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Storks Spezialfutter: Stellt die Verbindung her!

Unser Umweltkolumnist Ralf Stork hat ein neues Wort entdeckt: »Solastalgie«. Was es mit toten Fichten zu tun hat? Das lohnt sich herauszufinden, ganz individuell. Das Jahr ist ja noch jung.
Fichtenkalamität im Harz
Nicht nur wie hier im Harz, in ganz Deutschland gehen derzeit die Fichtenmonokulturen zu Grunde. »Solastalgie« kann man aber auch bei weniger dramatischen Verlusterfahrungen verspüren – je nach Bezug zu Natur.
Der Welt steht ein Umbruch bevor – ob die Menschheit will oder nicht: Landwirtschaft, Verkehr und Energiegewinnung müssen nachhaltig und fit für den Klimawandel werden, gleichzeitig gilt es, eine wachsende Weltbevölkerung mit wachsenden Ansprüchen zu versorgen. Was bedeutet das für uns und unsere Gesellschaft? Und was für die Umwelt und die Lebewesen darin?
In »Storks Spezialfutter« geht der Umweltjournalist Ralf Stork diesen Fragen einmal im Monat auf den Grund.

Vor Kurzem habe ich ein neues Wort kennen gelernt, das mir sehr gut gefällt. Wobei ich den Begriff auch problematisch finde, aber dazu gleich mehr. Das Wort heißt »Solastalgie« und ist gerade 18 geworden. Es wurde 2005 von dem australischen Naturphilosophen Glen Albrecht geprägt. Solastalgie ist eine Kombination aus dem lateinischen Wort für Trost (solacium) und der griechischen Wurzel »-algia«: Schmerz, Leiden Krankheit. Albrecht definiert Solastalgie als den Schmerz, den man empfindet, wenn der geliebte Ort, an dem man wohnt, im Hier und Jetzt verletzt und angegriffen wird.

Albrecht hat den Begriff nicht aus Langeweile erfunden, sondern weil er ihn brauchte: Er untersuchte die Auswirkungen von Dürrekatastrophen und von einem großflächigen Tagebau in New South Wales in Australien. Die betroffenen Menschen berichteten immer wieder von der Verlusterfahrung, von negativen Gefühlen und der Empfindung der Machtlosigkeit gegenüber den Veränderungen in ihrer Umwelt. Und weil es dafür bislang noch keinen passenden Ausdruck gegeben hatte, kam schließlich die Solastalgie in die Welt. Der Begriff bezieht sich auf den Raubbau an der Natur und immer häufiger auf die Auswirkungen des Klimawandels: An Solastalgie können Menschen leiden, in deren Heimat sich ein Tagebau durch den Boden frisst. Aber auch Menschen, die mit Schrecken sehen, wie Dürre und Borkenkäfer im Harz und anderswo apokalyptisch anmutende Landschaften geschaffen haben.

Es gibt aber zwei Sachen, die mich an den Begriff stören: Zum einen wird er häufig auf die Empfindungen von Menschen in westlichen Gesellschaften angewendet. Das heißt auf Menschen, denen das Wasser wahrscheinlich nicht bis zum Hals steht. Das macht die Solastalgie zum Luxusgefühl jener, die nicht um das Überleben kämpfen. Wem das Extremwetter die Ernte vernichtet, der hat nicht Solastalgie, oder jedenfalls nicht nur, sondern Hunger. Zum anderen lebt der oder die an Solastalgie Leidende in doppeltem Luxus. Denn ganz offenbar umgab ihn oder sie bisher eine halbwegs intakte Umwelt. Das kann heutzutage aber nur eine Minderheit von sich behaupten. Die Mehrheit der Menschen ist in einer Natur zu Hause, die durch wirtschaftliche Not, aber auch Gier zerstört worden ist.

Und drittens finde ich den Begriff schwierig, weil mit ihm eine gewisse Apathie verbunden ist, ein Erdulden der Umstände. Zumindest ist mir nicht klar, wie aus der solastalgischen Hoffnungslosigkeit die Fähigkeit zum Handeln erwachsen soll.

Die Verbindung ist unbemerkt, aber ungebrochen

Da mag es Sie überraschen, dass ich den Begriff trotzdem gut und wichtig finde. Das liegt daran, dass er die Natur dicht an die Gesellschaft und das Alltagsleben der Menschen heranrückt. Das Gefühl, das er benennt, macht deutlich: Auch nach Jahrtausenden der Entfremdung von und Erhebung über die natürliche Welt sind wir immer noch Teil derselben. Geht es ihr gut, geht es uns gut. Geht es ihr schlecht, leiden wir, oftmals ohne es zu merken. Die Natur ist eben nichts von uns Abgegrenztes, das wir für Wirtschaft und Konsum verbrauchen können, ohne dass es Konsequenzen hätte.

Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von Studien, die belegen, dass die Natur ein wichtiger Faktor für unser Wohlergehen ist. In den USA hat sich gezeigt, dass das Risiko, an Depressionen zu erkranken, in Tagebauregionen signifikant erhöht ist. Die Zerstörung der Umwelt hat nachweisbare Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Menschen, wobei die sozial Schwachen besonders betroffen sind. Forscherinnen und Forscher des Senckenberg Forschungszentrums für Biodiversität und Klima in Frankfurt haben belegt, dass eine größere Artenvielfalt an Vögeln im Wohnumfeld genauso glücklich macht wie eine Gehaltserhöhung. Zugleich ergab eine Studie, dass sich Grünflächen in deutschen Großstädten vor allem in jenen Vierteln finden, in denen Begüterte leben.

Nähmen wir das ernst, diese Erkenntnis einer innigen Verbindung zwischen Mensch und Natur, dann könnte das zu größeren Anstrengungen für mehr echten Naturschutz führen. Ernst nehmen hieße aber auch, die Verbindung zur Natur nicht nur in abstrakten Zusammenhängen zu suchen, sondern sie zu spüren, sie aktiv zu erleben.

Vorsatz: Naturverbindung schaffen

In der Praxis ist das erstaunlich einfach: Auf den Hinterhöfen rund um meine Wohnung leben zum Beispiel ein Nebelkrähenpaar und ein Elsternpaar. Fast täglich lege ich ihnen ein paar Erdnüsse auf den Balkon. Dadurch sind sie mir häufig so nah, dass ich mir einbilde, sie auseinanderhalten zu können: Eine der Nebelkrähen hat rechts einen hellen Streifen im schwarzen Brustgefieder, und bei den Elstern ist eine etwas kleiner und runder als die andere. Ich freue mich immer, wenn ich sie sehe, weil ich weiß, es sind die gleichen Individuen wie gestern und am Tag zuvor. Diese Vögel sind hier genauso zu Hause wie ich. Würde einem von ihnen etwas zustoßen oder würde einer der Nistbäume gefällt, ich trauerte – ganz solastalgisch – um den Verlust der Natur. Gäbe es diese Verbindung nicht, würde ich es wahrscheinlich noch nicht einmal bemerken, wenn Krähen, Elstern, Eichelhäher, Ringeltauben, Meisen, Baumläufer, Spechte und Spatzen, die zum Ökosystem der Berliner Hinterhöfe und Gärten in meinem Umfeld gehören, plötzlich fehlen.

Die stillen Tage zwischen den Jahren sind gerade erst vorbei, das neue Jahr liegt noch frisch und unschuldig da. Wer noch nach einem guten Vorsatz sucht – hier wäre einer: regelmäßig raus in die Natur und genau wahrnehmen, was dort an Vielfalt alles vorkommt und warum! Pures Staunen, kleines Glück. Ganz beiläufig tut man so Gutes für das eigene Seelenheil und für den Erhalt der Natur.

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