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Faszinierender Mechanismus: Seescheiden nutzen Reibungskräfte für die Embryonalentwicklung

Bereits kurz nach der Befruchtung beginnt eine tierische Eizelle, sich neu zu organisieren. Aber wie funktioniert das? Offenbar sind mechanische Effekte daran beteiligt.
Seescheiden in einem Korallenriff
Seescheiden sind die am engsten mit den Wirbeltieren verwandten Wirbellosen.

Wer schon einmal getöpfert hat, weiß, wie sich Ton nur auf Grund der Reibung zwischen den Händen zu allerlei Gebilden formen lässt. Die Eizellen von Seescheiden nutzen ein ähnliches Prinzip, wenn sie sich nach der Befruchtung neu organisieren. Durch die Reibung zwischen den Komponenten in ihrem Zellinneren kommt es zu Formveränderungen, die deren Entwicklung vorantreiben. Das zeigt ein europäisches Forschungsteam in einer Studie, die im Fachmagazin »Nature Physics« erschienen ist.

Seescheiden, fachsprachlich auch Ascidien genannt, sind sessile Manteltiere, die weltweit die Meere vom Schelf bis zur Tiefsee besiedeln. Auch in deutschen Meeresgewässern finden sich einige Arten. Ausgewachsen wirken sie zwar auf den ersten Blick wie gummiartige Klumpen, doch sie gelten als die engsten lebenden Verwandten von Wirbeltieren, zu denen auch der Mensch zählt. Vor allem ihre kaulquappenartigen Larven weisen bei einigen Organen und Geweben erhebliche Ähnlichkeiten mit den Embryonen von Wirbeltieren auf. Aus diesem Grund werden sie in der Grundlagenforschung häufig als Modellorganismus zur Untersuchung der frühen Embryonalentwicklung verwendet. Beinah alle Seescheiden sind Hermaphroditen, das heißt sie produzieren sowohl männliche als auch weibliche Keimzellen.

Nach der erfolgreichen Befruchtung durch männliche Spermien kommt es bei tierischen Eizellen typischerweise zu einer zytoplasmatischen Umstrukturierung, bei der sich die Zellinhalte und -bestandteile verändern. Dieser Prozess prägt maßgeblich die spätere Entwicklung des Embryos. Bei den Ascidien führt dieser Umbau zur Bildung einer glockenartigen Ausstülpung, die als Kontraktionspol bekannt ist. Dort sammeln sich wichtige Materialien, die die Reifung des Embryos fördern. Wie genau diese Ausstülpung entsteht, war bis jetzt allerdings unklar.

Myoplasma hat größere Rolle als gedacht

Unter dem Mikroskop stellte die Forschungsgruppe um Erstautorin Silvia Caballero-Mancebo vom Institute of Science and Technology in Österreich fest, dass die Zellveränderungen, die zur Bildung des Kontraktionspols führen, vom Aktin-Myosin-Kortex ausgehen – einer dynamischen Struktur, die sich in tierischen Zellen nahe der Zellmembran befindet. »Unsere Untersuchung ergab, dass sich der Aktin-Myosin-Kortex nach der Befruchtung zusammenzieht und bewegt. Dies führt zu den ersten Formveränderungen der Zelle«, erklärt Caballero-Mancebo laut einer Pressemitteilung ihres Instituts. Das allein schien jedoch nicht den gesamten Prozess zu erklären.

Bei einer genaueren Betrachtung des Myoplasmas – eines Zytoplasmabereichs in befruchteten Eiern der Seescheiden, aus dem die Muskelzellen des Larvenschwanzes hervorgehen – konnten die Wissenschaftler weitere Details beobachten. Während der Bewegung des Aktin-Myosin-Kortex faltet sich das Myoplasma und bildet auf Grund der Reibungskräfte, die zwischen den beiden Komponenten entstehen, zahlreiche Wölbungen. Kommt der Prozess zum Stillstand, verschwinden die Reibungskräfte, und die Myoplasmawölbungen werden zu einer glockenförmigen Beule.

Die Studie verdeutlicht somit die Bedeutung von Reibungskräften bei der Gestaltung und Formung eines sich entwickelnden Organismus. Carl-Philipp Heisenberg, Professor für Entwicklungsbiologie und leitender Wissenschaftler am ISTA, sagte, er wolle künftig versuchen, noch mehr über das Myoplasma herauszufinden. »Dessen ungewöhnliche Materialeigenschaften zu erforschen und dadurch zu begreifen, wie diese bei der Gestaltung von Seescheiden beteiligt sind, wird in Zukunft besonders spannend.«

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