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Freistetters Formelwelt: Zur Ehrenrettung der Milchmädchen

Wenn man zum Rechnen die Finger benutzt, ist das nicht unbedingt ein Zeichen von mangelnden Mathefähigkeiten. Sondern manchmal sogar ziemlich schlau.
Ein Junge rechnet mit den Fingern

Wer etwas als eine »Milchmädchenrechnung« bezeichnet, meint damit meistens, dass ein komplexes Thema auf eine zu naive Art betrachtet wird. Man ignoriert relevante Aspekte, und das erhaltene Ergebnis mag zwar plausibel erscheinen, ist aber dennoch falsch. Tatsächlich kann man in der Geschichte zu diesem heute abwertend gemeinten Begriff aber auch echte Mathematik finden. Eine Milchmädchenrechnung kann zum Beispiel so aussehen:

Diese Formel beschreibt, was die Berliner Milchverkäuferin Anna Schnasing im 19. Jahrhundert angeblich praktizierte. Sie vertrieb frische Milch der Meierei C. Bolle an Menschen überall in der Stadt – und sie war nicht gut im Kopfrechnen. Zahlen zwischen 1 und 5 konnte sie noch einigermaßen multiplizieren, aber bei größeren Beträgen scheiterte sie.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Dadurch stimmten ihre Einnahmen nicht mit der Erwartung überein, was verständlicherweise zu Ärger führte. Nach einem Ausflug in ihre Heimat im Spreewald war sie auf einmal in der Lage, auch über 5 hinausgehende Zahlen schnell und problemlos zu multiplizieren. Niemand wusste, warum, aber sie benutzte dafür ihre Finger, und zwar auf eine ganz besondere Weise.

Um etwa 6 mal 8 zu berechnen, zählte sie zuerst nach einem eigentümlichen System die erste Zahl auf der linken Hand ab. Bis 5 werden die Finger ausgestreckt, danach wieder eingeknickt. Im Beispiel ist nun also ein Finger der linken Hand eingezogen. Mit der rechten Hand und der zweiten Zahl wird ebenso verfahren; hier sind entsprechend drei Finger geknickt.

Nun zählt man die eingezogenen Finger beider Hände zusammen, also 1+3=4 und multipliziert das ganze mit 10. Das Ergebnis 40 merkt man sich. Danach multipliziert man die Zahl ausgestreckter Finger der linken Hand mit der entsprechenden Anzahl auf der rechten Hand. Beide Zahlen sind ja zwangsläufig kleiner als 5, und das Ergebnis (4 · 2 = 8) wird zur gemerkten Zahl aus dem ersten Schritt addiert: 40 + 8 = 48.

Rechnen mit den Fingern

Wer mit Multiplikation überhaupt nichts anfangen kann, kann die zweite Rechnung natürlich auch durch schlichte Addition lösen: Die Zahl der ausgestreckten Finger der linken Hand wird einfach so oft zu sich selbst addiert, wie es die Finger der rechten Hand anzeigen.

Mit ein wenig Übung kann man so sehr schnell zwei Zahlen zwischen 5 und 10 miteinander multiplizieren, selbst ohne das entsprechende Einmaleins zu beherrschen. Dass das Ganze auch mathematisch korrekt ist, zeigt die Formel oben. a und b stehen für die Zahl der eingeknickten Finger der linken und der rechten Hand – und damit (5 + a)·(5 + b) für die durchzuführende Multiplikation. Die Rechnerei mit den Fingern wird auf der linken Seite der Gleichung formuliert. Es ist nicht schwer, sich davon zu überzeugen, dass die Formel tatsächlich korrekt ist.

Es gibt noch viele andere Fingerrechenmethoden, die teilweise weit über die eben beschriebene simple Methode hinausgehen und überall auf der Welt seit dem Altertum eingesetzt werden. Ob aber der Begriff »Milchmädchenrechnung« seinen Ursprung tatsächlich in der Geschichte über die Rechenfähigkeiten der Anna Schnasing hat, ist bestenfalls umstritten – auch wenn sie gerne immer wieder erzählt wird.

Wirklich belastbare Quellen dafür sind nicht zu finden, und der Ausdruck selbst wird schon viel länger verwendet (zum Beispiel in der Erzählung »Der Blutschatz« von Heinrich Clauren aus dem Jahr 1823). Der weitaus plausiblere Ursprung der Milchmädchenrechnung findet sich in der Fabel »Der Milchtopf« von Jean de La Fontaine. Darin trägt die Magd Lisette einen Topf voll Milch zum Markt und berechnet unterwegs schon begeistert, wie sie den Verkaufserlös investieren wird. Da sie dabei nicht aufpasst und die Milch verschüttet, verdient sie am Ende gar nichts.

Das enthält sogar eine vernünftige Moral, wie es sich für eine Fabel gehört. Aber eben leider keine interessante Mathematik, weswegen ich mich für die nicht belegte, dafür jedoch formeltaugliche Geschichte des Berliner Milchmädchens entschieden habe.

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