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Archäoastronomie: Wann die Sonne erlosch

Als der eifersüchtige Odysseus seine Penelope gewaltsam aus den Fängen unverschämter Freier befreite, hatte sich die Sonne verfinstert. Deswegen kann, wer möchte, auch exakt berechnen, wann dies geschah, meinen zwei amerikanische Astronomen.
Odysseus in Marmor
Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung ...


Die Geschichte jenes Vielgewanderten, Trojazerstörenden hat über die Jahrtausende Begeisterung geweckt – und Diskussionen gefördert. Gab es einst wirklich den listigen, vereinsamten Verirrten, abgetrieben auf dem Weg zurück vom Krieg in sein friedliches Familienleben – einen Odysseus? Existierten seine Gefährten, seine Feinde, seine Gattin Penelope?

Vielleicht unwichtig: Wenn es sie nicht gab, müssten sie erfunden werden. Aber der Dichter und seine Geschichte? Stammt der Plot jener unglaublichen Odyssee aus der Feder eines einzigen Mannes, Homer? Hat dieser Homer, haben eine Menge unbekannter Dichter ein tatsächliches Ereignis in Hexameterform gegossen oder tatsächlich gut, aber frei erfunden gedichtet? Gab es jemals jenen Trojanischen Krieg, von dem der Held aus Ithaka heimzukehren versuchte, um die Mutter aller Irrfahrten anzutreten? Und wenn ja, dann wo und wann, und wer war Augenzeuge? Eine ganze Menge Fragezeichen hinter einem derart alten, derart ausgiebig diskutierten Werk.

Auch heute sind noch längst nicht alle Antworten nach der Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit gefunden. Manchem literaro-archäologischem Konsens – ja, ein mächtiges Troja gab es wohl, in Kleinasien wurden seine Ruinenschichten gefunden, es fiel nach einem Krieg, wie im Ilias-Prequel der Odyssee beschrieben –, stehen vielleicht für immer unlösbare Rätsel des Werkes gegenüber. Hierzu zählt auch die Frage nach dem Zeitpunkt der Ereignisse, die offenbar als reale Vorlage dienten. Dabei war schon in den 1920er Jahren war mit akribischer mathematischer Methodik versucht worden, den Fall Trojas und die Heimkehrmühsal des Helden aus Ithaka zeitlich einzugrenzen. Ein vermeintlicher astronomischer Hinweis aus dem Homerschen Original diente dabei als Anhaltspunkt:

"Flatternde Geister füllen die Flur, und füllen den Vorhof,
Zu des Erebos Schatten hinuntereilend! Die Sonne
Ist am Himmel erloschen, und rings herrscht schreckliches Dunkel!"


Diese und weitere Stellen, so fanden Odyssee-Deuter auch schon vor dem 20. Jahrhundert, sind naturwissenschaftlich griffig, wenn man mal kurz über Flattergeister und ereböische Schatten hinwegsieht: Hier beschreibt Homer ganz offenbar eine totale Sonnenfinsternis, die sich am griechischen Himmel abgespielt hat. Diese Finsternis müsste man astronomisch exakt datieren können. Am 16. April 1178 vor der Zeitenwende, errechneten 1926 denn auch zwei von Homer begeisterte Astronomen, habe sich diese in der Odyssee beschriebene Verdunkelung des Gestirns am Himmel über den Ionischen Inseln ereignet.

"Die Sonne / Ist am Himmel erloschen, und rings herrscht schreckliches Dunkel!"
(Homer)
Das Datum passt tatsächlich gut in den Zeitrahmen, den konkrete archäologische Anhaltspunkte für das Ende von Troja feststecken: Die Stadt fiel am Ende der Bronzezeit um 1150 v. Chr., kurz danach entstanden wahrscheinlich die ersten, zunächst mündlich überlieferten Versepen einer Saga, die vielleicht gut vier Jahrhunderte später zu einer ersten Fassung in der Odyssee zusammengefasst niedergeschrieben wurden. Wirklich nachhaltig überzeugend war die Berechnung aber nicht: Bald kritisierten Skeptiker die Umdeutung literarischer Passagen in reale Ereignisse am Himmel. Ohne weitere Belege sei anhand der Originalquelle niemals eine exakte Datierung zu leisten, die strengen wissenschaftlichen Maßstäben standhält.

Kein Problem – man muss nur genau genug nach solchen weiteren Belegen fahnden, meinen nun Constantino Baikouzis und Marcelo Magnasco von der Rockefeller University in New York. Die beiden Forscher durchforsteten die 24 Gesänge der Odyssee nach weiteren möglichen astronomischen Anhaltspunkten. Drei weitere Stellen, so glauben Baikouzis und Magnasco, beschreiben Himmelsereignisse in den Wochen, in denen der literarische Held seine Odyssee beendet, in die Heimat Ithaka zurückfindet und dort erst einmal, an einem Neumondtag mit Sonnenfinsternis, die Freier seiner treuen Gattin kurzerhand in Jenseits befördert.

So könnte Odysseus ... | ... nach seiner Rückkehr die totale Sonnenfinsternis erlebt haben, die Forscher auf den 16. April 1178 v. Chr. datiert haben. Die Rekonstruktion zeigt das Himmelspanorama von Paliki, wo möglicherweise der Palast des Heimhehrers stand.
Nach Homer – Baikouzis und Magnasco nennen ihn übrigens "den oder die Poeten, den oder die wir in Ermangelung besseren Wissens 'Homer' nennen" – habe sechs Tage zuvor die Venus hoch am Himmel gestrahlt, während noch einmal 27 Tage früher der Sternhaufen der Pleiaden und die Konstellation des Bärenhüters gemeinsam am Himmel zu sehen waren. Außerdem scheint "Homer", wenn auch verklausuliert, Hinweise auf die Himmelsposition des sonnennahen Planeten Merkurs gegeben zu haben, deuten die Forscher: Der flinke Planet habe 33 Tage vor Mord und Finsternis im Morgengrauen seine westlichste Stellung eingenommen. Alle drei Himmelsereignisse und der für eine Sonnenfinsternis unerlässliche Neumond aber fallen wie beschrieben nur selten in einem Jahrhundert zusammen – und überhaupt nur ein einziges Mal zwischen 1250 und 1115 v. Chr., wie Baikouzis und Magnasco berechneten: im Frühling des Jahres 1178. Dem Jahr der ionischen Finsternis.

Fall zu den Akten? Wäre schade drum, finden vielleicht auch Baikouzis und Magnasco und kritisieren, wissenschaftlich untypisch, gleich einmal ihre eigenen Schlussfolgerungen, bevor es jemand anders kann. Gerade ihrer Deutung der Merkurbahn trauen sie selbst nicht so ganz – schließlich redet Homer ja eigentlich nur vom Götterboten Hermes, der weit nach Westen fliegt, dort eine Botschaft abgibt und flugs wieder ostwärts verschwindet.

Gut, es stimmt schon: Hermes – der spätere römische Gott Merkur – ist tatsächlich schon zu Zeiten der alten Griechen als Morgenstern mit dem flinken, immer nur kurz in der Dämmerung auftauchenden Planeten Merkur assoziiert worden. Babylonische Sternschauer wussten zudem schon Jahrhunderte vorher, dass Morgen- und der Abend-Merkur tatsächlich zwei Erscheinungsformen desselben Himmelskörpers sind. Aber wusste das auch Homer?

Vielleicht aber ist am Ende auch das unwichtig: Wenn der antike Autor mit Planetenbewegungen tatsächlich weniger am Hut hatte, als Baikouzis und Magnasco ihm unterstellen, dann haben die zwei schließlich auch nur kreativ eine weitere Fassette zur guten Nacherzählung einer großen Geschichte gedichtet. Der Geschichtensammler Homer hätte wahrscheinlich nichts dagegen gehabt. Der geflügelte Gott der Diebe ganz sicher nicht.

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  • Quellen
Baikouzis, C., Magnasco, M.: Is an eclipse described in the Odyssey? In: Proceedings of the National Academy of Sciences 10.1073.pnas.0803317105, 2008.

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