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Entsteht Phantomschmerz durch Reorganisation der Signalleitung im Gehirn?

Nach der Amputation von Gliedmaßen werden die dadurch funktionslos gewordenen Zonen der Großhirnrinde allmählich durch Nervenimpulse aus anderen Körperregionen aktiviert. Je mehr sich das corticale Reaktionsmuster umstellt, desto stärker sind die Phantomschmerzen.

Amputierte können das entfernte Körperteil oft noch spüren. Sie haben das Gefühl, daß es juckt oder kribbelt oder eine bestimmte Position einnimmt (die abgenommene Hand etwa zur Faust geballt ist). Zudem empfinden sie manchmal intensive brennende Schmerzen im nicht mehr vorhandenen Glied, die äußerst quälend sein können. Obwohl es etliche Theorien zur Entstehung solcher Phantomschmerzen gibt, ist ihre genaue Ursache bisher unbekannt.

In jüngerer Zeit ergaben Untersuchungen zu Veränderungen im Gehirn nach Nervenläsionen allerdings einen neuen Erklärungsansatz. Seit langem ist bekannt, daß jeder Körperregion ein ganz bestimmtes Gebiet im sogenannten somatosensorischen Cortex (einem Teil der Hirnrinde) zugeordnet ist (Bild 1 oben): Dort kommen die Nervenimpulse von der betreffenden Körperregion an und werden weiterverarbeitet. Früher glaubte man, daß diese Zuordnung bei Kindern noch veränderlich, bei Erwachsenen dagegen starr festgelegt sei.

Im Jahre 1984 stellten jedoch der Neurowissenschaftler Michael Merzenich und seine Mitarbeiter am Keck-Zentrum der Universität von Kaliforni-en in San Francisco bei Versuchen mit Affen fest, daß einige Wochen nach der Amputation eines Mittelfingers die ihm zugeordnete Cortexregion auch auf Reizungen des Zeige- oder Ringfingers zu reagieren begann: Das funktionslos gewordene Hirngebiet wechselte offenbar seine Zuordnung.

Eine noch dramatischere Verschiebung der Repräsentationsregion um mehrere Zentimeter fanden Tim Pons und seine Mitarbeiter am amerikanischen Nationalinstitut für geistige Gesundheit im Jahre 1991. Bei erwachsenen Affen, denen zwölf Jahre vorher die Nervenbahnen von den Armen zum Rückenmark durchtrennt worden waren, verursachte eine Stimulation des Kinn- und Mundbereichs Nervenaktivität in der Hirnregion, an der normalerweise Signale von den Armen ankommen.

In beiden Studien wurde das neuronale Erregungsmuster mit ins Hirn eingeführten Mikroelektroden gemessen. Solche invasiven Verfahren sind beim Menschen nicht anwendbar. Für unsere Untersuchungen an amputierten Personen verwendeten wir deshalb die Magnetenzephalographie, bei der keinerlei Eingriffe oder Injektionen irgendwelcher Markersubstanzen erforderlich sind. Sie ist mit der schon lange etablierten Elektroenzephalographie (EEG) vergleichbar; die Meßwerte hängen aber weniger stark von der Dicke und Beschaffenheit von Schädel und Kopfhaut ab. Registriert werden Magnetfelder, die als Nebenerscheinungen der neuronalen Aktivitäten auftreten.

Als Detektoren dienen SQUIDs (superconducting quantum interference devices, siehe Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1994, Seite 58). Sie bestehen aus einem supraleitenden Ring, der von ein oder zwei dünnen nichtleitenden Bereichen (Josephson-Kontakten) unterbrochen ist. Der durch den quantenmechanischen Tunneleffekt bedingte Stromfluß über diese Bereiche hinweg hängt von Magnetfeldern ab, die durch den Ring hindurchgehen. Mit SQUIDs lassen sich noch Felder einer Stärke von nur 50 bis 500 Femtotesla nachweisen, wie sie von der Großhirnrinde typischerweise erzeugt werden; dies entspricht einem Milliardstel bis 100 Millionstel des irdischen Magnetfeldes. Die räumliche Auflösung beträgt wenige Millimeter, die zeitliche eine Millisekunde.

Für die Messungen führten wir 37 Detektoren über dem Scheitel- und Schläfenlappen dicht an den Kopf der Versuchspersonen heran. Gleichzeitig bildeten wir das Gehirn mittels Kern-spin-Computertomographie ab. Wir untersuchten einseitig arm- oder handamputierte Patienten, um die Aktivität in der betroffenen Gehirnhälfte direkt mit der in der ungestörten anderen vergleichen zu können.

Als erstes stellten wir fest, daß die Entfernung eines Glieds beim Menschen langfristig die gleichen Veränderungen im Reaktionsmuster des Cortex nach sich zieht, wie sie bei Affen beobachtet worden sind. So erzeugte eine einfache Reizung von Mund oder Kinn gleichfalls Nervenaktivität in der Hirnregion, die früher Arm oder Hand zugeordnet war (Bild 1 unten). Allerdings variierte das Ausmaß, in dem das Mund/Kinn-Gebiet sich in den einstigen Armbereich hinein verschoben hatte. Woher rührten diese Unterschiede?

Einen deutlichen Hinweis gaben Auskünfte der Patienten über Häufigkeit und Intensität von Stumpf- und Phantomschmerzen oder anderen Phantomempfindungen. Dabei zeigte sich ein klarer Zusammenhang: Je öfter und stärker die Phantomschmerzen waren, desto tiefer in der Hand/Fingerregion trat Nervenaktivität auf, wenn die Mund/Kinnpartie gereizt wurde. Während die Verschiebung bei stark leidenden Patienten bis zu zwei Zentimeter betrug, war sie bei symptomfreien minimal oder gar nicht nachzuweisen. Interessanterweise zeigte sich demgegenüber kein eindeutiger Zusammenhang zwischen corticaler Reorganisation und nicht schmerzhaften Empfindungen in dem abgetrennten Körperteil.

Noch kann man aus unseren Ergebnissen nicht schließen, daß Funktionsänderungen in den von der Amputation betroffenen Hirnregionen den Phantomschmerz verursachen. Allerdings ist die statistische Korrelation zwischen subjektivem Schmerzempfinden und den gemessenen Verschiebungen im corticalen Aktivitätsmuster sehr hoch. Mit weiteren Untersuchungen wollen wir nun Aufschluß darüber gewinnen, wie sich die Reorganisation der Hirnrinde und der Phantomschmerz nach der Amputation entwickeln.

Unsere Befunde haben durchaus auch Konsequenzen für die Behandlung. Demnach könnten Maßnahmen, welche die Verschiebungen des Zuordnungsmusters im Cortex rückgängig machen, vielleicht auch den Phantomschmerz mildern. In Tierversuchen ließ sich bereits zeigen, daß Trainingsprogramme, wie sie in der Verhaltenstherapie eingesetzt werden, das neuronale Aktivitätsmuster im Gehirn beeinflussen. Dies könnte auch für den Phantomschmerz ein vielversprechender therapeutischer Ansatz sein.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1996, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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