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Elektrochemie: Diamanten und Insektenfüße

Reine Diamanten sind nicht nur teuer, sondern auch gute elektrische Isolatoren - außer in feuchten Umgebungen. Kommt Wasser ins Spiel, fließt ein winziger Strom, dessen Weg Wissenschaftler erst jetzt verfolgen konnten. Der Effekt, den sie dabei entdeckten, wirkt womöglich auch bei technischen Sensoren und den Füßen kleiner Krabbeltiere.
Strom fließt dann, wenn Elektronen sich auf die Wanderschaft begeben. Gedrückt vom Überfluss an einer Kathode fliehen sie in die Mangelzone der Anode. Ganz ähnlich wie bei einem überfüllten Bus, in den vorne Passagiere hineindrängen und mit ihrer Schiebung hinten andere Fahrgäste aus dem Wagen werfen. Vorausgesetzt, die Elektronen haben in dem Material wenigstens ein bisschen Freiheit, um sich zu bewegen und die Barriere zur Anode ist nicht unüberwindbar hoch. Denn sind die Businsassen auf ihren Plätzen festgeklebt und öffnet der Fahrer die hintere Tür nicht, nützt vorne kein noch so kräftiges Drücken – es bewegt sich nichts. Und das Material ist ein elektrischer Isolator.

Reine Diamanten sind ein Paradebeispiel für solch isolierende Standfestigkeit im Inneren. Sie bestehen nur aus Kohlenstoffatomen, zwischen welchen feste Elektronenpaarbindungen herrschen, in denen kein Platz für Abweichungen ist. Im Kristallgitter gibt es weder freie Plätze für wanderfreudige Ladungsträger noch überschüssige Elektronen ohne Heimat. Und die Energie, um mit Gewalt Elektronen aus dem Verband zu lösen, ist so groß, dass praktisch kein Elektron jemals den Sprung in die Beweglichkeit schaffen kann. Oder wissenschaftlicher ausgedrückt: Die Bandlücke zwischen dem vollen Valenzband mit seinen fest verorteten Bindungselektronen und dem leeren Leitungsband ist unüberbrückbar groß.

Und dennoch stellten Wissenschaftler im Jahr 1989 verblüfft fest, dass Diamanten beim Kontakt mit Luft den elektrischen Strom leiten. Ein Phänomen, das experimentell leicht zu überprüfen und bestätigen war, sich theoretisch aber einfach nicht erklären lassen wollte. Immerhin stellte sich schnell heraus, dass der größte Teil der Diamanten den Strom vorschriftsmäßig total blockierte: Die aufmüpfigen Ströme flossen nur an der Oberfläche. Doch wo genau und wie blieb über Jahre hinweg ein Rätsel.

Eine der Forschungsgruppen, die nach einer Erklärung für die verblüffende Leitfähigkeit suchten, war das Team von John Angus an der Case Western Reserve University in Cleveland. Die Wissenschaftler untersuchten eine Hypothese, wonach Elektronen aus den Oberflächenzonen der Diamanten auf die Moleküle eines dünnen wässrigen Films überspringen und damit die nötigen Lücken im Kristallgitter schaffen könnten. Ein Ansatz, der mit einem schwerwiegenden Problem behaftet war: Diamanten sind stark wasserabweisend und lassen sich gar nicht gerne benetzen.

Aber in einem feuchten Klima ist der Diamant nicht alleine, und Wasser und Luft vollführen ein reichhaltiges chemisches Wechselspiel, das sich selbst auf den edlen Stein auswirken könnte. Beispielsweise zerfällt das Wasser H2O teilweise von selbst in Wasserstoff-Kationen H+ und Hydroxidanionen OH-. Außerdem reagiert Kohlendioxid CO2 aus der Luft mit dem Wasser zu Kohlensäure H2CO3, die sich sofort in Hydrogenkarbonat HCO3- und weitere Wasserstoff-Kationen aufspaltet, womit ein leichter Überschuss an H+ entsteht und das Wasser etwas sauer wird. Mit diesen Wasserstoff-Kationen könnte schließlich der Luftsauerstoff O2 zu Wasser reagieren, wenn er von irgendwo die dafür nötigen Elektronen bekäme. Nicht von irgendwo!, sagen Angus und seine Kollegen. Genau diese Elektronen liefert der Diamant!

Nach ihrer Vorstellung klammert sich der Kohlenstoff nicht mehr so fest an seine Oberflächenelektronen, wenn seine Bindungen am Rand, an denen kein weiteres Kohlenstoff-Atom folgt, mit Wasserstoff abgedeckt sind. Über die wässrige Phase könnten einige Elektronen dann an den Luftsauerstoff übergehen. Zurück blieben Löcher im Kristallgitter, die Platz für fließende Elektronen und damit elektrische Leitfähigkeit böten. Obendrein wäre der Diamant nach dem Verlust der negativen Elektronen elektrisch positiv geladen – und damit bedeutend weniger wasserscheu als zuvor.

In einer Reihe von Experimenten überprüften die Forscher ihr Modell. So gaben sie Diamantpulver in Wasser und registrierten tatsächlich den erwarteten Rückgang der Sauerstoffkonzentration. Auch die Konzentration an Wasserstoff-Kationen reagierte, wie die chemischen Gleichungen es vorhergesagt hatten. Und sogar der Winkel, mit dem sich Wassertropfen von kleinen Diamantkristallen erheben, veränderte sich mit dem Übergang der Elektronen. Lauter Versuche, die in zukünftigen Sensoren geeignet wären, um chemische oder biochemische Konzentrationen schnell zu bestimmen.

Das Rätsel um die überraschende Leitfähigkeit des Isolators wäre damit weit gehend gelöst. Doch womöglich sind die Diamanten nur die funkelnde Spitze des wissenschaftlichen Eisbergs. Denn Oberflächeneffekte, die sich bei Feuchtigkeit ändern, treten in vielen Systemen auf. Beispielsweise, wenn Materialien aufeinander gleiten und die Reibung von einem Wasserfilm oder dessen Säuregrad abhängig ist. Nach Ansicht der Forscher ist nicht auszuschließen, dass auch in solchen Fällen ein bislang unentdeckter Elektronentransfer abläuft und die Eigenschaften der Stoffe verändert. Und vielleicht, so spekulieren die Wissenschaftler, haben manche Insekten sich diesen Mechanismus sogar schon zunutze gemacht und beeinflussen in umgedrehter Richtung die Chemie ihrer Umgebung, um mit ihren Füßen besseren Halt zu finden. Spikes aus Diamant haben sie jedenfalls noch nicht an den Beinen.

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