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Deutschlands aktivste Erdbebenregion: Die rätselhaften Beben vom Niederrhein

Verheerende Erdbeben erschüttern immer wieder Deutschlands Westen – doch zwischen ihnen liegen Jahrhunderte der Ruhe. Ein tiefer Blick in die Vergangenheit soll Hinweise geben, wann das nächste droht.
Ein Fluss zieht sich durch eine dicht besiedelte Ebene zum Horizont.

»Das hier ist wirklich ein Volltreffer«, sagt Klaus Reicherter und blickt auf eine steil abfallende Linie in einer glatt geschabten Grabenwand, an der Schichten aus gelbem Staub und schwarzem Ton gegeneinander verschoben sind. Mit Gummistiefeln und Helm steht der Geologe von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen in einem zweieinhalb Meter tiefen und rund 15 Meter langen Graben. Am Boden der Grube hat sich das Wasser in ausladenden Pfützen gesammelt, Schnecken und Würmer haben verschlungene Kriechspuren im zähflüssigen Schlamm hinterlassen. Kalter Wind treibt feinen Regen über die Landschaft.

Der Volltreffer, das ist die Feldbiss-Störung: eine rund 40 Kilometer lange Verwerfungszone, an der zwei Blöcke der Erdkruste sich gegeneinander verschieben und regelmäßig die Erde beben lassen. »Zwischen der Schicht auf dieser Seite der Verwerfung und der Fortsetzung dort unten liegt ein Höhenunterschied von etwa 60 Zentimetern«, erklärt Reicherter. »Das entspricht ungefähr einem Erdbeben der Magnitude 6.« Etwa so stark war das Erdbeben von Amatrice in Mittelitalien im Jahr 2016, bei dem 300 Menschen starben.

Doch Reicherter vermutet, dass die Erdbeben hier ganz anderen Gesetzen gehorchen als in klassischen Erdbebengebieten wie zum Beispiel rund um den Pazifik. Er glaubt, dass bisher unbekannte Regeln darüber bestimmen, wann das nächste Erdbeben die Region im Westen Deutschlands trifft. »Das zyklische Erdbebenmodell versagt hier«, sagt er. Seine These, die er im Juli 2023 auf einer Konferenz in Rom vorstellte: Die Erdbeben der Niederrheinischen Bucht treten nicht nach dem Muster von Spannungsaufbau und ruckartiger Entlastung auf. Stattdessen ruhen die Verwerfungen womöglich Zehntausende von Jahren, um dann eine ganze Serie von Erdbeben zu erzeugen. Doch wann ist es wieder so weit?

Die Feldbiss-Störung | Die schwarze Linie zeigt den Verlauf der Verwerfung. Die verschobenen Sandschichten belegen, dass der Boden auf der linken Seite einst etwa einen halben Meter absackte.

Starke Erdbeben am Niederrhein sind zwar relativ selten, aber wenn sie auftreten, können sie in der dicht besiedelten Region immense Schäden anrichten. Das wohl eindrücklichste Beben der jüngeren Zeit ereignete sich im Jahr 1992. Nahe der niederländischen Stadt Roermond, rund 50 Kilometer nördlich von Aachen, riss die Erdkruste an einem dieser Brüche in 18 Kilometer Tiefe auseinander und sackte mit einem Ruck um knapp einen halben Meter ab.

Über die schwersten Beben weiß man am wenigsten

Die Erschütterung hatte eine Stärke von 5,8 auf der Moment-Magnituden-Skala – etwas schwächer als jene Beben, deren Spuren Reicherter bei Aachen untersucht. In Roermond beschädigten die Bebenwellen zwei Kirchen schwer, und im wenige Kilometer entfernten Kreis Heinsberg demolierten sie rund 150 Häuser. In Köln kippte eine tonnenschwere Kreuzblume aus Stein von einem Turm des Doms und durchschlug das Dach des Kirchenschiffs.

Lediglich 30 Kilometer im Osten wiederum liegt Düren, Schauplatz des schwersten bekannten Erdbebens in Deutschland in historischer Zeit. Es erreichte 1756 eine geschätzte Stärke von 6,4 auf der Richterskala und ließ die Stadtmauern von Düren und dem nahe gelegenen Bad Münstereifel zusammenbrechen. In Eschweiler wurde die Kirche so stark beschädigt, dass »man dieselbe Arck Gottes verlassen hate« und in einer provisorischen Holzhütte auf dem Markt betete, wie es auf einem noch heute sichtbaren Gedenkstein heißt.

Und das sind nicht die schwersten denkbaren Erdbeben in der Region. »Basierend auf den Ausmaßen der Störungen schätzen wir, dass die höchsten Magnituden im Unterrheingraben etwa 7,0 erreichen könnten«, sagt Kris Vanneste, Seismologe am Königlichen Observatorium in Brüssel. Ein solches Erdbeben würde in der dicht besiedelten und auf Starkbeben kaum vorbereiteten Region schwerste Verwüstungen anrichten. Aber es ist nur sehr wenig über solche potenziellen Katastrophen bekannt. Erdbeben wie jenes in Düren träten etwa einmal in rund 500 Jahren auf, erklärt Vanneste. »Ein Erdbeben mit der maximal möglichen Magnitude von 7 wäre natürlich noch viel seltener, vielleicht eines alle 10 000 Jahre.«

Ursache dieser Beben ist eine ganze Reihe parallel verlaufender Brüche in der Erdkruste, von denen der Feldbiss nur einer ist. Diese Verwerfungen erstrecken sich von Südosten nach Nordwesten durch die niederrheinische Bucht – die aktivste Erdbebenregion nördlich der Alpen. Sie formen die Landschaft der Region in lang gezogene Bodenwellen und Höhenrücken, die an deutlich sichtbaren Abhängen in tiefe Täler abfallen: die Ville, den Erftsprung, das Rurtal. Und sie lassen immer wieder die Erde beben.

Die Erde bebt zu oft am Niederrhein

Zwei solche Erdbeben, vielleicht drei, hat Reicherter in seinem Graben entdeckt. Eines fand vor rund 1500 Jahren statt, ein weiteres einige tausend Jahre davor. Ganz unten am Boden des Grabens sind möglicherweise die Spuren eines dritten Starkbebens zu sehen. Es wäre rund 15 000 Jahre alt – ein Relikt der letzten Eiszeit.

Das seien weit mehr Beben, als man erwarten sollte, sagt Reicherter. »Die Bewegung, die wir hier an den Verwerfungen messen, reicht nicht aus, um all diese Erdbeben zu erklären«, erklärt der Forscher. Vier große und viele kleinere Bruchzonen laufen durch die Region, und an allen muss sich irgendwie Spannung aufbauen. »Wie aber kann ich die alle mit Energie aufladen? Wie geht das?«, fragt Reicherter.

Störungszonen des Niederrheingrabens | Übersicht über den ungefähren Verlauf der großen Bruchzonen in der Niederrheinischen Bucht. Mehrere große und eine Vielzahl kleinerer Verwerfungen unterteilen das Tiefland der Niederrheinischen Bucht in einzelne Blöcke. Der Ort des Grabens ist gelb markiert.

Spannung baut sich dort auf, wo sich Gesteine aneinander vorbeizwängen. Die meisten Erdbeben findet man deswegen dort, wo zwei Erdplatten aneinandergrenzen und sich um einige Zentimeter pro Jahr gegeneinander verschieben. Durch die Plattenbewegung baut sich in den verhakten Gesteinen so lange Spannung auf, bis die Belastung zu groß ist und die Kontaktfläche mit einem Ruck bricht. Danach wächst erneut Spannung an – und der Prozess wiederholt sich. Das führt zu zyklisch auftretenden Erdbeben.

Im Untergrund von Nordwesteuropa dagegen gibt es keine Grenze zwischen Erdplatten. Die trichterförmig ins rheinische Schiefergebirge eingeschnittene Senke der Niederrheinischen Bucht ist eine riesige Bruchzone mitten im Kontinent, in der die Erdkruste in Schollen zerbrochen und teilweise mehrere hundert Meter tief abgesunken ist. »Die Niederrheinische Bucht ist Teil eines großen Systems von Grabenbrüchen, des Europäischen Känozoischen Riftsystems«, erklärt Kris Vanneste. »Es entstand durch Dehnung im Vorland der Alpen während des Känozoikums, also im Zeitraum von etwa 66 Millionen Jahren bis heute.«

Ein Rätsel im Inneren der Kontinente

Zu dieser gigantischen Bruchzone gehören das Tiefland der Limagne in Südostfrankreich ebenso wie der Oberrheingraben und das Tal der Eger in Tschechien. Ihr Ursprung liegt in der Kollision Afrikas mit Europa, die nicht nur den Alpenbogen auftürmte, sondern die Erdkruste vom Westrand der Alpen bis in die Nordsee aufplatzen ließ. Die Niederrheinische Bucht, der jüngste Abschnitt der Bruchzone, begann sich vor 25 Millionen Jahren zu öffnen.

Mit ihrer Lage weit von den Plattenrändern entfernt gehören die Beben der Niederrheinischen Bucht zur rätselhaften Gruppe der Intraplattenbeben. Anders als bei Erdbeben an Plattengrenzen ist bei dieser Art von Erdbeben keineswegs klar, woher die Kräfte kommen, durch die sich Spannung im Gestein aufbaut. Druck und Zug, die an ihren Rändern auf eine Erdplatte wirken, erzeugen ein weit verteiltes Spannungsfeld, das sich im Untergrund über tausende Kilometer erstreckt. Damit diese diffusen Kräfte Erdbeben auslösen, müssen sie auf einen kleinen Bereich fokussiert werden. Wie das im Detail vonstattengeht, ist noch weitgehend ungewiss.

»Es liegt nahe, dass die Öffnung des Niederrheingrabens mit dem Druck der Alpen zusammenhängt, weil sie sich genau parallel zur Druckrichtung erstreckt«, sagt Reicherter. Die Kraft, die das Gebirge hochschiebt, verläuft hier parallel zu den großen Verwerfungen der Region und drückt die Ränder der Niederrheinischen Bucht nach außen auseinander. Allerdings geschieht dies bei Weitem nicht schnell genug, um die schweren Erdbeben in der Region zu erklären.

Die großen Brüche formen die Landschaft

Ein Teil des Problems ist auch jene sanft abfallende Stufe im hügeligen Gelände, die den Verlauf der Feldbiss-Störung markiert und durch die Klaus Reicherter seinen rund 15 Meter langen Graben gezogen hat. Die geologische Bruchlinie im Untergrund formt die Landschaft – und das Leben auf ihr. Mitten auf der sanft abfallenden Wiese stehen zwei Weiden an einem Ort, wo man sie nicht erwarten würde. »Das sind Bäume, die eigentlich gern am Wasser stehen. Aber hier ist weit und breit kein Fluss«, erläutert der Forscher. Die Erklärung: »Die Verwerfung staut das Wasser im Untergrund auf, deswegen fühlen sich die Weiden hier wohl.«

Auch der Wald auf der anderen Straßenseite gehorcht der Geologie: Oben auf der Hügelkuppe leuchten Laubbäume in Herbstfarben. Doch wandert der Blick entlang der Straße den Hang hinab, fallen tiefgrüne Nadelbäume ins Auge. »Das liegt an der dicken gelben Sandschicht, die wir hier hinter der Verwerfung sehen«, sagt Reicherter. Die Fichten kommen besser mit dem durchlässigen, nährstoffarmen Untergrund klar als die Buchen weiter oben.

Blick in die Vergangenheit | Die gebogenen und gerissenen Erdschichten verraten, dass sich hier bei schweren Erdbeben einst Gesteinsblöcke gegeneinander verschoben.

Die Sandschicht zeigt an, dass auch hier einst schwere Erdbeben stattfanden. Der Graben durch den Hügelrücken legt eine markante Bruchlinie frei, die steil in die Tiefe abfällt. In der Wand der zweieinhalb Meter tiefen Grube zeichnet sie sich deutlich ab. Folgt man ihr hinunter, reist man in die Vergangenheit – zu den Erdbeben, die die Region vor Jahrtausenden erschütterten.

»Bei einer Magnitude von etwa 6 ist der Versatz groß genug, dass das Beben eine Stufe in der Landschaft hinterlässt. Und hinter dieser Stufe sammeln sich dann im Lauf der Zeit Sand und Schlamm«, erklärt der Geologe, während er in den Graben hinabsteigt. »Daran erkennt man ein großes Beben: Die Schichten auf einer Seite sind an der Verwerfung nach unten abgesackt, und darüber liegt ein Keil aus Sedimenten, der immer dünner wird, je weiter man sich von der Verwerfung entfernt.«

Ein hunderte Meter tiefes Loch

Und diese Absenkung fand keineswegs sanft und gemäßigt statt, wie Reicherter demonstriert. Direkt neben der Linie der Verwerfung stehend, zeigt er auf eine dunkle, tonige Bodenschicht zwischen hellen Lagen aus Sand. Sie ist nach oben gebogen und in Stücke zerbrochen. »Daran sehen wir: Es war ein plötzliches Ereignis«, sagt Reicherter. »Der Ton bricht nur, wenn er ruckartig auseinandergezogen wird.«

Viele solcher Beben haben schließlich eine sichtbare Stufe im Gelände hinterlassen – jenen Abhang, der die Verwerfung markiert. Das sanfte Gefälle täuscht über die enormen Erdbewegungen hinweg, die sich hier über Jahrmillionen abgespielt haben. An den größten Bruchlinien wie dem Erftsprung, der Rurrandverwerfung oder der Peel-Störung ist der Untergrund mehr als einen Kilometer abgesackt; der Rhein und seine Nebenflüsse haben das entstehende Loch mit gut 1000 Meter dicken Lagen aus Sand, Schlamm, Kohle und Kies gefüllt.

Doch selbst die geringen Höhenunterschiede im Gelände sind eigentlich zu groß, erläutert Reicherter während der Fahrt zur RWTH Aachen. Dort, etwa eine halbe Autostunde vom schlammigen Graben entfernt, will er zeigen, wie die Geländestufe der Feldbiss-Verwerfung mit den großräumigen Strukturen der Landschaft zusammenhängt. Das Problem dabei: Es gibt viel mehr Geländestufen, als die geologischen Kräfte in der Region erwarten lassen.

Die Wände in Reicherters Büro sind mit hohen Bücherregalen bedeckt. In der Mitte des Raums steht ein massiver Schreibtisch. Darauf breitet er eine große Karte aus. »Hier ist Köln.« Reicherter deutet auf einen Punkt nahe einer geschlängelten Linie, die das Bett des Rheins darstellt. »Und hier liegt Düsseldorf.« Das muss man wissen, denn die geologische Karte zeigt keine Orte, Straßen oder Grenzen, sondern in detaillierten Braun-, Grün- und Blautönen die Landschaftsformen der Niederrheinischen Bucht. »Wir lassen unsere Studierenden immer bekannte Orte suchen, das ist eine gute Orientierungsübung.«

Ein Fingernagel wächst 100-fach schneller

Die Karte zeigt auch die Spuren von Erdbeben, genau wie die verbogenen und gebrochenen Tonschichten in der Wand des schlammigen Grabens, allerdings in ungleich größerem Maßstab. Als der Niederrheingraben sich vor rund 25 Millionen Jahren trichterförmig aufzuspreizen begann, zerbrach die Erdkruste in Blöcke, die seitdem in das beim Auseinanderreißen entstandene Loch hineinsinken – mit jedem Erdbeben ein kleines Stück tiefer. Man kann die Höhenunterschiede zwischen den Blöcken als feine Linien in der Karte erkennen; zumindest wenn man weiß, wonach man suchen muss. Doch das sollte man laut Reicherter eigentlich nicht können.

Selbst die schnellste der niederrheinischen Verwerfungen, die Peelrand-Störung, bewegt sich nur um einen zehntel Millimeter jährlich. Ein Fingernagel wächst 100-fach schneller. Nimmt man an, dass die Erdbeben in regelmäßigen Zyklen auftreten, würde es jedes Mal tausende oder gar zehntausende Jahre dauern, bis sich im Untergrund genug Spannung für ein Beben aufgebaut hat. Zeit genug für Wind, Regen und Flussablagerungen, die Spuren an der Oberfläche zu verwischen.

Ein heftiger Ruck | Die dunkle tonige Schicht ist flexibel und verformt sich unter Belastung. Dass sie hier glatt abgerissen ist, verrät ein sehr plötzliches Ereignis.

»Wir brauchen ein anderes Modell, um die Entstehung der Landschaft zu erklären«, sagt Reicherter deswegen. »Die Geländestufen, die wir sehen, sind sicher keine 15 000 Jahre alt. Den Versatz um 60 Zentimeter würde man nach dieser Zeit nicht mehr sehen.« Viel größer jedoch können Bodenabsenkungen durch einzelne Erdbeben entlang von Störungen in der Region nicht werden: Die Auswirkungen von Erdbeben hängen direkt von der Länge der verursachenden Bruchzone ab – und mit einigen dutzend Kilometern sind Feldbiss & Co nicht allzu lang.

Um diesen Widerspruch zu erklären, geht der Forscher von ganzen Gruppen solcher Beben aus. Sie treten demnach in relativ kurzen Abständen an Verwerfungen auf, bevor wieder jahrtausendelang Ruhe herrscht. »Dann bekommt man über mehrere Beben einen Versatz von zwei, zweieinhalb Metern, und das ist schon schwerer zu erodieren.«

Ein Erbe der Eiszeit?

Derartige Erdbebencluster kennt man aus anderen Erdbebengebieten – im Extremfall treten sie binnen weniger Tage auf, wie die vier starken Erdbeben im Jahr 2023 nahe der afghanischen Stadt Herat. Auch die schweren Intraplattenbeben von New Madrid im US-Bundesstaat Missouri in den Jahren 1811 und 1812 folgten diesem Muster. Und das starke Erdbeben von Düren 1756 war nur der Höhepunkt einer zwei Jahre andauernden Bebenserie.

Von der Frage, warum das so ist, hängt die Sicherheit hunderttausender Menschen ab. Doch bisher wisse man einfach nicht, welche Einflüsse die Erdbeben steuern, erklärt Reicherter. »Das zyklische Modell und auch das Modell mit dem direkten Alpendruck als Ursache, die funktionieren hier eben nicht.« Vielleicht, so vermutet er, sei Eis der entscheidende Faktor. »Einige Verwerfungen wie der Feldbiss waren am Ende der Eiszeit besonders aktiv«, erklärt der Forscher. Das ist unter Umständen kein Zufall.

Die kilometerdicken Eisschilde, die zehntausende Jahre lang Nordeuropa bedeckten, reichten zwar nie bis an die Feldbiss-Störung heran, aber ähnlich wie die herandrängende afrikanische Platte tausende Kilometer weiter südlich hat auch das Eis eine nachhaltige Fernwirkung. Die Gletscher dellten die Erdoberfläche tief ein – und seit das Eis vor 10 000 Jahren verschwand, federt die Erdkruste zurück. Im Zentrum der einstigen Eismassen hebt sie sich, während der um sie herum hochgedrückte Wulst wieder abschwillt. Auch diese Bewegung kann Erdbeben auslösen, wie 2023 eine Arbeitsgruppe um den Seismologen Tim Craig von der University of Leeds in einer Veröffentlichung beschrieb – selbst dort, wo man es nicht vermutet. In Schweden, nicht eben bekannt für sein Erdbebenrisiko, gibt es Indizien für Erdbeben der Magnitude 8 zu Beginn der Warmzeit, und bis heute registriert man dort kleinere Erschütterungen.

Ein ähnliches Muster könnte die rätselhaften Geländestufen der Niederrheinischen Bucht erklären, vermutet Reicherter. Das Zurückfedern der Erdkruste nach dem Verschwinden der Eisschilde aktivierte womöglich alle Brüche der Region – und gab so den Startschuss für ganze Serien von Erdbeben, deren Folgen bis heute die Landschaft der Niederrheinischen Bucht prägen.

Ein weiterer Faktor sei eventuell, dass die beinahe parallel verlaufenden Brüche der Niederrheinischen Bucht miteinander wechselwirken. »Die Verwerfungen liegen wie Klaviertasten nebeneinander«, erläutert der Geologe. Benachbarte Bruchzonen und verschiedene Bereiche einer Verwerfung können bei Erdbeben Spannungen miteinander austauschen. Ein Erdbeben schlage vielleicht eine der anderen Bruchzonen an wie der Hammer die Saite – und löse dort ein weiteres Erdbeben aus.

Das allerdings wirft momentan eher mehr Fragen auf, als es beantwortet. So zum Beispiel, nach welchen Regeln diese Spannungen von Bruch zu Bruch springen. »Das ist das große Rätsel, das wir noch nicht gelöst haben«, erklärt Reicherter. Das größte Problem auf der Suche nach den Regeln hinter den Erdbeben am Niederrhein sind jedoch die großen Zeitspannen, die zwischen ihnen liegen. Während in klassischen Erdbebenregionen in historischer Zeit möglicherweise Dutzende starke Beben dokumentiert sind, gibt es hier bloß eine Hand voll Daten. »Dadurch ist es auch schwierig einzuschätzen, wann die nächsten Erdbeben kommen. Und das ist natürlich das, was die Menschen interessiert.«

Aus diesem Grund hat der Graben auf der Hügelkuppe für den Erdbebenforscher bereits wieder ausgedient. »Morgen schütten wir das Loch zu«, sagt er. Die fast 15 000 Jahre Erdgeschichte, die in die Wand des Einschnitts eingeprägt sind, sind nur ein winzig kleines Mosaiksteinchen in der Geschichte der Niederrheinischen Bucht. Deshalb plant Klaus Reicherter schon den nächsten Graben. Dieser soll quer durch eine der vielen weiteren Bruchzonen verlaufen, die hier die Erdkruste durchziehen. Schichten aus Sand und Ton werden die Historie anderer lange vergangener Erdbeben erzählen – und solcher, die noch in der Zukunft liegen. Denn auch das verraten die aufeinandergestapelten Erdschichten: Das nächste schwere Beben kommt bestimmt.

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