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Wie ein offenes Buch

Sicher kennen Sie das: Man sitzt jemandem gegenüber, schaut ihm in die Augen und versucht zu ergründen, was er denkt und fühlt. Ist er zufrieden oder verärgert, findet er mich sympathisch oder nicht?

Dass wir mit unserer Einschätzung oft richtig liegen, hängt auch mit den Fähigkeiten bestimmter Nervenzellen in unserem Gehirn zusammen – den mysteriösen Spiegelneuronen. Diese Zellen wurden Ende der 1990er Jahre von den Italienern Vittorio Gallese und Giacomo Rizzolatti an der Universität Parma mehr oder minder zufällig entdeckt. Bei Hirnuntersuchungen mit Makaken hatten die Forscher festgestellt, dass einige Neurone im Stirnhirn nicht nur dann in Erregung gerieten, wenn die Tiere eine bestimmte Tätigkeit ausführten. Die gleichen Nervenzellen feuerten auch, wenn diese Aff en beobachteten, dass der Versuchsleiter oder ein Artgenosse sich über eine Erdnuss hermachte.

Nach weiteren Experimenten stand fest: Die Tiere konnten sogar die Absichten anderer erahnen, sobald diese entsprechende Bewegungen ausführten. Beim Menschen nun geraten diese Spiegelneurone schon dann in Erregung, wenn wir uns eine Handlung nur vorstellen – eine Fähigkeit, für die allerdings die im Gyrus cinguli liegenden Zellen früh und ausreichend trainiert werden müssen. Dies geschieht meist ganz automatisch im Säuglings- und Kleinkindalter, wenn Eltern und ihre Sprösslinge sich mit wachsender Begeisterung gegenseitig imitieren, Grimassen schneiden und anlachen.

Joachim Bauer, Internist, Psychiater und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, fasst nun in "Warum ich fühle, was du fühlst" die aktuellen Ergebnisse und Studien auf diesem jungen Forschungsgebiet zusammen. Er erklärt uns, warum emotionale Aspekte zwischenmenschlicher Kommunikation und spontane Anteilnahme ohne die geheimnisvollen Nervenzellen wohl gar nicht möglich wären. Bauer liefert auch viele interessante Denkanstöße: Wie würde etwa eine Welt aussehen, in der die Menschen sich nicht mit einem Blick verstehen würden, niemand mehr vor Schmerzen das Gesicht verzieht, weil jemand anderes sich den Fuß anstößt, oder herzhaft gähnt, weil es der Tischnachbar in der Kantine tut?

Der Autor macht darüber hinaus deutlich, warum es unseren Kindern schadet, wenn sie per Fernsehen oder Computerspiel zu viel Gewalt konsumieren: Die dort beobachteten Handlungen könnten unbewusst abgespeichert werden und stünden dann als eine neue Handlungsoption zur Verfügung. Natürlich müsste es nicht zur Ausübung kommen, erklärt der Autor, schließlich können wir unseren freien Willen als Bremse zwischen den speichernden Handlungsneuronen und den ausführenden Bewegungsneuronen nutzen.

Doch je öfter eine Handlung beobachtet würde, desto fester sei sie wahrscheinlich in den Spiegelneuronen verankert. Wer also mehr darüber wissen möchte, wie es das Gehirn möglich macht, die Gefühle unserer Mitmenschen in einer spontanen inneren Simulation selbst zu spüren, sollte einen Blick riskieren – es lohnt!

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  • Quellen
Gehirn und Geist 10/2005

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