Direkt zum Inhalt

Neutrinos: Messungen am Südpol schränken Theorien der Quantengravitation ein

Mit dem IceCube-Experiment in der Antarktis untersuchen Physiker, wie sich Neutrinos verändern. Sie hoffen damit die Natur der Raumzeit und der Schwerkraft zu ergründen.
Schleiernebel, Sternbild Schwan
Wie genau unsere Raumzeit beschaffen ist, ist immer noch rätselhaft. Messungen von Neutrinos könnten einige der offenen Fragen beantworten.

Mit mehr als 5000 optischen Sensoren machen Fachleute Jagd auf das geisterhafte Neutrino. Denn das sehr leichte und ungeladene Teilchen könnte Informationen zu einem der drängendsten Rätsel der Physik preisgeben: über die Beschaffenheit des Universums und der Natur der Schwerkraft. In einer am 26. März 2024 bei »Nature Physics« erschienenen Arbeit haben Physikerinnen und Physiker nun ihre Vorgehensweise beschrieben und ihre ersten Ergebnisse vorgestellt, die künftige Modelle der Quantengravitation eingrenzen.

Seit mehr als 100 Jahren suchen Forschende nach einer Quantentheorie der Schwerkraft. Die drei übrigen Grundkräfte, die elektromagnetische und die beiden Kernkräfte, folgen den seltsamen Regeln der Quantenphysik. Um alle vier fundamentalen Wechselwirkungen in ein gemeinsames Fundament zu gießen, braucht man höchstwahrscheinlich eine Quantengravitationstheorie. Wie eine solche Theorie aussehen könnte, ist noch ungewiss. Es gibt zwar bereits mehrere Ansätze wie die Stringtheorie oder die Schleifenquantengravitation, doch jede der Ideen weist komplexe Probleme auf, die sich nur schwer überwinden lassen.

Eine der größten Schwierigkeiten besteht darin, dass es kaum experimentelle Hinweise gibt, die als Leitfaden für eine neue Theorie dienen könnten. Die meisten Ergebnisse physikalischer Messungen stimmen mit den bestehenden Modellen überein. Um Situationen anzutreffen, in denen eine Quantengravitationstheorie nötig wäre, müsste man in die Nähe eines Schwarzen Lochs reisen oder das Universum kurz nach dem Urknall untersuchen. Auch Laborexperimente, die solche Situationen nachahmen sollen, sind noch außer Reichweite.

Doch man kann auch nach indirekten Spuren der Quantengravitation suchen, so wie es die Forscher und Forscherinnen des IceCube-Neutrino-Observatoriums gemacht haben. Hierbei kommt ihnen die geisterhafte Gestalt des Neutrinos zugute: Da das Elementarteilchen keine Ladung trägt und sehr leicht ist, wechselwirkt es kaum mit seiner Umgebung. Es kann sich quasi ungestört durch das All, die Galaxien oder auch die Erde bewegen. Sollte die Raumzeit jedoch – wie alle anderen Quantentheorien – quantenphysikalischen Schwankungen ausgesetzt sein, dann würde das Spuren im Verhalten der Neutrinos hinterlassen.

Auf der Suche nach ungewöhnlichem Verhalten

Auch wenn meist nur von einem Neutrino die Rede ist, handelt es sich dabei streng genommen um drei Elementarteilchen: Es gibt Elektron-, Tauon- und Myon-Neutrinos. Und während sich ein solches geisterhaftes Teilchen durch das All bewegt, schwankt es zwischen diesen drei Zuständen hin und her – allerdings nach festen Regeln, die ihm die Quantenphysik auferlegt. Wenn die Neutrinos allerdings mit einer schwankenden Raumzeit wechselwirken würden, wie es Quantengravitationstheorien besagen, dann gäbe es Unregelmäßigkeiten in diesen Schwankungen.

Neutrinooszillation | Neutrinos kommen in drei Arten vor und können sich ineinander umwandeln. Wenn eine Quelle Teilchen einer bestimmten Sorte erzeugt (etwa ein Kernreaktor oder ein spezialisierter Beschleuniger), schwankt die Wahrscheinlichkeit, sie auf ihrem Weg weiterhin in diesem Zustand anzutreffen – je nachdem, welche Strecke L die Neutrinos zurücklegen und welche Energie sie haben. So misst ein Detektor unmittelbar beim Entstehungsort eine andere Zusammensetzung des Strahls als ein zweites, typischerweise hunderte oder tausende Kilometer entfernt installiertes Gerät.

Nach solchen Unregelmäßigkeiten haben die Forschungsteams im IceCube-Detektor gesucht. Die ersten Messungen waren dabei eine Art Testlauf, um das Experiment richtig einzustellen. Die größten Abweichungen vom erwarteten Verhalten sollten eigentlich bei Neutrinos sichtbar sein, die aus der Tiefe des Alls zu uns dringen und damit schon genügend Zeit hatten, um mit der Raumzeit zu wechselwirken. Allerdings ist die Zahl dieser Neutrinos auf der Erde begrenzt. Deswegen haben die Forschenden zunächst die Neutrinos untersucht, die in der nördlichen Erdatmosphäre durch kosmische Strahlung entstehen. Diese wandern so gut wie ungestört durch unseren Planeten hindurch bis an den IceCube-Detektor am Südpol. Die Erdkruste und der Erdkern schirmen dabei alle anderen Arten von Teilchen ab und lassen nur die leichten Neutrinos hindurch.

Die Fachleute konnten bis jetzt keine Hinweise für Unregelmäßigkeiten im Verhalten der Neutrinos feststellen. Damit konnten sie die Stärke, mit der eine mögliche Quantengravitation mit Neutrinos wechselwirkt, deutlich einschränken. Ihr Ziel besteht nun darin, die Messungen auf »astrophysikalische Neutrinos«, die aus den Tiefen des Universums stammen, auszuweiten. Der Physiker Tom Stuttard vom Niels-Bohr-Institut in Kopenhagen, der an der Studie beteiligt war, ist optimistisch: »Jahrelang haben viele Physiker bezweifelt, dass Experimente jemals die Quantengravitation testen können. Unsere Analyse zeigt, dass das tatsächlich möglich ist. Durch künftige Messungen mit astrophysikalischen Neutrinos sowie präziseren Detektoren, die im kommenden Jahrzehnt gebaut werden, hoffen wir diese grundlegende Frage endlich beantworten zu können.«

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Quellen
The IceCube Collaboration: Search for decoherence from quantum gravity with atmospheric neutrinos. Nature Physics, 2024

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.