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Krankheiten: Der vermeidbare Maserntod von Hildesheim

2019 kam es zu einem ungewöhnlichen Masernausbruch in Hildesheim. Eine junge Mutter starb. Fachleute stufen ihren Tod als vermeidbar ein. Jetzt legten sie eine genaue Analyse der Ereignisse vor.
Eine undatierte Abbildung, die mit Hilfe eines Transmissionselektronenmikroskops gemacht wurde, zeigt Teile eines Masernvirus lila eingefärbt.
Die Aufnahme des Transmissionselektronenmikroskops zeigt Teile eines Masernvirus.

Fast gleichzeitig mit dem Fieber, den Kopfschmerzen und den Magen-Darm-Beschwerden bekam die 33-Jährige den typischen Hautausschlag: hellrote, drei bis sechs Millimeter große Flecken, die sich vom Gesicht aus über den ganzen Körper ausbreiteten. Drei Tage später war die fünffache Mutter aus Hildesheim tot. Ursache war eine schwere Lungenentzündung auf Grund der Infektion mit dem Masernvirus. Zwei ihrer Kinder hatten das Virus aus der Schule mitgebracht. Bis auf die älteste Tochter war keines der Kinder gegen Masern geimpft.

»Die ganze Familie war nicht geschützt. Wären die Kinder geimpft gewesen, hätte sich die Mutter vermutlich nicht angesteckt und würde noch leben«, sagt Annette Mankertz, Leiterin des Nationalen Referenzzentrums für Masern, Mumps und Röteln am Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin. Gemeinsam mit Fachleuten des Gesundheitsamtes Hildesheim, des Brandenburgischen Instituts für Rechtsmedizin sowie mit einem Forensiker der Medizinischen Hochschule Hannover hat Mankertz den Hildesheimer Masernausbruch mit insgesamt 43 Erkrankungen und einem Todesfall analysiert. Die Ergebnisse sind jetzt im »International Journal of Medical Microbiology« nachzulesen. Sie liefern interessante Erkenntnisse über eine Krankheit, die es in Deutschland und auch weltweit eigentlich nicht mehr geben müsste.

Den Anfang machte ein 15-jähriger Schüler, der wegen körperlicher Beschwerden im Januar 2019 mehrmals die Notfallambulanz eines Hildesheimer Krankenhauses aufsuchte. Am 13. Januar bekam der Jugendliche einen Hautausschlag und es war klar, dass er an den Masern erkrankt war. In den folgenden 14 Wochen steckten sich 23 Mädchen oder Frauen und 20 Jungen oder Männer im Alter von weniger als einem Jahr bis zu 48 Jahren an. So viele Fälle hatte es zuvor in der Stadt Hildesheim und im Landkreis mehr als 20 Jahre lang nicht mehr gegeben.

Um den Ausbruch einzudämmen, informierte die lokale Gesundheitsbehörde die Bevölkerung unter anderem über die Presse. Personen, bei denen ein Verdacht auf eine Ansteckung bestand oder die sich angesteckt hatten, wurden aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Das Gesundheitsamt überprüfte den Immunstatus von mehr als 2000 Kontaktpersonen und bot denjenigen ohne Masernschutz eine so genannte Postexpositionsprophylaxe an: Innerhalb von drei Tagen nach dem Kontakt verabreicht, kann eine Masernimpfung den Ausbruch der Krankheit meist noch verhindern.

Der tragische Fall

Als Ende März und Anfang April 2019 drei Kinder der Familie im Alter von 4, 12 und 14 Jahren an Masern erkrankten, wurden auch die damals 13-jährige Tochter und ihre Mutter aufgefordert, sich impfen zu lassen. Wegen eines Lieferengpasses beim Impfstoff erfolgte die Impfung erst am 3. April. Für die Mutter der erkrankten Kinder kam sie zu spät. Sie und ihre Tochter erkrankten am 8. April an Masern. Am 11. April wurde 33-Jährige tot aufgefunden.

Um die Todesursache zu bestimmen, untersuchten Fachleute die inneren Organe der Verstorbenen, entnahmen Hautproben und führten toxikologische sowie klinisch-chemische Untersuchungen durch. Hinweise auf eine allergische Reaktion, womöglich einen allergischen Schock als Antwort auf die Impfung, gab es nicht. Auch fand das Untersuchungsteam in den Organen der Verstorbenen das Masernvirus, das gerade in Hildesheim zirkulierte, und nicht etwa das abgeschwächte Impfvirus, welches der Hildesheimerin gut eine Woche zuvor verabreicht worden war.

»Es ist ungewöhnlich, dass ein so relativ junger und gesunder Mensch an einer Riesenzellpneumonie verstirbt«
Annette Mankertz

»Der Todesfall ist nicht auf die Impfung zurückzuführen, sondern auf eine Infektion mit dem Wildtyp-Masernvirus; für die Frau kam die Impfung leider zu spät«, sagt Annette Mankertz. Dass die Frau starb, ist jedoch ungewöhnlich. Die Sterblichkeit nach Maserninfektionen liegt, wie das Robert Koch-Institut schreibt, in Industrieländern bei 0,1 bis 0,01 Prozent. In Ländern mit schlechter medizinischer Versorgung und in denen Kinder mangelernährt sind, kann das Virus deutlich mehr Todesfälle verursachen.

Die meisten Todesfälle im Zusammenhang mit Masern verursachen gefährliche Bakterien, die sich im geschwächten Organismus ausbreiten. Das Masernvirus kann außerdem neurologische Komplikationen auslösen. Eine besonders schwer wiegende Erkrankungsfolge ist die akute postinfektiöse Enzephalitis: eine Hirnentzündung. »Sie tritt etwa 4 bis 7 Tage nach Beginn des Exanthems mit Kopfschmerzen, Fieber und Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma auf. Bei etwa 10 bis 20 Prozent der Betroffenen endet sie tödlich«, schreibt das RKI.

Lungenentzündung verursachte den Tod der Frau

Die 33-jährige Hildesheimerin hatte weder eine bakterielle Superinfektion noch eine postinfektiöse Entzündung von Herz oder Gehirn. Die Lunge wies jedoch auffällige Veränderungen auf: Im Gewebe hatte sich Wasser angesammelt, viele Entzündungszellen waren eingewandert, und die Untersuchung zeigte, dass sich Riesenzellen gebildet hatten. Offenbar hatte eine Lungenentzündung, genauer eine »fortschreitende Riesenzellpneumonie«, den Tod der Frau verursacht.

Was hat es mit diesen Riesenzellen auf sich? Das Masernvirus besitzt einen Proteinbaustein, den es eigentlich dafür nutzt, in Zellen einzudringen. Dieses »Fusionsprotein« bringt Körperzellen dazu, miteinander zu verschmelzen. In der Folge entstehen Riesenzellen mit vielen Zellkernen. »Es ist ungewöhnlich, dass ein so relativ junger und gesunder Mensch an einer Riesenzellpneumonie verstirbt«, sagt Annette Mankertz. Das passiere eigentlich nur bei Personen mit Vorerkrankungen und einem geschwächten Immunsystem.

»Die Menschen hatten einen Schutz, der aber über die Jahre langsam abgebaut wurde«
Annette Mankertz

Vorerkrankt war die fünffache Mutter nicht. »Die chemisch-toxikologische Untersuchung ergab, dass es sich bei der Verstorbenen um eine aktive THC-Konsumentin mit kürzlich erfolgtem Konsum handelte«, steht in der Publikation, die über den Fall berichtet: THC (Tetrahydrocannabinol – der rauscherzeugende Bestandteil der Hanfpflanze) besitze zwar immunschwächende Eigenschaften. Aber ob die festgestellte Konzentration zur tödlichen Entwicklung beigetragen habe, lasse sich nicht mit Sicherheit sagen, so die Fachleute im »International Journal of Medical Microbiology«.

Die Rolle der Impfungen

Insgesamt waren 28 der 43 Personen, die erkrankten, vor dem Ausbruch nicht gegen die Masern geimpft. Interessanterweise hatten jedoch überraschend viele der Erkrankten als Säuglinge eine Impfung erhalten: Vier waren einmal und elf sogar zweimal geimpft worden, wie von der Ständigen Impfkommission (STIKO) empfohlen. Zur letzten Gruppe gehörte auch der 15-jährige Schüler, den die Expertinnen und Experten als ersten Hildesheimer Fall während des Ausbruchs ausmachten.

Die Masernimpfung ist sehr wirksam. Warum versagte sie hier dennoch in mehreren Fällen? Grundsätzlich gibt es zwei verschiedene Möglichkeiten, warum eine Impfung nicht zum gewünschten Erfolg führt. Beim primären Impfversagen ist eine Person zwar geimpft, aber der Impfstoff war falsch gelagert oder falsch verabreicht worden und dadurch unwirksam. »Im Impfausweis steht dann zwar geimpft, aber die Impfreaktion wurde in Wirklichkeit nicht ausgelöst, weil der Impfstoff unbrauchbar war«, sagt Annette Mankertz.

In Hildesheim war die Situation anders, hier kam es zu einem sekundären Impfversagen: »Die Menschen hatten einen Schutz, der jedoch über die Jahre langsam abgebaut wurde«, erklärt die RKI-Wissenschaftlerin. Diese Personen haben zu niedrige Antikörperspiegel gegen die Masern, erkranken bei Kontakt, sind allerdings deutlich weniger ansteckend als Menschen ohne Immunschutz. Der Grund für die nachlassende Impfwirkung: »In Hildesheim hatte es über mindestens 20 Jahre keine Masernfälle mehr gegeben. Dadurch unterblieb der natürliche Kontakt zum Virus, was die natürliche Boosterung, eine Art Training des Immunsystems, bewirkt hätte«, so Mankertz.

Vor der Einführung der Masernimpfung in den 1960er Jahren, in Deutschland 1970, gab es weltweit immer wieder Masernepidemien. Schätzungsweise starben dabei jedes Jahr zwei bis drei Millionen Menschen. Das Ziel der Weltgesundheitsorganisation ist, die Masern weltweit auszurotten. Damit das gelingen kann, müssen mehr als 95 Prozent der Bevölkerung geimpft oder natürlicherweise immun sein. Trotz großer Anstrengungen gab es jedoch weltweit etwa im Jahr 2019, dem Jahr, als auch die Hildesheimerin starb, weltweit rund 136 000 Todesfälle durch die Masern.

Die STIKO empfiehlt, Kinder zweimal mit der MMR(V)-Vakzine zu impfen, die neben den Masern auch vor Mumps (M), Röteln (R) und Windpocken (Varizellen, V) schützt. Die erste Impfung soll zwischen dem 11. und dem 14. Lebensmonat erfolgen, die zweite im Abstand von vier Wochen nach der ersten. Erwachsene, die nach 1970 geboren und noch nicht oder nur einmal geimpft sind, sollten sich einmal impfen lassen. Bei Älteren geht die STIKO davon aus, dass sie die Masern höchstwahrscheinlich durchgemacht haben und deshalb immun sind. Für sie ist keine Impfung empfohlen.

Die Menschen haben vergessen, wie gefährlich Masern sind, weil die Krankheit durch Impfungen weitgehend ausgerottet wurde

Seit dem 1. März 2020 gibt es in Deutschland das Masernschutzgesetz. Einen Kindergarten oder eine Schule darf grundsätzlich nur besuchen, wer eine Masernimpfung nachweisen kann. »Die überwiegende Mehrheit hat die Regelung gut angenommen. Die Impfquoten liegen in der letzten Untersuchung bei gut 97 Prozent für die erste und fast 93 Prozent für die zweite Masernimpfung«, sagt Annette Mankertz.

Allerdings kann auch das neue Gesetz nicht garantieren, dass wirklich alle Kinder gegen die Masern geimpft sind. Ungeimpfte Kinder können vom Besuch des Kindergartens ausgeschlossen werden. Schulkinder, die keinen Masernschutz vorweisen, dürfen und müssen aber trotzdem in die Schule gehen. Allerdings melden die Schulen diese Fälle dem zuständigen Gesundheitsamt. Die Eltern werden aufgefordert, die Nachweise zur Masernimpfung vorzulegen. Geschieht dies nach zweimaliger Aufforderung nicht, droht ein Bußgeld von bis zu 2500 Euro. Allein in Nordrhein-Westfalen wurde im letzten Jahr 2096-mal ein Bußgeld verhängt.

Immer wieder Ausbrüche

Wie wichtig es ist, eine hohe Impfquote aufrechtzuerhalten, zeigen aktuelle Masernausbrüche. In Österreich wurden 2024 schon knapp 250 Fälle registriert. 51 davon mussten im Krankenhaus behandelt werden, drei sogar auf der Intensivstation. In Deutschland zeigt die Statistik für 2024 bisher 95 Fälle; Impfungen werden dringend angeraten.

Der tragische Todesfall in Hildesheim führt das berühmte Impfstoffparadoxon deutlich vor Augen. Die Menschen haben vergessen, wie gefährlich Masern sind, weil die Krankheit durch Impfungen weitgehend ausgerottet wurde. Die Masernimpfung sei dagegen ausgesprochen sicher und effektiv, erklärt RKI-Expertin Annette Mankertz. Mit der Impfung schütze man nicht nur sich und seine Familie. »Auch diejenigen profitieren, die sich noch nicht impfen lassen können, wie etwa der wenige Monate alte Säugling der Nachbarsfamilie, dem man im Treppenhaus begegnet.«

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