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Im Blitzlichtgewitter der Medien

Mario Gmür ist Psychiater und Privatdozent an der Universität Zürich. Er hat sich gründlich mit dem so genannten Medienopfersyndrom (MSO) beschäftigt. In seinem gleichnamigen Buch beschreibt er die seelischen Störungen, die eine aggressiv verletzende Publizistik auslösen kann, und stellt Fallbeispiele aus der Praxis vor.

Das Medienopfersyndrom umfasst die psychischen Folgen einer für das Opfer zutiefst beleidigenden medialen Berichterstattung, die keine Grenzen kennt und vor nichts Halt macht – auch nicht vor der intimsten Sphäre eines Menschen. Die Opfer entwickeln häufig Todesängste, Depressionen, Rachefantasien und den zwanghaften Drang, gegen tatsächliche oder vermeintliche Antipathien vorzugehen. Zwar tragen die Medien die Hauptschuld an der Auslösung der Symptomatik, jedoch sind es auch andere Faktoren, die den Schweregrad des Medienopfersyndroms bestimmen. Wird Menschen infolge einer "inakzeptablen publizistischen Aggressivität oder Fehlleistung" Schaden zugefügt, so erleiden diese häufig ein weitaus schwereres psychisches Trauma als die "unvermeidbaren Medienopfer", die durch "korrekte publizistische Leistungen" entstehen.

Gmür unterscheidet mehrere Formen publizistischer Gewalt: War im Mittelalter der Pranger ein Pfahl, an dem Straffällige durch ein Halseisen festgemacht und so dem Hohn der Öffentlichkeit preisgegeben waren, so ist der heutige mediale Pranger "ein Ventil für die Befriedigung von Schadensfreude, Sensationsgier, Missgunst und Sadismus". Die Überwachung ist eine Folge des technischen Fortschritts. Viele Menschen lassen es widerspruchslos zu, dass E-Mail-Verkehr überwacht, Gesundheitsdaten gesammelt oder biometrische Daten in den Pass eingetragen werden. Der gläserne Mensch ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Eien zweite Art der Verletzung erfolgt durch Stigmen, die bereits seit der Antike bekannt und ein sichtbares Merkmal der Schande sind. Der Autor unterscheidet drei Formen: Stigma durch angeborene Merkmale, durch Krankheit oder durch Zugehörigkeit zu einer Minderheit. Das Gerücht schließlich ist nur schwer aus der Welt zu schaffen: "Das Dementi einer Fehlinformation führt nicht zu deren Löschung. Es bleibt immer etwas hängen."

Ausgehend von diesen Arten medialer Gewalt, grenzt Gmür verschiedene Kategorien von Medienopfern gegeneinander ab. Hierzu zählen beispielsweise Paparazziopfer, Outingopfer, Tribunalisierungs-, Verhöhnungs- oder Oberflächlichkeitsopfer, und der Verfasser stellt sie zu Menschen, die anderen psychischen Strapazen ausgesetzt wurden, in eine Beziehung. Er macht so den Schweregrad der Belastung deutlich, der ein Medienopfer ausgesetzt ist: Während ein Mobbingopfer den Arbeitsplatz wechseln kann, kann ein Medienopfer "die Öffentlichkeit nicht auswechseln. Es gibt für immer kein Entrinnen."

Dennoch gibt es Möglichkeiten, die Medienaggressivität abzuwehren und so seelische Schäden zu vermeiden. Gmür gibt Tipps, wie man bereits im Vorfeld einer Medienkampagne Abwehrstrategien entwickeln und später – nach Abklingen der Kampagne – therapeutisch vorgehen kann, um eine Medienopfersymptomatik zu verhindern. Der Autor betont, dass das Vorgehen der Persönlichkeit angepasst sein muss.

Heftig kritisiert Gmür die heutige Medienlandschaft, in der der Sensationsjournalismus die sachliche Berichterstattung immer mehr verdrängt. Dies trifft sicherlich zu. Aber ob dies nur eine Eigenschaft der heutigen Gesellschaft ist, darf bezweifelt werden. Wie steht es mit den "panem et circenses" des römischen Dichters Juvenal, der dem römischen Volk vorwarf, sich nur noch zwei Dingen hinzugeben: Brot und Spielen? Die Lust auf Sensation gab und wird es immer geben. Doch ist es heute sicherlich schwieriger als früher, Grenzen zu setzen. Zum einen übertreffen die technischen Möglichkeiten unseres Informationszeitalters die früherer Epochen um ein Vielfaches. Riesige Fluten an Nachrichten können sich in kürzester Zeit über die ganze Welt verbreiten. Zum anderen ist unsere Gesellschaft marktwirtschaftlich orientiert: Die Existenz einer Zeitung hängt von ihren Absatzzahlen ab, die eines Senders von seinen Einschaltquoten.

Dies kann schlimme Folgen haben. Stärker denn je sind ethische Richtlinien angesagt, die für den Journalisten ein unabdingbares Muss sein sollten. Dabei befindet er sich auf einer schmalen Gratwanderung. Wo ist die Grenze zwischen einem Aufsatz, der ein gesellschaftlich bedeutendes Ereignis ans Licht bringt, und einer sensationslüsternen Story, die den Schutz der Persönlichkeit bedroht? Wie diese Problematiken zu bewältigen sind, lässt der Psychiater offen. Es kann wohl auch nicht gelingen, auf etwa 150 Seiten alle Perspektiven des vielschichtigen Medienopfersyndroms zu beleuchten.

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