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Ornithologie: Stammbaum der Vögel muss umgeschrieben werden

Flamingos und Tauben sind Vögel – aber sie sind nicht so eng verwandt wie bisher angenommen. Das zeigt eine umfassende Analyse von mehr als 360 Vogelgenomen. Und es gab noch eine Überraschung.
Zwei Stieglitze sitzen auf einem blühenden Ast
Auch Stieglitze (Carduelis carduelis) sind Nachfahren der Dinosaurier – wie alle Vögel.

Vor rund 66 Millionen Jahren löschte ein Asteroid die damals auf der Erde lebenden Dinosaurier auf einen (Ein-)Schlag aus. Doch halt: Nicht alle fielen dem Massensterben zum Opfer. Einige wenige überlebten und entwickelten sich zu den heute existierenden Vögeln. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben bereits Jahrhunderte damit verbracht, die rund 10 000 rezenten Vogelarten in einen klaren Stammbaum einzuordnen, um zu verstehen, wie die letzten überlebenden Dinosaurier schließlich den Himmel bevölkerten. Das gelang jedoch nur mit vielen Einschränkungen. Nun hat ein internationales Wissenschaftsteam den Stammbaum der Vögel mit Hilfe moderner Genomanalysen im Rahmen des »Bird 10 000 Genomes«-Projekts neu bestimmt. Die Ergebnisse wurden in zwei Studien in den beiden Fachmagazinen »Nature« und »PNAS« veröffentlicht.

Die Wissenschaftler kombinierten die genomischen Daten von mehr als 360 lebenden Vogelarten mit Daten von fast 200 ausgestorbenen Vogelspezies, um den Stammbaum genauestens zu rekonstruieren. Dabei stellte sich heraus, dass die meisten modernen Verwandtschaftsgruppen der Vögel innerhalb eines sehr kleinen Evolutionsfensters von nur fünf Millionen Jahren entstanden sind. Zudem zeigte sich, dass die Gene dieser Tiere nicht so stark vermischt sind, wie es nach vielen Jahrmillionen andauernder genetischer Rekombination zu erwarten wäre.

Frühere Untersuchungen hatten folgendes Bild von den Verwandtschaftsbeziehungen der Vögel gezeichnet: 95 Prozent der gut 10 000 Arten gehören zu den »Neoaves«. Die restlichen fünf Prozent, darunter Laufvögel wie Strauß und Emu (Palaeognathae) sowie Hühner- und Gänsevögel (Galloanseres), weichen anatomisch von den Neoaves ab und bilden deshalb jeweils eine eigene Gruppe beziehungsweise Klasse. Die Neoaves selbst wurden in zwei große Untergruppen eingeteilt: Tauben und Flamingos in die eine, alle anderen Arten in die andere Gruppe. Die Gliederung basierte auf einer DNA-Analyse aus dem Jahr 2014, in die Genomdaten von 48 verschiedenen Neoaves-Arten eingeflossen waren.

Doch als eine Forschungsgruppe um Edward Braun von der University of Florida nun eine ähnliche Analyse mit den vollständigen Genomen von 363 Arten wiederholte, ergab sich ein anderer Stammbaum. Statt zwei Neoaves-Untergruppen existieren demnach vier. Außerdem sind Tauben und Flamingos laut der neuen Untersuchung nicht mehr in derselben Gruppe. Aber welche Einteilung ist denn nun die richtige?

Ein Teil des Vogel-Genoms scheint »eingefroren«

»Als wir uns die einzelnen Gensequenzen und den jeweils von ihnen unterstützten Stammbaum ansahen, stellte sich heraus, dass sämtliche Gene, die den älteren Stammbaum rechtfertigen, an einer ganz bestimmten Stelle zu finden sind. Das war der Auslöser für die ganze Sache«, sagt Braun. Jene Stelle im Genom ist nach Angaben der Biologen 21 Millionen Basenpaare lang und macht rund zwei Prozent des Vogelgenoms aus. Das Besondere daran: Sie ist seit dem Aussterben der Dinosaurier nahezu unverändert geblieben. Die Gründe dafür sind unklar.

Das ist deshalb ungewöhnlich, weil sich bei der sexuellen Fortpflanzung normalerweise die Gene von Vater und Mutter großteils neu und zufallsbestimmt zusammensetzen. Denn sowohl Vögel als auch Menschen mischen zunächst die Gene, die sie von ihren Eltern geerbt haben, wenn sie Sperma und Eizellen erzeugen. Dieser Prozess wird als Rekombination bezeichnet. Er vergrößert die genetische Diversität einer Art und sorgt unter anderem dafür, dass sich Geschwister hinsichtlich ihres Erbguts leicht voneinander unterscheiden. Dass ein bestimmter DNA-Abschnitt im Genom der Vögel davon anscheinend unbeeindruckt geblieben ist – und das bereits seit 66 Millionen Jahren –, ist daher bemerkenswert.

In diesem über lange Zeit »eingefrorenen« Teil der DNA sahen sich Flamingos und Tauben einander also ähnlich. Betrachtet man jedoch das gesamte Genom, wird deutlich, dass die beiden Gruppen stammesgeschichtlich weiter voneinander entfernt sind. Die ungewöhnliche Gensequenz hatte den Stammbaum der Vögel also über lange Zeit verfälscht. Laut den Fachleuten ist es möglich, dass eine solche Überraschung auch in den Genomen anderer Organismen lauert. »Wir haben diese irreführende Region bei Vögeln entdeckt, weil wir sehr viel Energie in die Sequenzierung von Vogelgenomen gesteckt haben«, sagt Braun. »Ich denke, dass es solche Fälle auch bei anderen Arten gibt, die derzeit noch nicht bekannt sind.«

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