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Außer Kontrolle

Wenn von Zwangsstörungen die Rede ist, denken die meisten Menschen an jemanden, der sich permanent die Hände wäscht oder vor dem Verlassen des Hauses Dutzende Male kontrolliert, ob die Herdplatte ausgeschaltet ist. Doch die häufigste Form von Zwängen fällt äußerlich überhaupt nicht auf: Zwangsgedanken. Die Betroffenen fühlen sich ständig bösen, gefährlichen oder beschämenden mentalen Vorstellungen ausgeliefert. Und je mehr sie diese Gedanken abzuwehren versuchen, umso hartnäckiger drängen sie sich ihnen auf. Mehr und mehr treiben die Vorstellungsbilder die Patienten seelisch in die Enge – zumindest zeitweise sind fast alle selbstmordgefährdet.

Solche Zwangsgedanken versucht der US-amerikanische Psychologe Lee Baer in einem Behandlungszentrum in Massachusetts zu bekämpfen. Jetzt hat er einen Ratgeber herausgebracht, der allgemein verständlich aufklären und über Therapiemöglichkeiten informieren will.

Charakteristisch für Zwangsgedanken: Der Betroffene lehnt sie aus tiefster Seele ab. Einige davon besitzen sexuell-perverse Inhalte, etwa die Vorstellung von Geschlechtsverkehr mit Tieren, andere kreisen um Gewalt oder Blasphemie. Als Beispiel beschreibt der Autor den Fall eines Mannes, dem sich immer gerade diejenigen Dinge aufdrängten, die er zu diesem Zeitpunkt am meisten verabscheute: als Jugendlicher vor allem homosexuelle Vorstellungsbilder, später vermehrt rassistische Gedanken. Zuletzt entwickelte er eine so große Angst, sich an einem Tier sexuell zu vergehen, dass er nicht mehr das Haus zu verlassen wagte.

In dieser "Zweifelkrankheit" kommt eine grundlegende Unsicherheit über sich selbst und die Lauterkeit der eigenen Absichten zum Vorschein. Betroffen sind vor allem besonders gewissenhafte Menschen mit hohen Ansprüchen an sich selbst. Eine Depression erhöht die Wahrscheinlichkeit, Zwangsgedanken zu entwickeln. So bilden frisch gebackene Mütter, die unter Wochenbettdepressionen leiden, häufig aggressive Zwangsvorstellungen aus – etwa diejenige, das Kind beim Baden zu ertränken.

Manchmal sind die betroffenen Frauen dadurch so verängstigt, dass sie kaum noch ihr Baby anzufassen wagen. Dabei bedeuten gelegentlich und spontan auftauchende Zwangsvorstellungen für den neuen Erdenbürger noch keine tatsächliche Gefahr. Doch manchmal geht die Wochenbettdepression in eine Wochenbettpsychose über, und die kann sehr wohl zu einer Kindstötung führen. Auf diese Gefahr weist der Autor zwar hin, vergisst aber zu erwähnen, dass hier fachärztliche Hilfe notwendig ist.

Verhängnisvoller Teufelskreis Auch Gewalterfahrungen, insbesondere in der Kindheit, können später Zwangsgedanken auslösen. Der Autor beschreibt hier den Fall einer jungen Frau, die unter zahlreichen, quälenden Zwangsvorstellungen litt – darunter auch diejenige, ein kleines Kind während des Duschens sexuell zu missbrauchen. Während ihrer verhaltenstherapeutischen Behandlung sah sich die Patientin dann auf einmal selbst als kleines Kind, das beim Duschen sexuell missbraucht wurde. Danach war sie von dieser Zwangsvorstellung befreit.

Zur Frage, welche Theorien diese Phänomene erklären können, äußert sich Baer leider nur unsystematisch und unzureichend. Vor allem auf einige sehr spekulative, evolutionstheoretische Ansätze geht der Autor ausführlicher ein. Diesen zufolge sei das Entwickeln von Zwangsgedanken genetisch bedingt und habe in der Evolution einen Selektionsvorteil bedeutet. Das tiefenpsychologische Erklärungsmodell, demzufolge Zwangsgedanken ein tiefer liegendes Problem des Betroffenen in verzerrter Form ins Bewusstsein bringen, handelt er hingegen lediglich auf einer knappen Seite ab. Daraufhin stellt Baer seine eigene Theorie vor: Zwangsgedanken seien zufällige Abfallprodukte des Gehirns, die jeder Mensch von Zeit zu Zeit habe. Ein Zwangskranker reagiere jedoch höchst überempfindlich darauf und könne nicht akzeptieren, dass solche kurzzeitigen mentalen Vorstellungen keineswegs abnorm seien. Die Betroffenen würden ihrem Gehirn nicht zutrauen, solche spontanen Gedanken selbstständig unter Kontrolle zu halten, und wollten diese selbst übernehmen. Das erst würde den verhängnisvollen Teufelskreis aus beschämter Ablehnung und immer neuem Wiederkehren der verabscheuten Vorstellungen in Gang setzen.

Kritiker der Tiefenpsychologie Offensichtlich möchte Baer damit auch seine Patienten entlasten: Alle die bösartigen, widerwärtigen Gedanken und Vorstellungen hätten dann ja nichts mit seiner Person zu tun. Der Tiefenpsychologie wirft der Autor hingegen vor, dass sie die Menschen noch zusätzlich verunsichere. Denn ihr zufolge sage der Inhalt von Zwangsgedanken sehr wohl etwas über einen Menschen aus und könne helfen, seine tiefer liegenden Probleme zu verstehen.

Mehr als die Hälfte seines Buches widmet der Autor den Therapiemöglichkeiten. Anschaulich und praktisch nachvollziehbar beschreibt er verschiedene kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsansätze. Auch die unterschiedlichen Möglichkeiten, wie man diese Therapien medikamentös unterstützen kann, handelt Baer ab. Untermauert von ausführlichen Fallschilderungen gibt der Psychologe sinnvolle Anregungen zur Selbsthilfe, die erkennbar seiner reichen Praxiserfahrung entstammen. Allerdings erweckt er dabei den Eindruck, als ob diese Methoden immer zu einem vollen therapeutischen Erfolg führen würden. Wissenschaftliche Untersuchungen sprechen dagegen lediglich von mittleren Erfolgsraten.

Insgesamt liefert Lee Baers Buch einen guten Überblick über das Phänomen der Zwangsgedanken. Besonders die vielfältigen therapeutischen Anregungen machen es für Interessierte und Betroffene empfehlenswert.

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  • Quellen
Gehirn und Geist 6/2003

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