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Psychiatrie: Neues vom Zappelphilipp

ADS: verstehen, vorbeugen und behandeln
Walter, Düsseldorf 2002. 154 Seiten, € 14,90


Dieses Buch wartet zunächst mit beeindruckenden Zahlen und Fakten auf: Lag 1990 die Zahl der Kinder, die wegen des "Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms" (ADS) in den USA ärztlich behandelt wurden, noch unter einer Million, so sind es heute schon über 10 Millionen. In Deutschland sind schätzungsweise 170000 bis 350000 schulpflichtige Kinder betroffen; davon werden heute etwa 50000 mit Ritalin und anderen Medikamenten behandelt. Bei diesen Mitteln, die noch 1990 in Deutschland gerade mal in 1500 Fällen verordnet wurden, handelt es sich um Amphetamine, welche die Dopaminregulation im Gehirn normalisieren und damit Verhaltensauffälligkeiten entgegenwirken sollen.

Gerald Hüther, Hirnforscher aus Göttingen, und Helmut Bonney, Kinderpsychiater und Familientherapeut aus Heidelberg, haben ein leidenschaftliches Plädoyer gegen diese Anpassung auf Rezept geschrieben. Zur Begründung führen sie zweierlei an. Erstens: Erst seit bestimmte Verhaltensweisen von Kindern – überschießende Impulsivität, motorische Unruhe, mangelnde Aufmerksamkeit – als so sehr normabweichend angesehen wurden, dass man sie als Krankheit namens ADS einstufte, wurden sie auch diagnostiziert und medikamentös behandelt. Das ist seit Mitte der 1980er Jahre der Fall. Zweitens: Neue Erkenntnisse der Hirnforschung lassen die "Dopaminmangelhypothese", auf der die Therapie mit Psychopharmaka beruht (Spektrum der Wissenschaft 3/1999, S. 30), als äußerst fragwürdig erscheinen.

Hüther und Bonney legen nun eine Erklärung für ADS vor, die das Kind in seiner Entwicklung und in seinen Umweltbezügen in den Mittelpunkt rückt. Damit reihen sie sich ein in die immer größer werdende Schar derjenigen, die einer pharmakologischen Therapie des ADS kritisch gegenüberstehen, und sprechen gewiss vielen ebenfalls kritischen Eltern aus der Seele. Sie müssen allerdings mit Widerspruch vor allem derer rechnen, die Ritalin und ähnliche Präparate in den letzten Jahren als wahren Segen erlebt haben. Ich kenne zahlreiche Lehrer, in deren Klassen vormals unkonzentrierte Zappelphilippe sich endlich ihren Aufgaben widmen können.

Die Autoren erklären in gut verständlicher Sprache, wie sich das kindliche Gehirn in Wechselwirkung zwischen biologischer Grundausstattung und Außenreizen formt und wie das Kind seine persönlichen Verhaltensmuster erwirbt. Ein besonderes Anliegen ist ihnen die Bedeutung der frühen Bindungserfahrungen zwischen Eltern und Kind. Sind die Bindungen stabil, geben sie dem Kind emotionale Sicherheit, was die Benutzung des Gehirns beeinflusst.

Was hat das mit dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom zu tun?

Hüther und Bonney argumentieren folgendermaßen: Es gibt Kinder, die schon von Geburt an unruhiger sind als andere, die häufiger schreien, wacher, aufgeweckter, leichter stimulierbar, insgesamt "empfindlicher" sind. Bei diesen Kindern ist dementsprechend schon von Beginn an das dopaminerge System aktiver. Dessen zentrales Merkmal ist die Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin, die immer dann stattfindet, wenn Unerwartetes, Neuartiges, Aufregendes wahrgenommen wird. Bei Kindern mit besonders aktivem dopaminergem System entwickelt sich nun rasch eine Hirnstruktur, die besonders leicht durch alle möglichen Reize stimulierbar ist. Diese innere Unruhe ist von den Kindern selbst nicht kontrollierbar. Ihre Zappeligkeit macht sie wiederum zu "schwierigen" Zeitgenossen, lässt sie in psychosoziale Konflikte geraten, sodass selbst die Eltern unsicher werden und es schwer haben, dem Kind eine sichere Bindung zu bieten.

Hüther und Bonney bemerken sehr wohl, dass ihr Erklärungsmodell im Widerspruch steht zu den Erfolgen der Therapie des ADS mit Psychopharmaka. Deren Wirkung beruht ja gerade darauf, dass die Dopaminausschüttung im Gehirn der Kinder angeregt wird. Doch dieser Widerspruch, so die Autoren, sei bloß ein scheinbarer. Die durch die Medikamente ausgelöste, plötzliche und massive Freisetzung von Dopamin führe zu einer schnellen Entleerung der Dopaminspeicher, die dann nur langsam und allmählich mit neu gebildetem Dopamin aufgefüllt würden. In dieser Zeit, zirka vier bis sechs Stunden, ist die Dopaminfreisetzung nicht mehr so gut durch neue Reize stimulierbar. Dies ist die Zeit, in der die Kinder ruhiger werden und sich konzentrieren können – so lange, bis der alte Zustand wieder erreicht ist. Lehrer, die unter Behandlung stehende Schüler in ihren Klassen haben, wissen davon ein Lied zu singen, denn die Wirkung hält oft schon nicht mehr bis zur sechsten Unterrichtsstunde an.

Welche Alternativen schlagen die Verfasser nun vor? Hüther und Bonney setzen beim Verhalten der Kinder und bei der Arbeit mit dem Umfeld an. Sie fordern den frühen Beginn therapeutischer Maßnahmen, damit die für das ADS charakteristische Nutzung des Gehirns sich gar nicht erst verfestigt. In einer Reihe von Fallbeispielen wird gezeigt, wie durch klare Zielvereinbarungen die Eltern zur Mitarbeit gewonnen werden können und wie durch spezifische, motivierende Hilfestellungen (zum Beispiel kunsttherapeutische Gestaltung, Arbeit mit Lern-Software) die Kinder zur Ruhe gebracht werden.

So nachvollziehbar das Plädoyer der Autoren für ein komplexes Vorgehen auch ist: Der Anspruch, Kinder mit ADS und ihre Familien nunmehr in erster Linie durchgängig familientherapeutisch zu behandeln, dürfte im Alltag kaum umsetzbar sein. Dennoch: Für mich ist die neurobiologische Argumentation des Buches sehr schlüssig und überzeugend. Es liefert viel Stoff für eine kritische Diskussion des Themas und sollte von Kinderärzten, Lehrern, Therapeuten und engagierten Eltern unbedingt beachtet werden.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2003, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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