens ced-9. Das Protein dieses Gens unterdrückt das Ablesen der Selbstmordgene – ced-9 ist damit für das Überleben der Zelle unabdingbar. Wird es selbst inaktiviert, können ced-3 und ced-4 in Aktion treten und ihr tödliches Programm starten.

Sind die Forschungen der drei Laureaten an sich schon interessant, wird es erst richtig spannend, wenn man die Parallelen zu uns Menschen sieht. Denn die Selbstmordgene erweisen sich als uraltes evolutionäres Erbe, die auch bei Homo sapiens ihr Werk vollbringen. So entspricht ced-4 dem menschlichen Apaf-1-Gen, das ebenfalls an der Apoptose beteiligt ist.

Und sobald der programmierte Zelltod durch Mutationen gestört ist, kann das in schweren Krankheiten enden. So gehen beispielsweise bei neurodegenerativen Erkrankungen, bei Schlaganfall oder bei Herzkrankheiten zu viele Zellen in den Tod, sodass die betroffenen Organe nicht mehr richtig arbeiten können. Doch auch ein gestopptes Selbstmordprogramm kann fatale Folgen haben. Versagt der Opfergang, lautet die Diagnose häufig: Krebs.

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