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Orientierung: Gift im Kompass

Sonne, Mond und Magnete: Sie alle leiten Tauben zielsicher zurück zum heimatlichen Schlag - unterwegs lenkt sie kaum etwas ab. Und ein eigentlich giftiges Molekül in ihrem Auge hilft ihnen dabei.
Taubenflug
Alles begann mit einem Fehler: Eigentlich hatte der Frankfurter Biophysiker Ilia Solov'yov nach einem optimalen chemischen Reaktionspartner gesucht, mit dem er die Funktionsweise des Proteins Cryptochrom aus dem Vogelauge besser verstehen konnte [1]. Dieser Blaulichtrezeptor mit Doppelnutzen sammelt sich vor allem in speziellen Zelltypen der Netzhaut von nachts ziehenden Zugvögeln und hilft ihnen nicht nur beim Sehen, sondern wahrscheinlich auch, sich magnetisch zu orientieren: Er wandelt die Informationen aus dem Magnetfeld der Erde in visuelle Signale um, die der Vogel auf seinem Flug nutzen kann.

Taube mit Neurologger | Mit technischer Hilfe entschlüsselten Forscher, wann das Hirn von heimfliegenden Vögeln besonders aktiv ist.
Umgekehrt kann auch das Erdmagnetfeld chemische Reaktionen im Auge beeinflussen, sofern diese rasch genug ablaufen, dass sie von reiner Quantenmechanik gesteuert werden. Diese Prozesse wollte Solov'yov genauer aufklären, und deshalb fügte er etwas Hyperoxid seinen Cryptochromversuchen hinzu – ohne zu ahnen, dass dieses O2--Anion eigentlich ein Zellgift ist und die Alterung des Gewebes beeinflusst.

Doch tatsächlich hilft das Hyperoxid auch den Vögeln beim Navigieren: Wie der Forscher feststellte, ist das negativ geladene Sauerstoffmolekül ein wichtiger Reaktionspartner des Blaulichtrezeptors. "Während der chemischen Reaktion werden Elektronen ausgetauscht, und es entstehen frei rotierende Elektronenspins, die sich wie ein axialer Kompass verhalten", erklärt Klaus Schulten von der University of Illinois in Urbana-Champaign. Im Vogelauge reagiert das Cryptochrom mit dem Hyperoxid und setzt dabei Elektronen mit frei beeinflussbaren Spins frei, die wiederum vom Erdmagnetfeld ausgerichtet werden und als Kompasse arbeiten. Wechselt nun ein Vogel die Flugrichtung, so verändert sich auch der Einfluss des Erdmagnetfelds auf die Ausrichtung und damit die Sinneswahrnehmung des Tieres: Es erkennt, wie es sich relativ zur Nord-Südachse des Magnetfeldes bewegt.

Weil das Hyperoxid, das sein überschüssiges Elektron für die Reaktion zur Verfügung stellt, giftig ist, nahm Schulten die Entdeckung anfänglich recht skeptisch auf. Aber: "Damit der biochemische Kompass effektiv arbeitet, darf das Hyperoxid nur in geringen Konzentrationen vorkommen. Dies leisten jedoch die Schutzmechanismen des Körpers, die das toxische Molekül über Antioxidantien neutralisieren, um Schäden zu verhindern", sagt Schulten, der mit der Giftwirkung unter anderem auch erklärt, warum wir Menschen das Erdmagnetfeld nicht erkennen können: "Trotz Cryptochrom im Auge fehlt uns diese Orientierungsmöglichkeit. Die menschliche Evolution hat hier offensichtlich den langfristigen Erhalt des Körpers über diese Sinneswahrnehmung gestellt und das Hyperoxid ferngehalten."

Flugstrecke | Passieren die Tauben markante Landschaftsmerkmale, aktivieren sich die Neuronen in ihrem Gehirn und senden elektromagnetische Signale aus.
Der Magnetsinn ist aber nur ein Teil der beeindruckenden Orientierungsfähigkeit von Zugvögeln oder Brieftauben, die teils über Tausende von Kilometern wieder zurück ins Brutgebiet beziehungsweise den heimischen Taubenschlag finden: Sie navigieren auch mit Hilfe des Sonnenstandes, durch Sternkonstellationen und sogar über Duftkarten, die ihnen anhand verschiedener markanter Gerüche den Weg weisen. Im näheren Umfeld des Zielgebiets spielen dann schließlich noch charakteristische Landschaftsmerkmale eine Rolle – etwa Berge, Flüsse oder sogar Autobahnen und Bahntrassen, wie Forscher bei heimkehrenden Tauben mitverfolgt haben.

Was genau im Hirn der Tiere abläuft, entzog sich bislang jedoch der Wissenschaft. Biologen um Alexei Vyssotski von der Universität Zürich statteten daher Brieftauben mit speziellen Kopfbedeckungen aus, welche nicht nur über GPS-Daten die eingeschlagenen Flugrouten aufzeichnen sollten. Vielmehr koppelten sie die Miniaturgeräte mit einem so genannten Neurologger, der gleichzeitig die Hirnaktivität während der Reise speicherte [2]. Die Elektroenzephalografie (EEG) zeigt anhand von Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche an, wann die Neuronen im Denkapparat der Tauben feuern und damit besonders beschäftigt sind.

In ihre relative wissenschaftliche Freiheit entlassen wurden die Vögel dabei einige Kilometer vom Festland und ihrem Zuhause entfernt auf dem Meer vor den Gestaden Roms: Vom Schiff aus steuerten sie schnurstracks die Küste an, wobei ihr EEG erst einmal relativ unauffällig blieb – hier fehlen schließlich markante Geländekennzeichen, die Aufsehen erregen.

Das änderte sich, sobald die Grenze zum Festland überschritten wurde: Nun plötzlich aktivierte sich ein zweiphasiges Erregungsmuster in den grauen Zellen. Auf hochfrequente Schwankungen folgten dann stets welche mit mittlerer Wellenlänge, welche die Forscher als verlässlichste Anzeiger visueller Stimulation des Hirns bewerteten – schließlich offenbarten die parallel gewonnenen GPS-Daten an diesen Stellen wichtige geografische Punkte: "Blickte eine Taube auf etwas mit Interesse, so nahm diese Aktivität zu", so Vyssotski. Die hochfrequenten Hirnwellen wiederum könnten die bisherigen Flugerfahrungen der Tiere widerspiegeln, meint der Forscher: "Sie sind wahrscheinlich mit dem Erinnerungsvermögen der Tauben gekoppelt und zeigen an, dass sie Orte wiedererkennen, an denen sie bereits waren."

Einige Male geriet das Gehirn der Vögel allerdings in erhöhte Erregungszustände, die sich die Biologen nicht erklären konnten – schließlich gab es dort laut den Karten weder auffällige Kirchturmspitzen noch Autobahnen oder gar Hügel, die den Weg nach Hause hätten weisen können. Erst der GPS-gestützte Blick vor Ort brachte die Lösung: Unterwegs passierten die Vögel einen Bauernhof und eine alte Scheune, an denen sich Schwärme verwilderter Tauben herumtrieben. Die fliegenden Boten der Wissenschaft hatten wohl zumindest kurzfristig gedanklich damit geliebäugelt, ihren Dienst gegen den Duft der Freiheit einzutauschen.

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  • Quellen
[1] Solov'yov, I., Schulten, K.: Magnetoreception through Cryptochrome May Involve Superoxide. In: Biophysical Journal 96, S. 4804–4813, 2009.
[2] Vyssotski, A. et al.: EEG Responses to Visual Landmarks in Flying Pigeons. In: Current Biology 10.1016/j.cub.2009.05.070, 2009.

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