Direkt zum Inhalt

Astronauten im Winterschlaf: »Das fühlt sich an wie eine Narkose«

Die Reise zum Mars ist weit. Da wäre es hilfreich, die Astronauten in eine Art Winterschlaf versetzen zu können. Ob und wie das möglich ist, erklärt der Zellbiologe Jürgen Bereiter-Hahn im Interview.
Astronauten schlafen in einer Glaskapsel
So oder so ähnlich könnte es aussehen, wenn Menschen auf der Reise zum Mars in eine Art künstlichen Winterschlaf versetzt werden. Das würde viele Ressourcen einsparen und den psychischen Stress der Crew reduzieren.

Herr Bereiter-Hahn, Sie haben viele Jahre lang für die Europäische Raumfahrtagentur ESA erforscht, ob und wie sich eines Tages Astronauten auf ihrer Reise durchs All in eine Art Winterschlaf versetzen lassen. Warum ist die ESA daran interessiert?

Eine bemannte Reise beispielweise zum Mars dauert mehrere Monate. Während dieser Zeit müssen die Menschen an Bord unter anderem mit Sauerstoff, Wasser und Nahrung versorgt werden. Würden die Astronauten die Reise in einer Art Winterschlaf verbringen, ließen sich die erforderlichen Vorräte und die psychische Belastung der Crew deutlich reduzieren. Das wäre im Erfolgsfall ein echter Game Changer. Praktisch alle Raumfahrtorganisationen sind an dem Thema dran. Daher hat auch die ESA Spezialisten beauftragt, sich damit zu beschäftigen. So eine Gruppe habe ich seit 2014 geleitet, zusammen mit einem Marburger Biologen, der sein gesamtes Forscherleben lang den Winterschlaf untersucht hat. Ich komme aus dem Bereich der Zellbiologie und beschäftige mich mit dem Energiestoffwechsel. Im November 2023 habe ich die Leitung des Teams jedoch aus Altersgründen abgegeben.

Wie lange kann ein Mensch denn maximal schlafen?

Das lässt sich nicht so leicht beantworten. Verschiedene Formen von Koma können Tage oder Monate dauern, sind jedoch im engeren Sinn kein Schlaf. Wir müssen die Begriffe voneinander trennen: Winterschlaf etwa hat im Deutschen nur das Wort mit dem echten Schlaf gemeinsam. Wir sprechen lieber von Torpor, dem physiologischen Zustand eines Tiers im »Winterschlaf«. Die betroffenen Tiere sind vollkommen inaktiv und befinden sich in einem Zustand der körperlichen Starre. Die Funktion des Torpors ist, in Zeiten von Stress den Stoffwechsel zu reduzieren. Es gibt Torpor auch unter warmen Bedingungen, wenn Tiere zum Beispiel in Wüsten Trockenperioden überstehen müssen. Daher ist der Begriff Winterschlaf im Zusammenhang mit der Raumfahrt ohnehin falsch.

Was versteht man denn physiologisch unter Torpor?

Auf Zellebene fährt der gesamte Energiestoffwechsel runter, zum Beispiel die Atmungsprozesse in der Zelle sowie die Protein- und die DNA-Synthese. Der Gesamtstoffwechsel sinkt auf bis zu etwa fünf Prozent des normalen Umsatzes. Das ist wirklich extrem. Murmeltiere, Streifenhörnchen und Siebenschläfer können ihre Temperatur auf nahe null Grad reduzieren. Tiefer geht es nicht mehr.

Siebenschläfer sind dem Menschen aber nicht besonders ähnlich …

Jürgen Bereiter-Hahn | Der emeritierte Professor der Zellbiologie und Neurowissenschaft leitete von 2014 bis 2023 das Team »Hibernation and Torpor« bei der ESA, das sich mit der Frage auseinandersetzt, ob sich Menschen in einen winterschlafähnlichen Zustand versetzen lassen.

Nein. Daher hat unser ESA-Team Braunbären als Modellorganismus gewählt. Sie halten monatelang Winterschlaf und sind als Vorbild gut geeignet, da sie ihre Köpertemperatur von 37 Grad auf nur etwa 32 Grad Celsius senken. Das würden auch wir Menschen aushalten. Niedrigere Körpertemperaturen können zum Tod führen. Wir wissen von Lawinenopfern, was Menschen gerade noch tolerieren. Betroffene haben eine Unterkühlung über einige Stunden überlebt – wenn auch nicht in einem natürlichen Zustand, sondern in einer notbedingten Ausnahmesituation. Der Winterschlaf von Braunbären ist allerdings nach Ansicht einiger Wissenschaftler gar kein echter Winterschlaf, weil ihre Körpertemperatur relativ hoch bleibt. Jedoch reduzieren auch Bären ihren Stoffwechsel um etwa 75 Prozent. Während dieser Zeit essen und trinken sie nichts, defäkieren nicht und produzieren keinen Urin.

Ist denn die Kryonik, also das Einfrieren des Körpers, ein mögliches Denkmodell für weite Reisen im All?

Wir können, wie gesagt, bis zu einer Temperatur von 32 Grad noch gut überleben. Die Herzfrequenz wäre in einem torporähnlichen Zustand zwar reduziert, aber die Rhythmik nicht gestört. Geringere Temperaturen führen zu massiven Herzproblemen. Zudem gilt es hier einen Denkfehler zu vermeiden: Der Torpor wird nicht dadurch ausgelöst, dass Organismen abkühlen. Sondern sie kühlen ab, weil sie ihren Stoffwechsel reduzieren.

Okay, der Bär ist also das Vorbild für Astronauten …

Ja, er stimmt in Größe und Gewicht ungefähr mit uns überein. Bären halten ihren verringerten Stoffwechsel im Torpor aufrecht, indem sie das Fett aus ihrem Unterhautfettgewebe abbauen. Der Mensch gehört zu den wenigen Tieren, die nicht im Wasser leben und trotzdem ein dickes Unterhautfettgewebe besitzen. Wir Menschen bieten also auch anatomisch geeignete Voraussetzungen für einen Torpor, so die Hoffnung. Der Abbau von Fett hat den großen Vorteil, dass dabei Wasser und Kohlendioxid entstehen. Das Wasser ersetzt das Trinken und das Kohlendioxid atmen die Bären aus. Das ist im Vergleich zur Eiweißverbrennung, bei der der Körper immer Stickstoffverbindungen wie Harnstoff oder Harnsäure ausscheiden muss, für die Umgebung eines Raumschiffs ein optimaler Stoffwechsel.

Bauen die Tiere währenddessen auch Muskelmasse ab?

Bären verlieren ihre Muskulatur während des Torpors in viel geringerem Maß als in anderen Ruhephasen. Stellen Sie sich vor, Sie lagen drei Monate fast unbeweglich im Bett und müssen dann sofort aufstehen, um Nahrung zu suchen. Das könnten Sie gar nicht mehr. Mit einem eingegipsten Bein können Sie schon nach sechs Wochen nicht mehr laufen.

Bären im Winter | Braunbären fallen in den kalten Monaten des Jahres in eine Winterruhe. Dabei fährt der Stoffwechsel der Säugetiere herunter. Die Körpertemperatur sinkt in der Folge auf etwa 32 Grad.

Bären schon …

Ja, Bären können sich auch nach monatelangem Torpor sofort fortbewegen. Und Tiere wie Streifenhörnchen und Siebenschläfer müssen im Anschluss nicht nur Nahrung suchen, sondern auch ihren Feinden entkommen. Diese Tiere können sich gar keine wochenlange Erholungszeit leisten.

Warum geht ein Tier überhaupt in den Torpor?

Wichtiger für uns ist herauszufinden, was Torpor auslöst, also welche äußeren Faktoren verantwortlich sind. Bei Winterschläfern in Gefangenschaft lassen sich zum Beispiel die Tageslänge und die Raumtemperatur reduzieren. Die Tiere fressen dann zunächst mehr. Wird dann auch die Nahrungsaufnahme reduziert, kann das dann Torpor auslösen, selbst wenn es gar nicht der natürliche Zeitpunkt dafür ist.

»Wir kennen mittlerweile die Hirnareale, die am Torpor beteiligt sind. Diese lassen sich chemisch stimulieren«

Sind Sie also in der Lage, einen Torpor künstlich zu erzeugen?

Wir kennen mittlerweile die Hirnareale, die daran beteiligt sind. Diese lassen sich chemisch stimulieren. Bekommen Ratten, die normalerweise keinen Winterschlaf machen, zum Beispiel GABA-Agonisten – das sind Proteine, die an der Steuerung der Muskelrelaxation beteiligt sind –, werden Herzfrequenz und Körpertemperatur verringert und die Tiere fallen in den Torpor. Ob es sich dabei um einen echten Torpor handelt, ist wissenschaftlich gesehen aber nicht eindeutig. Daher spricht man in diesem Fall von einem synthetischen Torpor.

Wie weit ist die Wissenschaft bereits darin, einen Torpor beim Menschen zu erzeugen?

Beim Stichwort »Mensch« sage ich gleich »Stopp!«. Davon sind wir noch weit entfernt. Die Frage stellt sich uns im Augenblick nur für andere Säugetiere, die normalerweise nicht in den Torpor fallen. Hier gibt es inzwischen einige Wege, um einen torporartigen Zustand auszulösen. Einmal chemisch, indem wir auf die für den Torpor verantwortlichen Hirnzonen lokal einwirken. Oder per fokussiertem Ultraschall, den wir auf bestimmte Hirnareale richten.

Was bewirkt der Ultraschall?

Ein solches Gerät fokussiert den Schall auf einen Punkt, an dem sich das Gewebe dann lokal erwärmt. Dafür ist es notwendig, die Zonen im Gehirn zu kennen, die in der Lage ist, den Torpor zu triggern. Auf diese Weise konnten wir schon Mäuse in einen reversiblen Ruhezustand versetzen, also ein Säugetier und Nichtwinterschläfer. Dabei reduziert die Maus ihre Herzfrequenz und Körpertemperatur. Sie liegt dann weitgehend unbeweglich in ihrem Käfig.

Welche Rolle spielt dabei das Schlafhormon Melatonin?

Mit Melatonin allein lässt sich kein Torpor auslösen. Doch ein Kollege von der Universität in Bologna hat bereits Versuche mit Cocktails aus verschiedenen Substanzen unternommen, die neben GABA-Agonisten auch Melatonin enthielten. Es gelang ihm, Organismen, die üblicherweise keinen Winterschlaf machen, acht Tage lang in einer Art synthetischem Torpor zu halten. Unser Ziel ist, zunächst die hormonellen und neuronalen Faktoren für natürlichen Torpor zu untersuchen, um dann mit diesem Wissen den Stoffwechsel experimentell zu beeinflussen. Derzeit ist das jedoch noch nicht möglich.

»Am Menschen können wir diesen Zustand bisher nicht ausprobieren, das verbietet sich aus ethischen Gründen«

Das künstliche Koma ist schon seit Jahrzehnten medizinische Routine. Worin besteht der Unterschied zum Torpor?

Im künstlichen Koma läuft der Stoffwechsel mehr oder weniger normal weiter. Im Gegensatz dazu sind während des Torpors der Darm, das Immunsystem und die Muskulatur weitgehend stillgelegt, die Herzfrequenz und Atmung sind deutlich verringert. All das muss im Anschluss an die Torporphase wieder problemlos funktionieren. Das Erwachen aus dem Torpor ist kein einfaches Aufwachen: Während des Torpors haben sich Abfallstoffe angesammelt, die entsorgt werden müssen. Manche Zellen werden abgebaut, wobei Gewebe und Organe aber voll funktionsfähig bleiben.

Das heißt, Sie und Ihre Kollegen stehen vor dem Problem, Astronauten nicht nur in einen Torpor versetzen zu wollen, sondern sie auch noch gesund daraus aufwachen zu lassen.

Nach einem echten Torpor sollten Astronauten weitgehend einsatzfähig sein. Am Menschen können wir diesen Zustand bisher nicht ausprobieren, das verbietet sich aus ethischen Gründen. Meines Wissens hat noch niemand Versuche mit Menschen gemacht, sondern vorwiegend mit Ratten. Natürlich stellt sich die Frage, wie sich dieses Wissen eines Tages auf Astronauten anwenden lässt, denn das ist ja unser Ziel. Davor müssten beispielsweise mal Schweine in Torpor versetzt werden.

Wenn der Stoffwechsel nicht entsprechend reduziert wird, würden Astronauten quasi schlafend verhungern. Wäre da ein Torpor für Astronauten mit kürzeren Intervallen eine Lösung?

Das sind Denkmodelle, welche die US-Amerikaner verfolgen: 14 Tage Torpor-Phase und 14 Tage Wachphase im Wechsel. Bei sechs Leuten in einem Raumschiff sind immer zwei in der Ruhe, der Rest spielt Karten. Der Ansatz der Amerikaner ist es, Astronauten während solcher Ruhephasen zwar auch herunterzukühlen, aber währenddessen künstlich zu ernähren. Wobei das derzeit alles reine Gedankenspiele sind. Unsere Gruppe in Europa verfolgt dagegen das Bären-Modell, bei dem wir den Stoffwechsel in einer Übergangszeit allmählich reduzieren. Bären legen sich auch nicht sofort hin und fallen in den Winterschlaf, das beginnt bereits Wochen vorher. Erst bauen sie Fettpolster auf und fangen erst dann an, Stoffwechsel und Körpertemperatur zu reduzieren, das Blut läuft langsamer und zäher. Damit der Körper unter diesen Bedingungen keinen Schaden nimmt, muss er biochemisch und immunologisch Vorsorge treffen.

Sterben denn auch Bären während des Winterschlafs?

Soweit ich weiß, nicht. Von schwedischen Kollegen habe ich bisher nicht gehört, dass die wild lebenden Bären, die sie beobachteten, während des Winterschlafs gestorben wären.

»Überlegenswert wäre, vorwiegend Frauen auf die Reise zu schicken, denn diese haben oft mehr Unterhautfettgewebe als Männer«

Müssen sich Astronauten künftig vor einer Mission ein Fettpolster anfuttern?

Das ist vorstellbar. Überlegenswert wäre zudem, vorwiegend Frauen auf die Reise zu schicken, denn diese haben oft mehr Unterhautfettgewebe als Männer.

Wie würde ein Astronaut im Torpor aussehen?

Im amerikanischen Denkmodell wären Astronauten mit zahlreichen Messstellen und Injektionspunkten übersät, um sie zu überwachen und zu ernähren. Dazu müssten sie fixiert werden. Im Torpor nach dem Modell Bär braucht es nur eine Schlaufe, denn die Astronauten leben ja in der Schwerelosigkeit. Darin bewegen sie sich vielleicht ein bisschen, aber es ist meistens Ruhe. Bären in ihrer Winterbehausung machen das auch so. Da geht sogar mal einen Moment der Stoffwechsel hoch oder sie strecken sich und ziehen ein Bein an. Das würden wir auch alles gerne zulassen. Künstliche Ernährung wäre während eines solchen Zustands nicht erforderlich.

Würden Astronauten im Topor genauso schnell altern wie im normalen Leben?

Untersuchungen an DNA-Veränderungen deuten darauf hin, dass sich der Alterungsprozess verlangsamt. Das ist auch klar, wenn die Teilung der Zellen eingeschränkt wird und die DNA nicht mehr abgelesen wird, dann passieren auch weniger Fehler. In diesem Zusammenhang sinkt auch die Strahlenempfindlichkeit, wie Experimente ergeben haben. Das macht Topor für Astronauten zusätzlich hilfreich, denn die Strahlenbelastung ist bei langen Weltraumflügen enorm.

Wie tief ist ein Torpor verglichen mit dem regulären Schlaf? Träumen die Tiere?

Nach Träumen sieht es nicht aus, das lässt sich in der Elektroenzephalografie, also der Messung der Gehirnströme feststellen. Zudem gibt es bei vielen Winterschläfern so genannte »arousal bouts«, das sind Aufwach-Runden. Murmeltiere wachen beispielsweise mehrfach kurz auf.

»Mit einer entsprechenden Förderung könnte ich mir vorstellen, dass wir in zehn Jahren ein ganzes Stück weiter sind. Die vergangenen Jahre haben eine Fülle von Erfolgen gebracht, die unerwartet waren«

Lässt sich erahnen, wie sich ein Torpor anfühlt? Immerhin müssen Menschen bereit sein, sich in einen solchen Zustand versetzen zu lassen.

Ich würde sagen, er fühlt sich an wie ein Tiefschlaf. Tiere träumen während dieser Zeit wie gesagt nicht und dürften daher keine Gefühle haben. Das ist wie bei einer Narkose. Die Sinneswahrnehmungen sind sehr reduziert.

Wenn Sie spekulieren dürften: Wann wird es gelingen, einen Menschen für eine Langzeitmission in einen Torpor zu versetzen?

Das ist sehr spekulativ. Wenn ein Arzt oder eine Ärztin sagen, sie werden in fünf Jahren Krebs heilen können, dann müssten sie das im Prinzip auch heute schon können, denn dann wissen sie ja, wie es geht. Die fünf Jahre bräuchten sie nur noch für die Verfeinerung des Verfahrens. Mit einer entsprechenden Förderung könnte ich mir vorstellen, dass wir in zehn Jahren ein ganzes Stück weiter sind. Die vergangenen Jahre haben eine Fülle von Erfolgen gebracht, die unerwartet waren.

Macht die ESA bei dem Thema Fortschritte?

Wenn sich die ESA entschlösse, »Winterschlaf bei Astronauten« voranzutreiben, wären große finanzielle Anstrengungen zur Forschungsförderung nötig. Sollten diese Bemühungen gelingen, wären diese aber auch auf der Erde von großer Bedeutung. Da geht es vor allem um den Bereich der Intensivmedizin und der Organtransplantation. Ein Torpor wäre eine gute Vorbereitung, um dem Körper ein Organ zu entnehmen, jedenfalls sofern dafür die Zeit ausreicht. Es ließe sich unter torporähnlichen Bedingungen auch Zeit gewinnen, um die unterschiedliche Empfindlichkeit von Tumorzellen und Nichttumorzellen gegenüber Chemotherapeutika zu nutzen. Das alles sind interessante, aber noch fast vollständig offene Forschungsfelder.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.