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Die Spannung zwischen Entdecken und Erfinden

Wodurch unterscheiden sich eigentlich Naturwissenschaften von Geistes- oder Kulturwissenschaften? Diese zentrale Frage des 19. Jahrhunderts ist im Zuge der aktuellen Debatten um Gentechnologie und Kognitionsforschung als Frage nach der Deutungshoheit über die Natur oder über das Leben erneut brisant geworden – brisant bis hin zur Proklamierung eines "science war", wie ihn etwa Alan Sokals Angriff auf die postmodernen Kulturwissenschaften der USA mittels einer frei erfundenen "Transformativen Hermeneutik" der Quantenmechanik vor einigen Jahren auslöste.

Diese wichtige Frage konkretisiert sich für Olaf Breidbach als Frage nach der Spezifität des naturwissenschaftlichen Erkennens. Wie unterscheiden sich, wenn überhaupt, naturwissenschaftliche Beobachtungen beispielsweise von geschichtswissenschaftlichen Berichten? Breidbachs gleichermaßen historische wie systematische Untersuchung geht von der These aus, dass die Beobachtung in den Naturwissenschaften ihre Geschichte nicht verloren hat (S. 11). Naturwissenschaftliche Beobachtung ist Teil einer Kulturgeschichte, die ihrerseits immer auch eine Geschichte der Kultur des Wahrnehmens ist. Breidbach geht es somit um die Bedeutung der Geschichte des Beobachtens für eine Geschichte der (Natur-)Wissenschaft (S. 5). Er bindet damit die aktuellen Debatten um die Funktion des Bildes in den Wissenschaften und die Bildwissenschaft an zentraler Stelle in seine Studie ein.

Breidbach gliedert seine Ausführungen erstens in eine einleitende Erläuterung der wichtigsten Begriffe und Konzepte seines Ansatzes (S. 19ff.), zweitens eine Wissenschaftsgeschichte des Beobachtens (S. 49 ff.), drittens eine theoretische Deutung dieser historischen Befunde (S. 135 ff.) sowie viertens eine abschließende Wertung seiner Ergebnisse für die dargelegte Grundfrage nach dem Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaft (S. 185). Innerhalb dieses übersichtlichen und stringenten Rahmens werden dann eine Fülle von Einzelbefunden dargestellt, interpretiert und zueinander in Beziehung gesetzt, die in dieser Rezension keinesfalls angemessen in allen Details gewürdigt werden können. Deswegen beschränken wir uns auf die wichtigsten Ergebnisse.

Breidbach – selbst ausgebildeter Biologe und Biologiehistoriker – weiß, dass Naturwissenschaftler davon überzeugt sind, der wissenschaftliche Beobachter sei über seine (methodische) Beobachtung unmittelbar in der Welt verankert. Was er beobachtet ist real. Diese Gewissheit ist das fundamentum inconcussum des naturwissenschaftlichen Selbst- und Weltverständnisses (S. 19). Zur Steigerung dieser Gewissheit tragen auch alle methodischen Normierungen und Standardisierungen, alle messtechnischen Vereinfachungen, alle Protokolle, alle experimentellen Eingriffe bei. Aber: Sind solche normierten Beobachtungsdaten nun tatsächlich ein Abbild von Welt oder bestätigt sich in dieser Schablone nicht vielmehr ein subjektives Interesse an Welt (S. 21)? Diese Leitfrage – deren Beantwortung nicht einfach auf eine Erkenntnistheorie oder eine Methodenlehre der Wissenschaften hinausläuft und wissenschaftliche Beobachtungsdaten als unhinterfragten Ausgangspunkt hinnehmen kann, sondern gerade die Bedingungen der Erzeugung solcher Beobachtungen zum Problem erheben muss – bildet den roten Faden durch Breidbachs Buch.

Dabei wird deutlich, dass in der wissenschaftlichen Beobachtung Gegenstände nicht einfach repräsentiert werden, sondern dass die Beobachtung dem Beobachter einen Gegenstand nach seinen Maßgaben verfügbar macht. Der klassische Unterschied zwischen passiver Beobachtung (eines beschreibenden Freilandforschers etwa) und aktivem Eingriff (eines experimentellen Laborforschers) macht deshalb keinen Sinn. Aber auch die klare Grenze zwischen der durch die Erfahrung gesicherten Naturwissenschaft und einer bloß spekulativen Naturphilosophie – wie sie mit dem Programm der analytischen Schule der Biowissenschaften um Schleiden, Virchow und Du Bois Reymond am Beginn der modernen Biologie des 19. Jahrhunderts steht – verliert mit dieser Einsicht an Überzeugungskraft. Nicht vorurteilsfreie, reine und objektive Beobachtung bestimmt die Naturwissenschaft, sondern eine theoriengeleitete und -geladene, über Apparaturen und Instrumente vermittelte und normierte Bestandsaufnahme nach vorgegebenen Kriterien.

Im zweiten Teil seiner Ausführungen belegt Breidbach diese Einsicht an historischen Beispielen: Aristoteles' Beobachtungen der Entwicklung des Hühnereis werden hier vor dem Horizont von dessen Organismuskonzept erläutert (S. 50 f.), mittelalterliche Buch- und Tafelbilder erweisen sich als ideengeleitete Modelle der Naturdeutung (S. 59 ff.) und William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs wird als Interpretation vorliegender Befunde auf der Basis einer philosophischen Vorstellung von idealer Bewegung erklärbar (S. 77 ff.). In allen Fällen – und Breidbachs Beispiele umfassen weit mehr: Galilei, Andreas Vesalius, die Erfahrungsseelenkunde von Karl Philipp Moritz, Robert Kochs Bakterienlehre, Konrad Lorenz' Verhaltensforschung, Charles Bonnets Studien an Pflanzen usw. – wird deutlich, dass Beobachtungen nicht eine bloße Repräsentation des Gegebenen und Protokolle keine Wiedergabe des Geschehenen darstellen, sondern dass es stets um eine Exemplifikation eines Wissens geht, das erst vor dem Hintergrund einer vorgegebenen Theorie Relevanz erlangt (S. 63).

Die Theorievorgabe stellt den Rahmen dar, innerhalb dessen gemachte Beobachtungen ihren Sinn erlangen und in Beobachtungszusammenhänge eingegliedert werden. Vor allem dann, wenn der einzelne Beobachter in den Zusammenhang der wissenschaftlichen Laborgemeinschaft gestellt ist, sind Rollenzuweisungen, Normen, Beobachtungs- und Dokumentationsstandards sowie kontrollierte Messreihen Voraussetzungen für eine adäquate Beobachtung. Dazu gehört immer auch die entsprechende Beherrschung des technischen Equipments (S. 83 ff.). Dieses gilt vor allem dann, wenn die zu beobachtenden Phänomene sich dem normalen Zugang durch unsere Sinne entziehen und ein aufwendiges technisches Verfahren zur Sicherung von Daten notwendig wird. Das Bild, das hier erzeugt wird, ist offensichtlich nicht einfach beobachtet, sondern das Resultat eines Registrierungs- und Messprozesses (S. 95). Dennoch gelten die Bedingungen dieses "armierten Sehens" mutatis mutantis immer auch für das normale Sehen mit den leiblichen Augen: "Das Bild wird erst in der Theorie zu einem Befund über die Welt" (S. 95).

Wie der historische Abschnitt von Breidbachs Buch von dessen Theorie zur wissenschaftlichen Beobachtung durchdrungen ist, so wird umgekehrt der theoretische Abschnitt der Abhandlung (S. 135 ff.) mit historischem Inhalt gefüllt. Auch wenn dadurch die Systematik des Arguments in der Vielfalt des historisch Gegebenen unterzugehen droht, bleibt doch in dieser theoretischen Erörterung der Grundbefund der historischen Bestandsaufnahme erhalten: Naturwissenschaften setzen auf die Beobachtung als Basis ihrer Gewissheit. Diese Basis erfüllt allerdings nur dann die in sie gesetzten Hoffnungen, wenn die erlangte Gewissheit nicht im Wissen über etwas liegt, sondern in diesem Etwas selbst (S. 159). Dennoch hat auch die Naturwissenschaft ihre Gegenstände niemals wirklich unmittelbar durch bloßes Anschauen, sondern stets nur in der wissenschaftlichen Beobachtung, das heißt im geleiteten Sehen vor dem Hintergrund einer Theorie, im Rahmen einer Fragestellung und im Aufmerksamkeitsfokus einer wissenschaftlichen Intention.

Die damit entstehende Dialektik zwischen der Natur "an sich" und dem wissenschaftlichen Befund "für uns" ist wohl unabweisbar. Dieser Spannung zwischen "Entdecken" und "Erfinden" ist deshalb auch Breidbach in seiner Analyse ausgesetzt, er macht sie immer wieder deutlich, entscheidet sich dann jedoch letztlich für die "subjektive" Seite des Spannungsbogens. Unmittelbar ist demnach zunächst nur die Sicherheit, Erfahrung zu haben (S. 161). Dieses unmittelbar Reale ist jedoch zunächst noch nicht fest umrissen; es ist vage. Erst in der sukzessiven Präzisierung der Wahrnehmung – auch im praktischen Umgang mit den Objekten erworben – entsteht eine konturierte, differenzierte und kategorisierte Welt. Erfahrung ist damit kein sicheres unmittelbares Fundament eines Wissens über die Welt. Sie ist zunächst lediglich ein Sich-sicher-Sein über das Erfahren selbst und wird erst in der Theorie zu einem Sicher-sein über das Erfahrene. Wie Breidbach es abschließend formuliert: "Es gilt, der Wahrheit ins Auge zu sehen, dass wir uns zunächst auf uns selbst zu verlassen haben. Unmittelbarkeit ist keine von außen an uns herangetragene Versicherung von Geltung. Sie ist in uns selbst verortet" (S. 188).

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  • Quellen
BioSpektrum 1/2006

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