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Architektur: Kodeknacker vertonen architektonische Ornamente

Gotischer Engel mit Notenblatt
Der steinerne Kode | Musik in Stein: Aus den Quadern an den Rippen der Gewölbebögen lasen die Kodebrecher die Noten für die Rosslyn Motette heraus. Dazu drückte ihnen der abgebildete Engel quasi den Notenschlüssel in die Hand.
Einen über 500 Jahre alten architektonischen Kode, mit dem ein Baumeister in einer gotischen Kapelle ein musikalisches Werk in Stein bannte, wollen Thomas und Stuart Mitchell nun geknackt haben. Die aus dekorativen Steinquadern des Deckengewölbes herauslesbare und rekonstruierte "Rosslyn Motette" wird am 18. Mai in der schottischen Kapelle uraufgeführt.

Verzierte Kästen an den Säulen und Bögen von Rosslyn Chapel sehen Thomas Mitchell, im Korea-Krieg als Kodebrecher tätig, und sein Musik lehrender Sohn Stuart als Partitur für insgesamt dreizehn Stimmen. Musizierende Engel an den Kapitellen der Säulen gaben den Schotten Aufschluss über die zu verwendenden Instrumente; der Zierrat der verschiedenen Gewölbebögen verschlüsselt nach ihrer Interpretation die Tonfolge für je einen Musiker.

Verzierte Steinquader | Die Verzierungen auf den ungewöhnlichen Steinquadern der gotischen Kapelle identifizierten die Mitchells als Chladni-Figuren. Jedem Kubus entspricht damit ein bestimmter Ton.
Zunächst sehr ungewöhnlich scheinende Symbole auf den Steinquadern deuteten die Mitchells zudem als Chladnische Klangfiguren. Solche Figuren entstehen, wenn Sand über eine vibrierende Platte tanzt. Jedes Muster ist charakteristisch für eine bestimmt Tonfrequenz. Bekannt gemacht hat diese Figuren Ende des 18. Jahrhunderts Ernst Chladni, der mit seinen "sichtbaren Tönen" selbst Napoleon entzückte. Die Mitchells glauben, dass Sir Gilbert Haye, einer der Erbauer von Rosslyn Chapel, das geheimnisvolle Wissen über die Klangfiguren im 15. Jahrhundert von einer Chinareise mit nach Europa brachte. Für einen großartigen Musiker halten die Forscher den Baumeister jedoch nicht: Die dechiffrierte Melodie klänge eher nach Kinderlied statt musikalischem Meisterwerk.

Chladni-Figuren | Chladni tourte durch Europa, um an den Höfen die Gesellschaft mit seinen Klangfiguren zu unterhalten. Dabei strich er eine mit Sand bestreute metallene Platte mit einem Geigenbogen an: Von Stellen, an denen die Platte heftig vibrierte hüpft der Sand zu ruhigeren, wo er liegen bleibt. Da die ruhigen Bereiche, die so genannten Knotenlinien, für einen bestimmten Ton charakteristisch sind, behört zu jedem Ton ein bestimmtes Sandmuster.
Kopfzerbrechen bereitete den Mitchells während ihrer 25 Jahre dauernden Puzzelei ein Engel, der schließlich aber ihre letzten Zweifel an der Interpretation der architektonischen Ornamente beseitigte: In seinen Händen hält die steinerne Figur kein Instrument, sondern – so schlussfolgerten zuletzt Vater und Sohn – ein Blatt mit Notenlinien. Auf diesem Blatt deuten die Finger der Putte just auf jene Töne, die mit den ersten – aus den Klangfiguren gefolgerten – Noten der Motette übereinstimmen. Die Musiknotation mit fünf waagerechten Linien kam in Europa allerdings erst im 16. Jahrhundert auf.

Der hilfreiche Engel | Dieser Engel räumte schließlich jeden Zweifel aus: Unauffällig zeigt er auf die Notenlinien, die mit den ersten drei Tönen der Rosslyn Motette übereinstimmen.
Rosslyn Chapel ist traditionell Zentrum umstrittener Theorien. So soll der Sakralbau verschiedenen Thesen zufolge den Heiligen Gral, die Bundeslade oder gar den mumifizierten Kopf Christi beherbergen, und als Nachbau von Salomons Tempel gedacht gewesen sein. Auch werden an Maisblätter erinnernde Pflanzenmotive im Kirchengebäude, dessen Konstruktion 1440 begann und etwa 40 Jahre dauerte, als Hinweise auf eine präkolumbische Entdeckung Südamerikas durch die Tempelritter interpretiert. Andere Symbole wiederum sollen auf die etwa drei Jahrhunderte später gegründeten Freimaurer hindeuten. (jpb)

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