Direkt zum Inhalt

Es sind nicht immer die Hormone

"Das sind die Hormone!" Diese Antwort muss heutzutage für nahezu alles herhalten: die plötzliche Hungerattacke, den Schweißausbruch oder auch nur die miese Laune des pubertierenden Sohnemanns. Doch wesentlich mehr als diese Pauschalaussage und vielleicht ein paar Namen wie Testosteron, Östrogen oder Insulin ist den meisten Menschen nicht geläufig. Mit diesem Halbwissen aufzuräumen hat sich Vivienne Parry zum Ziel gesetzt. In ihrem neuen Buch erklärt die renommierte britische Wissenschaftsjournalistin, welche Hormone für welche Prozesse verantwortlich sind, dass sie viele unserer Gefühle maßgeblich beeinflussen – und andere wieder nicht.

Wenn sich ein Pubertierender impulsiv, launisch, ungezogen und absolut egozentrisch verhält, liegt das angeblich daran, dass Hormone wie das männliche Sexualhormon Testosteron oder das Wachstumshormon explosionsartig ausgeschüttet werden. Doch mittlerweile, so Parry, erklärt man einen Großteil dieses Verhaltens mit dem Reifeprozess des jugendlichen Gehirns, der – auch dies eine relativ neue Erkenntnis – erst mit 18 oder 19, manchmal sogar 20 Jahren abgeschlossen ist. Vor allem im präfrontalen Kortex werden die Nervenfasern neu sortiert und umgestaltet. Und genau in diesem Bereich des Gehirns findet vorausschauendes Denken ebenso statt wie das Sich-hinein- Versetzen in die Gefühle anderer Menschen, Fähigkeiten, die man Jugendlichen gerne aberkennt. Im Fall des übel gelaunten Teenagers sind also die Hormone höchstens indirekt an allem schuld.

Doch Parry zeigt auch Beispiele für das Gegenteil auf. Gerade das Testosteron, um das sich viele Mythen ranken, hat die unterschiedlichsten Wirkungen. Dass das "Männerhormon" Urheber Nummer eins für Aggression und Mord sein soll, ist Unfug. Der Testosteronspiegel steigt erst infolge von Aggression, und deren Ursache sind wiederum eher Stress und sein hormoneller Überträger, das Cortisol. Dagegen ist das Vorurteil, dominante und erfolgreiche Frauen hätten einen besonders hohen Testosteronspiegel, interessanterweise zutreffend – aber davon werden sie noch lange nicht zu "Mannweibern". Außerdem beeinflusst die Menge dieses Steroids in der Gebärmutter das spätere Verhalten des Ungeborenen, unabhängig von dessen genetischem Geschlecht. Je mehr davon, desto systematischer – also vermeintlich "männlicher" – ist das Kind veranlagt, und je weniger davon, desto mehr neigt es später zu Empathie, einer Eigenschaft, die als typisch weiblich gilt.

Parry beschreibt in diesem Zusammenhang ausführlich die Erkenntnisse des britischen Psychologen und Autismus-Forschers Simon Baron-Cohen. Für ihn ist eine bestimmte Form des Autismus, das so genannte Asperger-Syndrom, ein Extrem des männlichen Gehirntyps. Seine jüngsten Forschungen konnten zwischen der Testosteronkonzentration in der Gebärmutter und dem Auftreten des Asperger-Syndroms eine positive Korrelation nachweisen.

Die Autorin versteht ihr Handwerk. Schließlich ist sie Wissenschaftsreporterin für die englische Tageszeitung "The Guardian", zuvor arbeitete sie jahrelang für die BBC. Geschickt bestätigt und widerlegt sie die Mythen und Horrorgeschichten mit Hilfe der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse – das kommentierte, 15-seitige Literaturverzeichnis im Anhang belegt es. Die knapp 400 Seiten lesen sich erstaunlich schnell dank der flotten Sprache, dem schlichten Layout und den übersichtlichen, aufeinander aufbauenden und dennoch separat lesbaren Kapiteln.

Ein paar Schönheitsfehler bleiben anzumerken: Zum einen spricht sie immer wieder von der "unglaublichen Eleganz" hormoneller Reaktionen, verrät allerdings bis zum Schluss nicht, warum diese so ungleich eleganter sein sollen als der Zitronensäurezyklus oder die Atmungskette. Zum anderen bietet sie eine recht feministische Sichtweise auf das Thema. Volle zwei Kapitel widmen sich sehr ausführlich einem ausschließlich weiblichen Phänomen, dem Menstruationszyklus und der Menopause. Zudem reichert sie viele Themen mit privaten Anekdoten an, was nicht jedermanns Sache ist. Unpräzise Angaben wie "recht eindeutig" oder "auffällig hoch" sorgen dafür, dass es streckenweise zu sehr ins Populärwissenschaftliche abrückt.

Alles in allem hat Vivienne Parry eine klare Botschaft: Hormone sind – im Positiven wie im Negativen – nur die Überbringer von Nachrichten. Sie sind ein Spiegelbild eines Ungleichgewichts, dessen Ursache weitaus tiefer und oft völlig woanders liegt.Die Wissenschaft von den Hormonen ist einer der spannendsten und vielschichtigsten Bereiche der Biologie; sie wird in Zukunft nicht nur im Kampf gegen die Fettsucht und auf der Suche nach dem ewig jungen Körper massiv an Bedeutung gewinnen.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 3/2008

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.