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Epigenetik: Eingebrannt

Furchtbare Erlebnisse in der Kindheit scheinen im wahrsten Sinne des Wortes prägend zu sein: Sie greifen in die Genregulation ein und verändern damit auf Dauer die psychische Belastbarkeit des Betroffenen.
Kinderaugen
Gene oder Umwelt – auf diese Schlagworte fokussiert, tobte über Jahrzehnte ein erbitterter Streit: Beruht unser Denken und Fühlen lediglich auf unserem genetischen Erbe, dem wir als hilflose Marionetten unveränderlich ausgeliefert bleiben, oder entscheiden allein Erziehung und andere soziale Einflüsse, ob wir zum Menschen oder Unmenschen heranreifen?

In der Tat lässt sich die prägende Wirkung frühkindlicher Erlebnisse nicht leugnen. Wer als Kind körperlich gequält, sexuell missbraucht oder grob vernachlässigt wurde, wird sein Leben lang unter einer schweren seelischen Bürde leiden. Auf der anderen Seite konnten Genetiker Erbfaktoren aufspüren, die darüber entscheiden, wie wir mit schrecklichen Lebenserfahrungen umgehen. So scheinen Träger einer bestimmten Version des Gens für einen Serotonin-Transporter depressiver veranlagt zu sein und traumatische Erlebnisse schlechter zu verkraften.

Die Wahrheit des alten Streits zwischen Genetikern und Pädagogen liegt wohl, wie so oft, in der Mitte. Denn Genetik – wie entscheidend sie auch sein mag – ist nicht alles. Nach den Genen folgt die Epigenetik (epi, griechisch: auf, dazu, nach): Damit die Erbfaktoren ihre Wirkung entfalten können, müssen sie im Zellkern abgelesen werden. Die Zelle verfügt jedoch über etliche Mechanismen, die Aktivität der Gene je nach Bedarf herauf- oder herunterzufahren oder sie auch ganz stillzulegen. Eine beliebte Methode hierbei ist die Anlagerung von Methylgruppen an den DNA-Strang, die damit die Informationsfreigabe blockieren.

Was hat das nun mit frühkindlicher Erfahrung zu tun? Sehr viel, wie die Arbeitsgruppe von Michael Meaney von der kanadischen McGill University in Montreal bereits 2004 feststellte – allerdings an Ratten. Die Forscher hatten Jungtiere miteinander verglichen, die entweder von ihren Müttern liebevoll umsorgt oder grob missachtet worden waren, und dabei Erstaunliches festgestellt: Im Gehirn der vernachlässigten Nagerbabys war das Gen für den so genannten Glukokortikoidrezeptor stärker methyliert. Dieser Rezeptor bindet wiederum die Stresshormone der Glukokortikoide wie Cortisol und dämpft damit die Stressreaktionen. Mit anderen Worten: Eine unglückliche Kindheit lähmt bei Ratten epigenetisch die Stressbremse.

Nun sind Ratten bekanntlich keine Menschen. Meaney und sein Team überprüften jetzt, ob ihre Entdeckung auch für Homo sapiens gilt. Ihre Probanden waren eher ungewöhnlich: Leichen von Selbstmördern. Im Hippocampusgewebe von zwölf erwachsenen Suizidopfern, die als Kinder sexuell oder physisch missbraucht worden waren, untersuchten sie das Gen NR3C1, das für den Glukokortikoidrezeptor im menschlichen Nervensystem kodiert. Der Verdacht bestätigte sich: Die Forscher fanden im Vergleich zu Kontrollproben deutlich weniger Boten-RNA des Gens – seine Aktivität war also herabgesetzt. Die weitere Untersuchung offenbarte die erwartete Genblockade durch angelagerte Methylgruppen. Im Gegensatz dazu zeigte das NR3C1-Gen bei zwölf Vergleichspersonen, die zwar ebenfalls Selbstmord begangen hatten, denen aber ein kindliches Martyrium erspart geblieben war, eine vollkommen normale Aktivität.

Damit konnten die Wissenschaftler erstmals nachweisen, dass sich traumatische Erlebnisse in das Erbgut des Betroffenen wahrlich einbrennen. Gene und Umwelt sind also kein Gegensatz, sondern wirken gegenseitig aufeinander ein – zum Nachteil für die Opfer psychischer und sexueller Gewalt.

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