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Alpenpflanzen zum Blättern

Nun ist sie also endlich da, die lang erwartete "Flora Alpina". Das Werk besteht aus drei Bänden, wobei der dritte Band im Wesentlichen den Index der Pflanzennamen auf lateinisch, deutsch, französisch, italienisch, slowenisch und englisch beinhaltet.

Der spezielle Teil beginnt nach einer allgemeinen Einleitung (47 Seiten) im ersten Band. Wie bereits in der "Flora Helvetica" (Konrad Lauber, Gerhart Wagner; Haupt, Bern, 1996) werden pro Doppelseite vier Pflanzenarten anhand von Farbfotos am natürlichen Wuchsort vorgestellt. Bei wenigen extrem seltenen oder schwer zu bestimmenden Arten wird stattdessen ein Foto des Herbarbelegs gezeigt. Die gegenüberliegende Seite beinhaltet die Familienzugehörigkeit, den wissenschaftlichen Artnamen (mit Autor und Jahreszahl), Synonyme, den Pflanzennamen auf deutsch, französisch, italienisch, slowenisch und englisch. Dazu gibt es eine grobe Karte des Alpenbogens, in der die Vorkommen der jeweiligen Art nach politischen Bezirken flächig eingefärbt sind. Außerdem befinden sich hier verschlüsselte Angaben zu Lebensform, Wuchshöhe, Blütengröße, Blütezeit, Zeigerwerten, Höhenverbreitung und bevorzugter Pflanzengesellschaft.

Wer allerdings eine auf den gesamten Alpenraum erweiterte "Flora Helvetica" erwartet hatte, wird leider enttäuscht. Kern dieser Flora sind zwar ebenfalls die (bereits zu etwa zwei Dritteln bekannten) hervorragenden Pflanzenfotos von Konrad Lauber. Artbeschreibungen oder gar ein Bestimmungsschlüssel fehlen im Gegensatz zur "Flora Helvetica" aber völlig. Das Fehlen jeglichen Textes wird von den Autoren durch die "Vielsprachigkeit" des Buches entschuldigt. Leider hängen dadurch die Fotos völlig in der Luft. Das Werk ist somit kaum mehr als ein schöner Bildband und zur Pflanzenbestimmung wenig brauchbar.

Das Zurechtfinden in der "Flora Alpina" ist für Laien wie für den Kenner außerordentlich schwierig. Das liegt zum einen daran, dass der Index sich in einem dritten Extraband befindet, vor allem aber an der Umbenennung vieler wissenschaftlicher Pflanzennamen (zum Beispiel Barlia robertiana zu Hiemantoglossum robertianum) sowie die Aufteilung bisheriger Arten in zahlreiche neue Arten oder Unterarten. Es mag ja moderner Botanik gemäß korrekt sein zum Beispiel die Orchideengattung Nigritella (Kohlröschen) neuerdings in elf eigenständige Arten aufzuteilen. Ohne erläuternden Text, nur auf Grund von elf äußerst ähnlichen Fotos ist eine Zuordnung schlichtweg unmöglich. Dasselbe gilt für zahlreiche weitere Gattungen wie zum Beispiel Festuca (Schwingel) oder Taraxacum (Löwenzahn). Nur bei wenigen Arten, wie bei den Früchten der Feldsalat-Arten (Valerianella), sind zusätzlich Tuschezeichnungen wichtiger auf den Fotos nicht sichtbarer Merkmale vorhanden.

Die Verbreitungskarten zu den Arten sind nach politischen Grenzen (Bundesländer, Bezirke, Départements und so weiter) gegliedert, was sie sehr grob und ungenau macht. Da Alpenpflanzen meist die Gewohnheit haben, auf Bergspitzen zu wachsen und diese gleichzeitig oft politische Grenzen bilden, kann im Extremfall eine Pflanze, die nur ein Areal von wenigen Quadratkilometern eines Bergstockes besetzt, auf der Karte in drei politischen Bezirken von mehren hundert Kilometern Ausdehnung auftauchen. Besser wären – wie in der "Flora Helvetica" – Verbreitungskarten nach naturräumlichen Gesichtspunkten wie Bergzügen und Tälern gewesen, was aber wohl den Autoren für den gesamten Alpenraum zu aufwändig war.

Ein weiteres Problem ist die extrem eng gefasste Begrenzung des Alpenraums auf das eigentliche Hochgebirge. Die Voralpen unterhalb etwa 1500 Höhenmetern sowie die angrenzenden Tieflandbereiche wurden für die Artauswahl sowie in den Verbreitungskarten leider nicht berücksichtigt. So fehlen vor allem die pannonischen Arten des Wiener Beckens, die illyrischen Arten des slowenischen Karstlandes und die (sub-)mediterranen Arten der Provence, der Seealpen und Liguriens. Wer die entsprechenden Gebiete der Alpen bereist, möchte aber auch wissen, wie die Arten am Fuß der Berge heißen, wo er wahrscheinlich sein Quartier aufgeschlagen hat. Zudem kommt es zu erheblichen Verzerrungen in den Verbreitungskarten, wenn zum Beispiel eine Art, die im nördlichen Alpenvorland allgegenwärtig vorkommt, aber in den eigentlichen Nordalpen fehlt, deshalb nur für die Südalpen eingetragen ist.

Bereits bei der ersten Durchsicht sind mir drei Fehler aufgefallen: Die Fotos der Zarten Wicke (Vicia parviflora) zeigen eindeutig (Hülsen zweisamig statt fünf- bis sechssamig) Terrones Wicke (Vicia loiseleurii), die seltsamerweise trotz ihres zahlreichen Vorkommens in den Seealpen diesem Werk fehlt; statt des Echten Süßholz (Glycyrrhiza glabra) ist auf den Fotos das Igel-Süßholz (Glycyrrhiza echinata) Südosteuropas abgebildet; die Fotos des Strauch-Gamanders (Teucrium fruticans) zeigen eine vollkommen anders aussehende Gamander-Art, eventuell Teucrium marum. Solche Fehler, die auf Fehlbestimmung der Fotos, nicht auf Vertauschung zurückgehen, dürften in einem Werk mit einer solchen Autorenbesetzung eigentlich nicht vorkommen.

Zusammenfassend muss hier leider gesagt werden, dass das Werk für den interessierten Laien wenig geeignet ist. Er benötigt weiterhin die ganze Palette der Bestimmungsbücher, wenn er eine Pflanze benennen will. Interessant ist es als Zusatzliteratur für denjenigen, der sich intensiv mit der Alpenflora beschäftigt und die erwähnte Bestimmungsliteratur der einzelnen Länder bereits besitzt. Wen der Ausblick reizt, auch die seltensten Alpenpflanzen, selbst erst vor kurzem entdeckte Lokalendemiten wie Grigna-Primel (Primula grignensis) oder Reichsteins Seidelbast (Daphne reichsteinii), einmal auf hochwertigen Fotos zu sehen, für den ist dieses Werk genau richtig. Für alle anderen ist es ein zum intensiven Blättern einladender Bildband für lange Winterabende, der das hervorragende Lebenswerk Konrad Laubers zusammenfasst, aber mehr nicht. Ein Werk dieser Preisklasse, mit dieser Vorlaufzeit und einer solch erfahrenen Autorenbesetzung hätte es verdient gehabt, durch Hinzufügen von Artbeschreibungen und Bestimmungsschlüsseln zu einem unentbehrlichen Werkzeug für jeden Alpenpflanzeninteressierten zu werden. Schade.

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