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Sex matters: Die Sex-Vita

Frühe Erfahrungen können die Sexualität ein Leben lang prägen, sagt der Sexualtherapeut Carsten Müller. Warum der Blick zurück hilft, sich selbst zu verstehen: eine Kolumne.
Jugendliches Pärchen hält Händchen
Die erste Beziehung kann Spuren hinterlassen (Symbolbild).

»Meine Frau und ich haben uns heftig gestritten. Sie findet, dass wir seit einiger Zeit einfach zu wenig Sex haben. Wir schlafen wirklich nicht mehr miteinander, aber für mich ist das in Ordnung, weil wir uns oft einfach nahe sind und uns lieben. Meine Frau will darüber reden. Aber ich weiß nicht so recht, worüber ich mit ihr reden soll. Sie sagt, das wundere sie nicht: Sie müsse sich nur meine Eltern anschauen – in meiner Familie war Sex nie ein Thema. Wie finde ich heraus, was mit mir los ist?« (Lars*, 37 Jahre alt)

Was steckt dahinter, wenn irgendwann in unserem Leben etwas nicht mehr so funktioniert wie früher? Ein Grund kann sein, dass sich im »Außen« etwas verändert. Wie wir darauf reagieren, hängt aber von unserem »Innen« ab.

Jeder Mensch ist ein Ergebnis seiner Biografie, seiner Sozialisierung und Erziehung. Um sich selbst besser zu verstehen, hilft der Rückblick auf das gesamte sexuelle Leben, die »Biografiearbeit«. Wie war das eigentlich bei mir mit den ersten sexuellen Erfahrungen, mit den ersten Beziehungen? Und was haben mir mein Elternhaus und mein Umfeld mitgegeben?

Nur wenige Menschen setzen sich von sich aus mit ihrer sexuellen Biografie auseinander. Sie befürchten, dass etwas Unangenehmes zum Vorschein kommt. Der Blick in die eigene Vergangenheit macht unsicher. Als würde ich bei einem schönen Stadtbummel vom hellen Marktplatz in eine unbeleuchtete Gasse abbiegen, von der ich nicht weiß, wohin sie führt. Dabei gibt es viel zu entdecken. Der Blick in die eigene Biografie hat einen echten Mehrwert, wenn es darum geht, im Hier und Jetzt glücklich zu sein.

Bei unserem ersten Gespräch erzählte mir Lars zunächst von seiner aktuellen familiären Situation: seit neun Jahren verheiratet, drei Kinder, alle Wunschkinder. Der Kleinste sei gerade zwei Jahre alt geworden. Seine Frau und er seien einander sehr verbunden, hätten ein gutes Verhältnis. Bis sich die Frau eines Tages darüber beklagte, dass ihr Liebesleben völlig eingeschlafen sei. Er wusste, dass sie Recht hatte. Er fand es zwar schön, seiner Frau nahe zu sein – aber Sex, Penetration? Das war etwas, was ihm nicht mehr in den Sinn kam. Als ich nach dem Grund fragte, fand Lars keine Worte. Da habe ich vorgeschlagen, in seine Vergangenheit zu blicken.

Die sexuelle Biografie verstehen

Wenn wir uns damit beschäftigen, was unsere sexuelle Entwicklung beeinflusst hat, lernen wir uns selbst besser zu verstehen. Sind zum Beispiel meine Eltern zu Hause immer nackt durch die Wohnung gelaufen? Dann kann es sein, dass ich mich damit wohl fühle. Anders sieht es aus, wenn mich das als Kind in peinliche Situationen gebracht hat. Dann werde ich, wenn ich selbst Kinder habe, eigene Nacktheit eher vermeiden.

Wer hat mich wie aufgeklärt? Wann hatte ich meine erste Ejakulation, meinen ersten Orgasmus? Welche Erinnerungen habe ich an Masturbation, kam sie überhaupt vor oder war sie verboten? Mit wem habe ich, wenn überhaupt, über Sexualität gesprochen? Bei Menschen, die in ihrer Kindheit Verbote und Kritik erlebt haben, wenn sie sich selbst berührt haben, sind die Folgen für die sexuelle Biografie deutlich sichtbar: Schuldgefühle, Vermeidung, Scham. Wenn mir Klienten erzählen, dass sie mit 14 oder 15 Jahren Pornos geschaut haben, vom Vater erwischt wurden, Riesenärger bekamen und beschämt wurden, dann ist klar, dass sich das auf die spätere Sexualität auswirken kann.

Die Forschung belegt, wie stark frühe sexuelle Erfahrungen das Wohlbefinden im Erwachsenenalter beeinflussen. Ein Beispiel: Mädchen, die früh gegen ihren Willen zum ersten Geschlechtsverkehr gezwungen oder überredet werden, haben es später schwerer, befriedigende Beziehungen zu führen, und sie berichteten über eine schlechtere psychische und teils auch schlechtere körperliche Gesundheit. Das ergab eine Untersuchung von irischen Forscherinnen an 3875 erwachsenen Frauen.

Wenn Menschen sich mit ihrer sexuellen Biografie auseinandersetzen und Zusammenhänge erkennen, entwickeln nicht nur sie ein besseres Verständnis für ihre Situation. Auch die Partner verstehen besser, was vor sich geht. Denn sie erfahren, was den Menschen an ihrer Seite geprägt hat. Der Partner muss deshalb nicht alles akzeptieren, aber Wissen und Verstehen helfen dabei, unterstützend und weniger anklagend zu reagieren.

Lars hatte ein katholisches Elternhaus, er selbst war Messdiener. Zärtlichkeiten zwischen seinen Eltern kannte er nicht, nur emotionale Nähe. Über Sexualität wurde nicht gesprochen, weder im Elternhaus noch im weiteren Umfeld. Außer, wenn es darum ging, Verhalten zu maßregeln. Die Hand zwischen den Beinen – das war pfui. Sein Wissen über Sexualität hatte Lars aus dem Biologieunterricht und aus dem Internet. Seine erste intime Beziehung hatte er spät, mit 26 Jahren. Und aus dieser Freundin wurde bald seine Frau.

Ich habe Lars gefragt, welche Momente ihm einfallen, wenn er an sein Sexualleben denkt: An welche Momente erinnert er sich gerne, welche waren besonders erfüllend? »Das war die Nacht, in der meine Frau zum ersten Mal schwanger wurde«, antwortete er. Warum? »Weil sie schwanger wurde.« – »War dieser Sex für Sie lustvoll?« Er schwieg nachdenklich. Auf weitere Nachfragen stellten wir fest: Er hatte Lust erlebt. Aber die Lust war dadurch begründet, dass der Zeugungsakt stattfinden sollte. Immer ging es darum, dass er und seine Frau sich Kinder wünschten.

Lag hier der Kern des Problems? Im weiteren Gespräch fanden wir heraus, dass er mit seiner Frau nur Sex hatte, solange der Kinderwunsch bestand. Nach dem dritten Kind war es damit vorbei. Es gab keinen Grund mehr, Sex zu haben. Lars kannte Sex schlicht als Mittel zur Fortpflanzung. Lust um der Lust willen: Das gab es einfach nicht.

Vielen meiner Klienten geht es wie Lars. In der Biografiearbeit werden sie sich bewusst, wo sie herkommen. Das hilft ihnen dabei, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Lars ist neue Wege gegangen – erst langsam, dann immer sicherer. Anfangs fühlte er sich noch merkwürdig dabei, Sex zu haben, ohne ein Kind zeugen zu wollen. Doch nach einigen Wochen berichtete er, dass er sich immer freier fühlte.

Und jetzt sind Sie dran: Die eigene Sex-Vita schreiben

Beantworten Sie fünf Fragen zu Ihrer sexuellen Biografie: Wie sind Sie aufgeklärt worden? Welchen Zugang hatten Sie zu Ihrem Körper? Was hat sich in der Pubertät für Sie verändert? Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre ersten Beziehungen? Welche Erlebnisse haben Ihre späteren sexuellen Beziehungen beeinflusst? Versuchen Sie, Ihre aktuelle Sexualität vor diesem Hintergrund zu betrachten und Verständnis für sich selbst zu entwickeln.

* Name geändert

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