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Eine Frage des Willens

Evergreens kennt man auch in der Wissenschaft. So scheint die Frage, ob es einen freien Willen gibt, nie zu veralten, obwohl sich über die Jahrhunderte schon etliche Philosophen, Theologen und zuletzt auch Naturwissenschaftler darüber ausgelassen haben. Der amerikanische Physiologe Benjamin Libet (1916 – 2007) hatte Anfang der 1980er Jahre mit seinen Experimenten gezeigt, dass wir die Entscheidung, auf einen Knopf zu drücken, schon gefasst haben, bevor sie uns bewusst wird. Seitdem vertreten einige Hirnforscher die These, dass wir keinen freien Willen hätten.

In der Folge wurde über diese Schlussfolgerung viel gestritten. An der Diskussion beteiligt sich nun auch Wolfgang Seidel, ehemals Chirurg am Universitätsklinikum Tübingen. Naturgemäß kann der Ruheständler keine eigenen Forschungsergebnisse dazu beitragen, nähert sich dem Thema als Fachfremder und verzichtet auf eigene Deutungen der Experimente von Libet und dessen Nachahmern.

Vielmehr argumentiert er aus einer naturwissenschaftlichen Position heraus und trifft dabei eine Grundsatzentscheidung: Entgegen der landläufigen Definition setzt er den freien Willen nicht gleich mit "frei von äußeren Zwängen oder Vorgaben"; frei bedeutet für ihn "ohne Ursache". Da in den Naturwissenschaften aber das Kausalitätsprinzip herrscht, wonach jede Wirkung eine Ursache haben muss, ist ein freier Wille schlechterdings unmöglich. Vereinbar mit den neurobiologischen Befunden sei jedoch ein "eigener" Wille.

Nachdem Seidel auf den ersten Seiten seine Position klar abgesteckt hat, sucht er im weiteren Verlauf den Leser von ihr zu überzeugen. Dafür stützt er sich auf das Basiswissen der Neurobiologie und Psychologie.

Sein Paradebeispiel ist ein Handwerker, der unter Zeitdruck zu einem Termin fährt, dabei eine rote Ampel missachtet und eine Fahrradfahrerin verletzt. Dafür wird der Mann später verurteilt. Doch laut Seidel konnte sich der Fahrer nicht anders verhalten, denn "er war so programmiert". Bewusste sowie unbewusste Erfahrungen und Bedürfnisse hätten sein Gehirn so geprägt, dass er in diesem kritischen Moment nicht anders handeln konnte.

Dankenswerterweise stellt der Autor dem Menschen keinen Freibrief für kriminelles Verhalten aus. Doch von Schuld dürfe man nicht sprechen. Relevant für die Beurteilung und eine mögliche Bestrafung des Täters seien aber seine Intelligenz und seine Fähigkeit, sich seine "Programmierung" bewusst zu machen und den "eigenen" Willen kritisch zu überdenken, um von einem einmal gefassten Entschluss auch wieder abrücken zu können.

Seidel entwirft deshalb ein Weiterbildungsprogramm in Sachen Verantwortung. Dessen Ziel und Zweck soll sein, dass Menschen Einsicht in ihr Tun und Handeln gewinnen – und letztlich auch die Umstände beeinflussen können, unter denen ihre Gehirne arbeiten. Für den Mediziner "hat die Gesellschaft die Pflicht, ihre Mitglieder vor den Missetätern mit ihren nicht sozialgerecht funktionierenden Gehirnen zu schützen". Doch wie das konkret aussehen soll, bleibt offen. Stattdessen verliert sich der Autor in Allgemeinplätzen.

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  • Quellen
Gehirn und Geist, 07–08/2009

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