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Erdbebenserie in Afghanistan: Die Treppe des Teufels

Gleich drei schwere Erdbeben erschütterten binnen weniger Tage Afghanistan. Sie gehören zu einer seltenen und rätselhaften Klasse von Beben, die unerwartet zuschlagen kann.
Blick über Retter, die in Ruinen nach Opfern suchen.
Retter suchen nach den ersten Erdbeben nach Verschütteten. Viele Gebäude in der betroffenen Region sind aus Lehmziegeln erbaut, die komplett zusammenstürzen und den Opfern kaum eine Überlebenschance lassen.

Ein schweres Erdbeben der Magnitude 6,3 erschütterte am frühen Morgen des 11. Oktober 2023 Herat, die zweitgrößte Stadt Afghanistans – das dritte in vier Tagen. Schon am 7. Oktober hatten sich kaum zehn Kilometer vom Epizentrum entfernt binnen 30 Minuten zwei heftige Erdstöße der Magnituden 6,2 und 6,3 ereignet. Hunderte Häuser waren eingestürzt, mindestens 2000 Menschen starben: Das neue Starkbeben traf die Retter noch bei der Arbeit. Alle drei Erdbeben fanden in einer sehr geringen Tiefe von zehn Kilometern statt, was die Schäden an der Oberfläche schlimmer machte.

Ursprung des Bebens waren Teile der Hari-Rud-Verwerfung – ein hunderte Kilometer langer, von Ost nach West verlaufender Bruch in der Landschaft. Hier gleiten zwei Teile der Erdkruste aneinander vorbei, ähnlich wie bei der San-Andreas-Verwerfung in Kalifornien. Diese so genannten Transformstörungen können sehr schwere Erdbeben verursachen, wenn sich die beiden Krustenblöcke gegeneinander bewegen. Doch die Hari-Rud-Verwerfung gilt seit Jahrhunderten als nahezu inaktiv. Vor allem aber bewegten sich die Gesteine nicht aneinander vorbei in ost-westlicher Richtung, wie man an dieser Verwerfung normalerweise erwartet hätte.

»Die Erdbeben zeigen eindeutig einen Überschiebungsmechanismus«, sagt die Geophysikerin Pınar Büyükakpınar vom Deutschen Geoforschungszentrum (GFZ) in Potsdam. Das bedeutet: Die Gesteine wurden von Süd nach Nord übereinandergeschoben – genau senkrecht zur Richtung der Verwerfung. »Obwohl die Verwerfung hauptsächlich als Transformstörung gilt, findet dort also auch Überschiebung statt. Das deutet auf eine viel komplexere tektonische Umgebung dort als ursprünglich beschrieben.«

Auch die Serie aus drei verheerenden Starkbeben binnen kürzester Zeit widerspricht den Erwartungen. »Wenn wir Erdbeben an Plattengrenzen betrachten, folgt ihre Verteilung dem Omori-Gesetz«, sagt Büyükakpınar. »Demnach beginnt eine Serie von Erdbeben mit einem starken Beben, gefolgt von über die Zeit schwächer werdenden Nachbeben.« Bei Ereignissen wie bei Herat dagegen erfolgten mehrere Hauptbeben ähnlicher Magnitude binnen kurzer Zeit auf der gleichen oder eng benachbarten Verwerfungen.

Man bezeichne das als Dubletten oder Mehrfachbeben, erklärt die Forscherin. Solche Ereignisse seien keineswegs ungewöhnlich und träten besonders im Iran immer wieder auf. Derartige Mehrfachbeben könnten auftreten, wenn Verwerfungen komplexe Geometrien wie Stufen oder Kurven haben – oder benachbarte Verwerfungen Spannungen untereinander austauschen. Beim Hari-Rud-Verwerfungssystem gebe es viele parallele, eng nebeneinanderliegende Verwerfungen, erklärt Büyükakpınar. »Tritt ein Erdbeben an einer dieser Verwerfungen auf, erhöht die freigesetzte Energie die Spannung an einer benachbarten Verwerfung, was dort ebenfalls ein Erdbeben auslösen kann.«

Die rätselhaften Intraplattenbeben

Überraschend sind die schweren Beben auch, weil der westliche Teil von Afghanistan nicht als Erdbebengebiet gilt. Ein breiter Streifen seismisch sehr ruhiger Gebiete, in denen seit Jahrhunderten keine starken Beben mehr auftraten, zieht sich durch Zentralafghanistan nach Norden.

Der ungewöhnliche Ort und der unerwartete Mechanismus deuten darauf hin, dass die drei Beben von Herat zu einem vergleichsweise seltenen Typ von Erdbeben gehören, den so genannten Intraplattenbeben. Diese Erschütterungen treten weit entfernt von klassischen Erdbebengebieten inmitten scheinbar stabiler Erdkruste auf. Außerdem sind sie praktisch unmöglich vorherzusagen, weil das letzte Beben am gleichen Ort extrem lange zurückliegen kann. Oft folgen starke Beben einem mathematischen Muster, das man als »Devil's Staircase« bezeichnet – die Treppe des Teufels. Sie folgen nicht in einigermaßen regelmäßigen Abständen aufeinander, sondern haben chaotische Intervalle. Für die seltenen Intraplattenbeben bedeutet das, dass zwischen ihnen unregelmäßige, oft Jahrtausende dauernde Ruhephasen liegen, die von ganzen Gruppen schwerer Beben unterbrochen werden können.

Afghanistans große Verwerfungen | Die Hari-Rud- und die Chaman-Verwerfungszone umschließen einen Keil, der von Erdbeben wenig betroffen ist. Östlich der Spitze des Keils dagegen taucht die Indische unter die Eurasische Platte ab und verursacht viele Erdbeben in der gesamten Region.

Bei Intraplattenbeben werden Spannungen, die durch Bewegungen an Plattengrenzen entstehen, über hunderte oder tausende Kilometer auf Verwerfungen übertragen, an denen eigentlich keine Bewegungen stattfinden. Diese Spannungen stammen im Falle Afghanistans von der Kollision der Indischen Platte, die von Süden herandrängt, mit der Eurasischen Platte im Norden. Ihr Zusammenstoß hat den gigantischen Gebirgsbogen der Himalajaregion aufgeworfen, zu dem auch der Hindukusch gehört.

In Bezug auf Erdbeben ist Afghanistan zweigeteilt. Im Nordosten des Landes bebt es häufig und oftmals stark. So zum Beispiel im Juni 2022, als bei einem Beben südlich von Kabul über 1000 Menschen starben. Es sind klassische Erdbeben an Plattengrenzen, die entstehen, weil sich Teile der Erdkruste entlang von Verwerfungen gegeneinander verschieben. Eigentlich liegt ganz Afghanistan direkt in der Kollisionszone: Nur wenige hundert Kilometer südlich von Herat zieht sich die Chaman-Verwerfung Richtung Nordosten bis nach Kabul – hier verläuft die Kontaktzone zwischen der Indischen Platte im Süden und Osten und der Eurasischen Platte im Norden.

Die zwei Zonen Afghanistans

Die Plattengrenze markiert eine Zone starker seismologischer Aktivität, die sich entlang der Störung nach Nordosten zieht. Östlich von Kabul wird diese Zone zu einem breiten, weit nach Norden reichenden Gürtel starker Erschütterungen. Doch in einem breiten Streifen quer durch West- und Zentralafghanistan sind Erdbeben selten. Dass der Westen Afghanistans trotz seiner Nähe zu dem gewaltigen Zusammenstoß zwischen Indien und Eurasien kein Erdbebengebiet ist, liegt an der Geometrie der Kollision.

Entlang der Chaman-Verwerfung westlich von Kabul nämlich trifft die Indische Platte in spitzem Winkel auf die Eurasische und gleitet überwiegend an ihr vorbei. Bei Kabul allerdings ändert sich der Charakter der Plattengrenze. Dort taucht ein Teil der Indischen Platte unter Eurasien ab, der Zusammenstoß ist hier nahezu frontal. Die Gewalt der Kollision lässt den Hindukusch hier viel höher aufragen als im Westen – einige Berge sind bis zu 7700 Meter hoch – und sorgt für reichlich Erderschütterungen.

Westlich dieser Zone ist die Situation anders. Die Chaman-Verwerfung und die Hari-Rud-Verwerfung treffen bei Kabul zusammen und schließen einen riesigen Keil ein, der dem nordwärts gerichteten Druck Indiens nach Westen ausweicht. Allerdings stößt der Keil dort gegen das Zagros-Gebirge im Iran, das die Kollisionszone zwischen Arabien und Eurasien bildet, und kommt dort nicht weiter. Daher findet entlang der Hari-Rud-Verwerfung kaum Ost-West-Bewegung statt, die Beben erzeugen könnte. Das dreieckige Stück Erdkruste mit Westafghanistan darauf liegt quasi im Auge des Sturms der gewaltigen, erdbebenträchtigen Plattenkollisionen.

Erdbeben ohne Vorwarnung

Dass es in diesem Gebiet nun doch sehr heftige Erschütterungen gab, zeigt, dass sich auch hier nach und nach Spannung aufbaut. Afghanistan weicht der Kollision zwar nach Westen aus, doch dort geht es nicht weiter – denn das Zagros-Gebirge versperrt den Weg. So wird der Krustenkeil wie in einen Schraubstock eingespannt und im Zuge der Kontinentalkollision ganz langsam nach Norden mitgeschleppt. Über Jahrtausende lädt der gewaltige Druck von allen Seiten die Gesteine im Inneren des eingeklemmten Blocks immer stärker mit Spannung auf – bis schließlich irgendwo eine Störungszone bricht und die Gesteine übereinandergeschoben werden, wie es nun gleich dreimal bei Herat geschah.

Solche Intraplattenbeben geben Fachleuten noch viele Rätsel auf. Durch das Muster des »Devil's Staircase« mit unregelmäßigen, Jahrtausende währenden Pausen und ganzen Gruppen von massiven Erdbeben sind sie schwer zu untersuchen. Fachleute vermuten, dass dabei Verwerfungssysteme als Ganzes mit Spannung geladen werden und die Brüche stark untereinander wechselwirken. Spannungen werden von einzelnen Bruchzonen auf andere übertragen: Bricht eine, steigt die Belastung der nächsten sprunghaft an, so dass diese ebenfalls bebt – bis das ganze System quasi entladen ist und wieder für Jahrtausende ruht.

Diese Bebengruppen sind besonders verheerend, da dass sie sich wegen der langen Ruhephasen typischerweise in Regionen ereignen, in denen aus historischer Zeit keine größeren Erdbeben bekannt sind. Deswegen sind die Beben von Herat eine Warnung für Regionen wie Mitteleuropa. Denn auch bei uns kollidieren Kontinente: Afrika bohrt sich von Süden her in Eurasien und hat dabei die Gebirge des Alpenbogens aufgetürmt. Und der nordwärts gerichtete Druck setzt ebenfalls die Erdkruste Europas unter Spannung. Wo sich diese Energie in jahrtausendelang ruhenden Verwerfungen ansammelt und sich womöglich irgendwann entlädt, lässt sich von der Oberfläche aus nicht erkennen. Bei Intraplattenbeben weiß niemand, wo die Treppe des Teufels als Nächstes zuschlägt.

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