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Sex und die Entstehung der Musik

Wie schafft es unser Gehirn eigentlich, ein Musikstück wiederzuerkennen, selbst wenn Tempo, Dynamik, Anfangston, Harmonisierung und Klangfarbe variieren?

Die Frage ist überraschend schwer zu beantworten. Man muss dazu nicht nur die Funktionsweise des Gehörsystems und die teilweise parallel ablaufende Verarbeitung der unterschiedlichen musikalischen Parameter wie Rhythmus und Tonhöhe im Gehirn verstehen, sondern auch, wie das Gedächtnis mit Kategorien und Prototypen arbeitet, die es zur Extrahierung abstrakter Merkmale befähigen. Und dann weiß man noch immer nicht, warum Musik unsere Gefühle mitunter stärker aufmischt als jede andere Kunstform und wie sie überhaupt entstanden ist.

Daniel Levitin erklärt das komplexe Zusammenspiel von Hirnteilen, Hormonen und Hörgewohnheiten auf gut verständliche und anregende Weise und diskutiert schließlich auch die Rolle, die Sprache und (wen wundert’s?) Sex bei der Entstehung der Musik gespielt haben könnten.

Somit wendet sich das Buch an alle, denen Musik im weitesten Sinne etwas bedeutet und die sich vielleicht schon einmal gefragt haben, woran das eigentlich liegt. Wen die sperrige Definition der zu Grunde liegenden Disziplin ("Wissenschaft der Musik aus Sicht der kognitiven Neurowissenschaft ") abschreckt, dem sei versichert, dass zum Verständnis keinerlei musiktheoretische oder hirnphysiologische Vorkenntnisse erforderlich sind.

Der Autor wurde 1957 in San Francisco geboren und arbeitete zunächst als Musikproduzent, Sound-Designer und Toningenieur mit so bekannten Künstlern und Bands wie Blue Öyster Cult, Stevie Wonder und Santana. Inzwischen ist er Professor für Psychologie und Neurowissenschaften an der McGill University in Montreal (Kanada). Neben seinen populärwissenschaftlichen Bestsellern "Your Brain on Music" (dessen Übersetzung das vorliegende Buch ist) und "The World in Six Songs" hat er zahlreiche Artikel zur Musikwahrnehmung in wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht. Einen Eindruck vom Autor als Instrumentalist und sogar Komponist gibt seine Homepage www.psych.mcgill.ca/levitin/.

Levitins Themen sind nicht nur für den interessierten Laien von Bedeutung, sondern auch und besonders für professionel- le Musiker und Musikwissenschaftler. Hier erfährt man unter anderem, welche Belohnungsmechanismen dem musikalischen Aufbau und Nachlassen von Spannung, dem Spiel mit Erwartung und ihrer Erfüllung oder Enttäuschung so viel Reiz verleihen.

Dass nicht jeder von Machaut (1305 – 1377), Mozart (1756 – 1791) und Miles Da- vis (1926 – 1991) gleichermaßen angerührt wird, hängt mit Vorlieben zusammen, die sich im Alter von 14 bis 18 Jahren herausbilden, wenn das Gehirn am stärksten formbar und die emotionalen Schwankungen am größten sind. Kaum jemand entwickelt mit 50 noch einen ganz neuen Musikgeschmack, wohl aber kann durch intensive Beschäftigung mit einer Musikrichtung der Komplexitätsgrad steigen, den man als schön empfindet. Weitere Abschnitte widmen sich dem Zusammenhang zwischen Rhythmusempfinden und Bewegung, zwischen musikalischer und sozialer Kompetenz und der Frage, wie weit Virtuosität und Ausdruckskraft auf eine besondere Gabe (des Himmels oder der Gene, je nach Weltanschauung) oder schlicht sehr viel Training hindeuten.

Letztes Anliegen ist dem Autor die Beweisführung, dass Musik nicht lediglich ein hübsches (aber nutzloses) Nebenprodukt der Evolution ist, sondern dass der "Musik- Instinkt" schon vor 50 000 Jahren im Überlebens- und Fortpflanzungskampf von Vorteil gewesen sein muss und noch ist: Vielen Studien zufolge erweisen sich musizierende Männer (und Männchen) als attraktiver.

Dass Levitin selbst Musiker und Hirnforscher ist, macht sein Buch dem ähnlich ausgerichteten von Christoph Drösser ("Hast Du Töne?", Spektrum der Wissenschaft 3/2010, S. 99) deutlich überlegen. Drösser hat Wesentliches von Levitin übernommen, begibt sich aber gelegentlich etwas amateurhaft auf musikwissenschaftliches Glatteis; insofern ist hier das Original vorzuziehen. Entsprechende Schnitzer unterlaufen Levitin nur selten. Zu stark vereinfachte Definitionen (dissonant: "nicht so schön klingend"; Synkope: "ein wenig vor dem Schlag") und reichlich unzutreffende Aussagen über die Neue Musik im Allgemeinen und den armen, unverstandenen "Zeitgenossen" Schönberg im Besonderen (atonale Stücke wurden bereits vor 100 Jahren komponiert, und "völlig neue Tonleitern" kommen darin auch nicht vor!) bereiten mir fast so viel Unbehagen wie ein unaufgelöster Tritonus, angeblich "für die meisten das unangenehmste Intervall überhaupt ".

Der persönlich gehaltene Schreibstil ist auch in der Übersetzung angenehm und vergnüglich zu lesen. Für besondere Anschaulichkeit sorgt die Schilderung der zahlreichen spannenden Experimente, an denen der Autor zum Teil selbst beteiligt war. Die zuweilen sehr üppige Garnierung mit Anekdoten von netten Nobelpreisträgern und verruchten Rockern wird durch sympathische Selbstironie aufgewogen.

Dieses Buch hat völlig zu Recht zwölf Wochen lang die Bestsellerliste der "New York Times" angeführt. Wer sich die Zeit nimmt, beim Lesen die vielen Musikbeispiele anzuhören (meistens ist die komplette Version den Beispielschnipseln vorzuziehen), dem ist voller Genuss gewiss.

PS: Unter http://www.science-shop.de/artikel/992651 lassen sich ein Blick in das Buch werfen und Musikbeispiele anhören.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 11/2010

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