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Rückenmark: Motorisches Lernen ohne Gehirn

Das Rückenmark kann motorische Abläufe flexibel und dauerhaft anpassen. Damit verfügt es über Lern- und Gedächtniskapazitäten, unabhängig vom Gehirn. Nun wurden die zuständigen Neuronen identifiziert. Die Erkenntnisse könnten die Therapie von Rückenmarksverletzungen verbessern.
Grafische Darstellung einer menschlichen Wirbelsäule
Das Rückenmark verläuft im Wirbelkanal der Wirbelsäule. Es dient unter anderem der Weiterleitung der Nervenimpulse des Motorkortex an die Muskulatur und spielt eine entscheidende Rolle bei der Koordination von Reflexen.

Braucht es ein Gehirn zum motorischen Lernen? Nein, wie man bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts weiß. So integriert das Rückenmark sensomotorische Informationen und passt Bewegungen entsprechend flexibel an. Es ist also lernfähig und verfügt über ein Gedächtnis – unabhängig vom Gehirn. Bis jetzt war jedoch unklar, wie dies möglich ist. Wissenschaftler aus Japan und Belgien haben nun die genauen neuronalen Schaltkreise entschlüsselt, die hirnunabhängiges motorisches Lernen ermöglichen. Ihre Ergebnisse publizierten sie in »Science«.

Das Team um Aya Takeoka vom RIKEN Center for Brain Science in Hirosawa konzipierte dafür ein Experiment mit Mäusen, denen das Rückenmark durchtrennt worden war, welches somit keinerlei Input vom Gehirn erhielt. Jedes Tier hing in einem Haltegurt, so dass seine Hinterläufe frei baumelten. Die Forschenden stimulierten die Beine der Nager wiederholt elektrisch, woraufhin sie reflexartig zurückgezogen wurden. Die Hälfte der Tiere ereilte der leichte Stromstoß immer dann, wenn sie ihre Extremitäten zu weit nach unten hängen ließen. Bei den Kontrolltieren hingegen erfolgte die Reizung zufällig und stand nicht in Zusammenhang mit der Beinposition.

Nach zehn Minuten beobachteten die Fachleute einen Lerneffekt nur bei den experimentellen Mäusen: Ihre Beine blieben oben und vermieden jede elektrische Stimulation. Das Rückenmark ist also dazu in der Lage, einen äußeren Reiz mit der Beinstellung zu assoziieren und den motorischen Output entsprechend anzupassen. Am nächsten Tag wiederholten Takeoka und ihre Kollegen den Test, vertauschten aber die Versuchs- und Kontrollmäuse. Die ursprünglichen Versuchstiere hielten ihre Beine immer noch oben: Das Rückenmark hatte somit eine Erinnerungsspur angelegt, die das Umlernen behinderte.

Das Rückenmark umfasst mehrere Populationen von Neuronen, die funktionell in zwei Kategorien unterteilt sind: dorsale (zum Rücken liegende) Nervenzellen, die die sensorische Informationen empfangen und übertragen, und ventrale (zum Bauch liegende), die den motorischen Output modulieren. Um herauszufinden, wie sie jeweils am Lernen und Erinnern beteiligt sind, schaltete die Gruppe unterschiedliche Gene bei den Versuchsmäusen ab.

Hoffnung bei Rückenmarksverletzungen

Nach dem Knockout von dorsalen Zellen passten sich die Beine der Mäuse nicht mehr an die Elektroschocks an. Dies betraf insbesondere jene Neurone, die das Gen Ptf1a exprimieren. Für das Umlernen am nächsten Tag schienen hingegen die ventralen Zellen des Rückenmarks entscheidend zu sein. Laut den Forschern belegen die Ergebnisse, dass auch die spinalen Schaltkreise dem Prinzip des sensomotorischen Lernens folgen. Die Erkenntnisse könnten dabei helfen, Therapien zu entwickeln, die die Motorik nach einer Rückenmarksverletzung fördern.

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