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Forschungspolitik: Ein "heißes Eisen" und viel Routine

Vier Schwerpunkte hatte der Wissenschaftsrat auf seine Agenda der Frühjahrssitzung an der Universität Erlangen-Nürnberg gesetzt, darunter auch die heiß diskutierte Neukonzeption der Humanmedizin an der privaten Universität Witten-Herdecke. Doch wer auf eine Entscheidung gehofft hatte, wurde enttäuscht.
Anfang der 1980er Jahre war die Universität Witten/Herdecke mit einem neuen Ausbildungskonzept angetreten. Schwerpunkte sollten unter anderem in einer praxisnahen Ausbildung, im "Praxisorientierten Lernen (POL)", viel Eigenverantwortung und einem "Studium fundamentale" liegen. Im Juli 2005 hatte der Wissenschaftsrat denn auch lobende Worte für diese Reformen in Curriculum und Organisation gefunden – als "anzuerkennende Beiträge zur Weiterentwicklung des deutschen Hochschulsystems". Das Gremium billigte die Standards der meisten Studiengänge, vor allem der Bio- und Wirtschaftswissenschaften.

"Inhaltliche und strukturelle Defizite"

Die Humanmedizin jedoch nahm der Rat, das hochschul- und forschungspolitische Beratungsgremium des Bundes und der Länder, ausdrücklich von dem positiven Urteil aus. Er bemängelte erhebliche inhaltliche und strukturelle Defizite in der Wittener Medizinerausbildung und sprach der Universität lediglich eine institutionelle Akkreditierung für zunächst drei Jahre aus, klammerte die Humanmedizin aber aus. Das hat für die Hochschule die dramatische Folge, dass sich zur Zeit keine Studenten für den Medizinstudiengang einschreiben können. Dennoch laufen zwischenzeitlich die Bewerbungsverfahren weiter.

Im Einzelnen kritisierte der Wissenschaftsrat im Juli 2005, die Uni forsche zu wenig, habe zu viele externe Professoren. Keine Gegenliebe fand zudem, dass es kein Universitätsklinikum gebe, sondern die Universität lediglich mit anderen Kliniken kooperiere. Außerdem sei die Fakultät unterfinanziert und könne daher ihre Aufgaben nicht wahrnehmen. Der naturwissenschaftliche Unterricht käme zu kurz, die Studenten fielen öfter durch und hätten schlechtere Noten als der bundesweite Durchschnitt, sie brächen das Studium viel zu häufig ab und die Fakultät habe kein Studienkonzept zur Umsetzung der neuen Approbationsordnung, hieß es weiter.

Die Leitung der Universität Witten/Herdecke antwortete auf die Kritik in einer ausführlichen Gegenstellungnahme. Sie gestand zwar Schwächen in der Forschung ein, stellte aber eine Intensivierung der Forschung in Aussicht, vor allem mit einem neuen Institut für Herz-Kreislauf-Forschung. Weiter betonte die Universität, die externen Professoren kämen ihren Pflichten genau so engagiert nach wie die internen, sie werde aber weitere interne Lehrstühle einrichten. Dass die Universität kein eigenes Klinikum hat, habe gezielt seine Gründe in der Art der Ausbildung, die sich an der Behandlung weit verbreiteter Krankheiten orientiere und nicht an Spezialfällen. Das Wittener Modell, bei dem die Universität mit Krankenhäusern und Arztpraxen zusammenarbeitet, habe daher große Vorteile.

Dem Vorwurf des Mangels an Finanzen entgegnet die Uni, Witten/Herdecke habe nie Landesmittel beantragt, sei anders finanziert und daher nicht mit anderen Hochschulen zu vergleichen. Die Universitätsleitung widersprach auch den Aussagen des Wissenschaftsrates, der naturwissenschaftliche Unterricht fiele zu gering aus. Das Stundenangebot sei wesentlich höher als es die Approbationsordnung fordert. Das fächerübergreifende POL vermittle Wissen in anderer, effektiverer Struktur.
"Im Ranking stehen wir bundesweit auf dem vierten Platz, so viel können wir also nicht falsch gemacht haben"
(Olaf Kaltenborn)
Die Zahlen des Wissenschaftsrates zu Durchfallquoten, schlechteren Noten und Studienabbruch widerlegte die Universität unter anderem mit Werten aus Auswertungen des Landes NRW. "In NRW sind die Universität-Witten/Herdecke-Mediziner schneller und besser", so der Kommentar der Uni. Den Zweifeln des Rates an Studienkonzepten zur Umsetzung der neuen Approbationsordnung hielt die Unileitung entgegen, es gebe diese Konzepte sehr wohl und sie würden mit Genehmigung des Gesundheitsministerium schon seit 2004 problemlos praktiziert. "Im Ranking stehen wir bundesweit auf dem vierten Platz, so viel können wir also nicht falsch gemacht haben", betont Uni-Sprecher Olaf Kaltenborn.

Entscheidung vertagt

Doch wer gehofft hatte, die Frühjahrssitzung werde nun endlich ein Ende der hitzigen Debatte bringen, der wurde enttäuscht: Der Wissenschaftsrat die Entscheidung über die Zukunft der Humanmedizin an der Universität Witten/Herdecke vertagt. Die Universität hatte ein Konzept zur Neustrukturierung acht Monate nach dem ersten Gutachten vorgelegt.
"Die Kunst wird darin bestehen, die Balance zwischen unserem Grundkonzept und den Anforderungen des Wissenschaftsrates zu finden"
(Olaf Kaltenborn)
Einer der Hauptpunkte ist die Einrichtung von fünf neuen Lehrstühlen in der Versorgungsforschung, die besonders der Frage auf den Grund geht, warum von den Ergebnissen der Grundlagenforschung zu wenig beim Patienten ankommt. Zudem wird es ein weiteres Zentrum für Grundlagenforschung geben, und die Biowissenschaften sollen enger an die Medizin herangeführt werden. "Die Kunst wird darin bestehen, die Balance zwischen unserem Grundkonzept und den Anforderungen des Wissenschaftsrates zu finden", so Kaltenborn.

Nach Prüfung des Konzepts zur Neustrukturierung bat der Wissenschaftsrat zusätzlich das Land Nordrhein-Westfalen, ihm bis zu den Juli-Sitzungen 2006 einen Bericht zur Fortentwicklung der Humanmedizin der Universität Witten/Herdecke vorzulegen. Hierzu hat der Wissenschaftsrat der Uni ein Anforderungsprofil vorgegeben. Auf der Basis dieses Berichts will das Gremium in seinen Sommer-Sitzungen entscheiden, ob er bis zur Reakkreditierung die Neuimmatrikulation im Studiengang Humanmedizin für vertretbar hält.

Strahlenschutzforschung mit Aufholbedarf

Neben dem Schicksal der Humanmedizin in Witten/Herdecke standen noch weitere Punkte auf dem Programm. Dazu zählte auch eine Bewertung von sieben Ressortforschungseinrichtungen, die verschiedenen Ressortministerien zugeordnet sind. Der Wissenschaftsrat evaluierte nun sieben von ihnen und kam zu recht unterschiedlichen Ergebnissen.

Leistungen in Forschung und Dienstleistungen auf hohem wissenschaftlichen Niveau stellte der Rat bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und dem Bundesamt für Materialforschung und -prüfung (BAM) in Berlin fest, das mit seinen qualifizierten Forschungen, Prüf- und Beratungsleistungen zum Beispiel zu Ingenieurbauten sowohl deutsche Unternehmen als auch die Regierung unterstützt. Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) in Salzgitter und das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) in Bonn dagegen müssen ihre wissenschaftliche Leistungsfähigkeit deutlich steigern, befand das Gremium.

So fiel das Urteil des Wissenschaftsrats zum Level der Forschung am Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) besonders bedenklich aus:
"Das Niveau entspricht nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik"
(Peter Strohschneider)
Die Forschung komme an der Einrichtung, die im Auftrag des Bundesumweltministeriums in den Bereichen Strahlenschutz, kerntechnische Sicherheit und Entsorgung radioaktiver Stoffe arbeitet, gegenüber den Verwaltungstätigkeiten deutlich zu kurz. Laut dem Gremiumsvorsitzenden, Peter Strohschneider, entspricht das Niveau der "Sicherheit in der Kerntechnik" und der "Sicherheit nuklearer Entsorgung" nicht dem Stand von Wissenschaft und Technik. Die empfohlene Neuausrichtung der Behörde soll der Wissenschaft größeren Raum verschaffen.

Gute Noten für Regensburg und Erlangen-Nürnberg

2005 besuchte der Ausschuss Medizin des Wissenschaftsrates außerdem alle fünf hochschulmedizinischen Standorte in Bayern. Die Stellungnahmen zu München und Würzburg sind bereits fertig. Grundsätzlich positiv bewertete der Wissenschaftsrat die Entwicklung der Medizinischen Einrichtungen der Universitäten in Erlangen-Nürnberg und Regensburg. Sowohl die Forschungsaktivitäten mit vier Sonderforschungsbereichen und die Qualität der Veröffentlichungen in Erlangen als auch die Kooperation von Krankenhäusern und Lehrstühlen in Regensburg stufte der Rat positiv ein. Neben diesen Stellungnahmen zu den einzelnen Standorten wird das Gremium noch Empfehlungen zur Bayerischen Hochschulmedizin insgesamt geben.

Wellness-Kur für caesar

Schärfer im Blick hatte der Wissenschaftsrat auch caesar, das Center of Advanced European Studies and Research. Das Forschungsinstitut wurde 1995 als Teil des Bonn/Berlin-Ausgleichs gegründet. Vor zwei Jahren urteilte der Wissenschaftsrat kritisch: Das thematische Forschungsprofil sei zu unscharf, die Arbeits- und Leitungsstrukturen seien ungünstig, die Qualitätssicherung unbefriedigend.

Universität Witten/Herdecke | Universität Witten/Herdecke: Das Konzept für den Studiengang Humanmedizin steht noch immer auf dem Prüfstand.
Nun empfahl eine Kommission, die Arbeit von caesar auf neurowissenschaftliche Themen zu konzentrieren, die für die Gesundheitsforschung bedeutend sind: Alzheimer, Parkinson und weitere Demenzerkrankungen. Dabei sollen Neuro- und Ingenieurwissenschaften in Form der Schnittstelle von Mensch und Maschine verknüpft werden. Erforscht werden könnten zum Beispiel die Bildung und Regeneration von Nerven sowie die Entwicklung von Prothesen. Wissenschaftstransfer spielt dabei eine große Rolle. In seiner Rechtsform sollte caesar nach wie vor als Stiftung an die Max-Planck-Gesellschaft angebunden bleiben.

"Sämtliche Vorschläge gehen zwar als Empfehlung an die Bundesregierung und an die Länderregierungen, diese können aber noch ganz anders entscheiden", betonte Strohschneider, der den Wissenschaftsrat als "Agentur der Qualitätssicherung der deutschen Forschung und Hochschulen" sieht. Zudem betreibe der Rat Lobbyarbeit für die Wissenschaft, indem er zum Beispiel die Pfründe der Forschung in der Diskussion zur Föderalismusreform verteidigt. Weil immer mehr Verantwortung auf die Länder übertragen werden soll, sieht Strohschneider die Gefahr, dass die Forschung in den verschiedenen Bundesländern sehr unterschiedliche Zukunftsaussichten hat.
"Viele Nebenwirkungen der Föderalismusreform sind den Entscheidungsträgern offenbar nicht klar"
(Peter Strohschneider)
Wenn zum Beispiel die Hochschulsonderprogramme des Bundes, wie geplant, aufgelöst werden, habe das eine dramatische Entwicklung zur Folge. Auch für die kostenintensive Ärzteausbildung sieht Strohschneider schwarz, wenn die Finanzierung der Uni-Kliniken umgekrempelt wird. Viele Nebenwirkungen der Reform sei den Entscheidungsträgern offenbar nicht klar, wie Strohschneider meint.

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