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Geburtsverletzungen: Die verschwiegenen Leiden der Mütter

Bei einer vaginalen Geburt kommt es nicht selten zu schweren Verletzungen am Beckenboden. Die Schäden werden jedoch oft nicht erkannt, die Folgen bagatellisiert, die Leiden nicht ernst genommen. Zwei Mütter erzählen.
Frau bedeckt ihren Intimbereich mit den Händen
Geburtsverletzungen und ihre Folgen sind ein Tabu – selbst in der Medizin.

Als Clara mit ihrem ersten Kind schwanger war, bereitete ihr die bevorstehende Geburt wenig Sorgen. »Ich war 33 und gesund«, erinnert sich die 40-Jährige aus Süddeutschland. Sie habe nichts gewusst von den möglichen Folgen einer natürlichen Geburt – von Organsenkungen, Schließmuskelrissen, Inkontinenz. »Warum haben Sie mir nichts davon gesagt?«, habe sie ihre Gynäkologin später gefragt. Antwort: »Das will doch niemand hören. Es muss ja nicht so enden wie bei Ihnen.«

Es gehört zur ärztlichen Berufspflicht, über die Risiken eines Eingriffs und seine Alternativen aufzuklären. Für eine natürliche vaginale Geburt gilt das bislang nicht, außer sie gefährdet das Kind. Die Risiken für den mütterlichen Beckenboden sind kein Grund, auch nicht die Komplikationen, die drohen, etwa wenn die Geburt nicht schnell genug vorangeht oder das Kind zu wenig Sauerstoff bekommt. Denn dann wird notfalls auch ohne Rücksprache eingegriffen – mit einem Notkaiserschnitt, mit Saugglocke oder Geburtszange, und manchmal mit Gewalt.

»Ich bin als gesunde Frau in die Geburt gegangen und kam als Krüppel wieder heraus«Clara, 40, Mutter von zwei Kindern

Bei Clara sah alles nach einer unkomplizierten Geburt aus. Das Kind wurde per Ultraschall auf drei Kilo geschätzt. Tatsächlich wog es mehr als vier Kilo, hatte 36 Zentimeter Kopfumfang, zu groß für ihr Becken. Die Geburt dauerte rund 24 Stunden. Dreimal habe sie nach einem Kaiserschnitt gefragt, erzählt Clara. Nicht nötig, hieß es. Als sie keine Kraft mehr hatte, holte die Ärztin das Kind operativ, ohne Rücksprache. »Während die Ärztin an der Saugglocke zog, drückten ein Assistenzarzt und eine Hebamme mit den Ellenbogen auf meinen Bauch. Ich bekam keine Luft mehr. Ich dachte, das ist mein Ende.«

Der so genannte Kristeller-Handgriff soll das Kind während einer Wehe sanft mit den Händen Richtung Ausgang bewegen. Doch zahlreiche Mütter berichten, dass sich Ärzte mit dem Oberkörper auf ihren Bauch warfen und das Kind mit dem Unterarm durchs Becken schoben. Für viele Schwangere eine traumatische Erfahrung, verbunden mit schrecklichen Schmerzen und Todesangst. Ein Nutzen ist nicht belegt. Fachgesellschaften sprechen sich deshalb gegen das Kristellern aus, weisen auf die Gefahr von Rippenbrüchen, Gebärmutterrissen und Beckenbodenverletzungen hin. Wie viel Schaden der »Handgriff« bereits angerichtet hat, ist unklar. Er muss nicht dokumentiert werden.

»Ich bin als gesunde Frau in die Geburt gegangen und kam als Krüppel wieder heraus«, sagt Clara. »Die nächsten Tage konnte ich nicht aufrecht laufen. Ich hatte das Gefühl, als ob ich alle Organe nach unten verliere.« Ihre Frauenärztin versicherte, das sei ganz normal. Viel Beckenbodentraining, dann würde alles besser.

Claras Gefühl sagte etwas anderes; sie suchte zwei Beckenbodenzentren auf. Diagnose: eine leichte Blasensenkung und eine Senkung der Gebärmutter bis zum Scheidenausgang. Sie bekam eine spezielle Physiotherapie sowie ein Pessar für die Vagina, um den Beckenorganen Halt zu geben. Dass auch ein Schließmuskel verletzt war, bemerkte damals niemand.

In Deutschland gebe es keine etablierten Standards zur Erfassung von Beckenbodenbeschwerden nach der Geburt, erläutert Sebastian Ludwig, Leiter des Kontinenz- und Beckenbodenzentrums an der Frauenklinik der Universität zu Köln. Die Frauen müssten sich selbst melden. Doch das tue laut einer Onlineumfrage nur eine Minderheit.

Mit 37 bekam Clara ihr zweites Kind, vaginal und ohne Komplikationen. Aber wieder wog es, anders als erwartet, mehr als 4000 Gramm. Die Darmprobleme wurden schlimmer: Sie konnte nun weder Luft noch weichen Stuhl halten. Sie fand eine Erklärung für ihre Beschwerden schließlich auf der Website Geburtsrisiken.de von Martina Lenzen-Schulte, Medizinerin und Redakteurin beim »Deutschen Ärzteblatt«. Der von ihr empfohlene Arzt erkannte per Ultraschall, dass ein wichtiger Beckenbodenmuskel vollständig abgerissen war, der Musculus puborectalis. Endlich hatten ihre Probleme einen Namen. »Und jetzt war auch klar, warum die Physiotherapie nicht half«, berichtet die 40-Jährige. »Einen abgerissenen Muskel kann man nicht trainieren.«

Der Schließapparat | Der innere und der äußere Schließmuskel sorgen dafür, dass Stuhl und Darmgase nicht unkontrolliert abgehen. Auch der Musculus puborectalis trägt dazu bei: Er ist ein Teil des Musculus levator ani, der innersten Muskelschicht des Beckenbodens, und umschlingt den Enddarm an der Schwelle zum Analkanal.

Versteckt hinter einer intakten Vaginalwand sei ein solcher Riss nicht ohne Weiteres zu erkennen, sagt der Gynäkologe und Beckenbodenspezialist Hans Peter Dietz. Er hat den 3-D/4-D-Ultraschall für Beckenbodenschäden entwickelt. So stellte er 2023 bei Clara auch noch einen Dammriss dritten Grades fest, einen Riss bis in den Schließmuskel. Das Krankenhaus hatte nur einen Dammriss zweiten Grades vermerkt. Bei Grad I ist allein die Scheide betroffen, bei Grad II auch der Damm. Grad III reicht bis in den äußeren Darmschließmuskel, Grad IV bis in die innere Darmschleimhaut.

Die Anatomie des Beckenbodens

Beim Menschen verlaufen Geburten oft nicht so reibungslos wie bei anderen Tieren: Der Fötus ist relativ groß. Besonders schwierig wird es, wenn Frauen spät Kinder bekommen, weil Muskeln und Gewebe im Beckenboden dann bereits weniger elastisch sind. Der Beckenboden hängt seitlich an den Beckenknochen, vorne an den Schambeinen und hinten am Steißbein und bildet eine trichterförmige Hängematte, die den Darm, die Blase und die Gebärmutter halten. Seine rund 15 bis 25 Quadratzentimeter enge Öffnung muss sich bei der ersten Geburt auf das Zwei-, Drei- oder Vierfache weiten.

Das belastet vor allem den Levator ani, die innere Muskelschicht des Beckenbodens, die bis in die Scheidenwand und in den äußeren Schließmuskel reicht. Unter dem Druck der Geburt kann der Levatormuskel reißen, und auch Bindegewebe und Nerven können leiden. Wegen des Drucks auf die Nerven haben viele Mütter nach der Geburt zunächst kein Gefühl im Beckenboden und nicht die gewohnte Kontrolle über Urin und Stuhl, selbst wenn keine Muskeln gerissen sind. Meist geht das vorüber, aber in der Regel wird der Beckenboden nicht mehr so fest wie vor der Geburt. Deshalb bekommen manche Frauen noch Jahre später Senkungsbeschwerden, wenn Muskeln und Gewebe altersbedingt erschlaffen und die Schäden nicht mehr kompensieren können.

Die Beckenorgane | Wenn der Beckenboden erschlafft, können sich Blase, Darm oder Gebärmutter senken und durch die Scheidenwand wölben. In schweren Fällen hängt das Organ im Stehen aus der Scheide heraus. Eine solche Senkung dritten oder vierten Grades droht besonders dann, wenn der Levatormuskel gerissen ist.

Bei einer Beckenbodenschwäche drohen nicht nur Organsenkungen, sondern auch ein unfreiwilliger Abgang von Harn, Luft und Stuhl. Die anale Inkontinenz hat aber mehr mit Verletzungen des Schließmuskels zu tun. »Höhergradige Dammrisse sind die häufigste Ursache für Stuhlinkontinenz bei Frauen«, berichten die Gynäkologinnen Kathrin Beilecke und Bettina Wildt vom Deutschen Beckenbodenzentrum in Berlin in der »Deutschen Hebammenzeitschrift«. Die Beschwerden hätten enorme Auswirkungen »auf alle Aspekte des sozialen Lebens«.

Wie bei Helene, Mutter von drei Kindern. Bei ihren ersten zwei Geburten hatte sie nur oberflächliche Dammrisse. Damals war die Österreicherin Anfang 20, schlank und sportlich, »ich konnte weiterhin joggen, alles fühlte sich normal an«, erzählt die 51-Jährige heute. Vor ihrer dritten Geburt habe sie auf die alten Dammrisse hingewiesen. Sie war nun bereits 40, doch niemand habe mit ihr über einen möglichen Kaiserschnitt gesprochen. Sie brachte auch das dritte Kind auf natürlichem Weg zur Welt, ohne Zange, Saugglocke oder Kristellern. »Danach konnte ich meinen Beckenboden nicht mehr anspannen, konnte Winde nicht halten. Und da unten fühlte sich alles taub an.« Sie habe bei der Visite davon berichtet, vergebens. Niemand habe sich den Damm noch einmal angesehen. Dokumentiert wurde nur ein oberflächlicher Dammriss, sagt Helene.

»Höhergradige Dammrisse wurden in der Vergangenheit nicht selten vertuscht oder absichtlich unterbewertet«, schreiben die Gynäkologinnen Beilecke und Wildt. Mit der neuen Leitlinie zur Versorgung von Dammrissen soll sich das ändern. Wenn der Riss zwischen zwei Graden liegt, muss nun der höhere angegeben werden, und ab Grad II ist eine rektale Untersuchung Pflicht. Lenzen-Schulte rät sogar nach jeder Geburt zu einer Tastuntersuchung der Schließmuskeln, besonders bei unkontrollierbaren Blähungen, einer typischen Folge von Dammrissen. Noch besser: eine Untersuchung per Ultraschall, wie von Hans Peter Dietz empfohlen. Der Ultraschall macht tiefe Risse sichtbar, die sonst übersehen werden.

»Unerfahrene üben direkt an der Frau, learning by doing«Martina Lenzen-Schulte, Medizinerin

Dammrisse werden meist gleich nach der Geburt versorgt, das heißt genäht, aber häufig »nicht optimal«, so schildert es die Hebamme Susanne Langer. »Unerfahrene üben direkt an der Frau, learning by doing«, beklagt Lenzen-Schulte 2023 in ihrem Buch »Untenrum offen«.

In Deutschland trifft es rund jede zweite Mutter. 2022 wurden bei mehr als 350 000 Frauen die Geschlechtsorgane nach der Geburt »rekonstruiert«, also genäht. Versorgt werden so auch vorbeugende Dammschnitte: Sie sollen die Geburt beschleunigen und ein unkontrolliertes tiefes Einreißen verhindern. Ob das gelingt, ist allerdings höchst umstritten, unter anderem, weil ein schlecht gesetzter Schnitt den Weg zu den Schließmuskeln bahnen kann.

Bei Helenes Kontrolluntersuchung blieb der tiefe Riss unentdeckt. Sie vertraute zunächst auf das, was ihr das Krankenhaus, die Hebamme und ihr Frauenarzt sagten: »dass die Beschwerden vergehen, wenn ich den Beckenboden trainiere«, erzählt sie. Täglich eine Stunde habe sie geübt, Physiotherapien gemacht, anales Biofeedback, Stromtherapie, dazu zahlreiche Ärzte konsultiert. Nach zwei Jahren verschwand die Taubheit. Doch die anale Inkontinenz blieb.

»Ich musste immer sofort auf die Toilette, wenn Stuhldrang einsetzte, und bei flüssigem Stuhl musste ich eine Windel tragen«, erinnert sie sich. Anfangs habe sie sich zu sehr geschämt, um darüber zu reden. Beim Sex war nichts mehr wie vorher. »Da war alles weit und offen, ich spürte fast nichts und hatte zugleich Schmerzen.« Ausflüge, Wandern, Sport: nicht mehr möglich. Am meisten quälte sie der permanente Druck nach unten. »Ich dachte jeden Morgen, dass ich in einem Albtraum aufwache.«

Der Geburtsmodus und seine Folgen

Wie viele Menschen einen solchen Albtraum erleben: Dazu gibt es hier zu Lande keine gesicherten Zahlen. Die Häufigkeiten von Komplikationen und Folgeschäden schwanken von Studie zu Studie stark. Sie hängen von einer Vielzahl von Bedingungen ab, wie dem Alter der Frauen und der Erhebungsmethode. Die folgenden Befunde dienen deshalb nur der groben Orientierung.

Bei schätzungsweise einer von zehn vaginalen Geburten – manche Studien sprechen sogar von bis zu jeder vierten – reißt der Damm bis in den Schließmuskel. Mindestens ebenso oft reißt ein Teil des Levatormuskels, bei Zangengeburten sogar dreimal so oft. Laut der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe zeigen »praktisch alle« relevanten Studien, dass nach einem Wunschkaiserschnitt Urininkontinenz und Organsenkungen seltener auftreten als nach einer Spontangeburt. Zum Beispiel berichteten in einer schwedischen Studie knapp 15 Prozent der Mütter rund 20 Jahre nach einer vaginalen Geburt von Organsenkungen, gegenüber gut sechs Prozent nach einem Kaiserschnitt.

Streng genommen kann man die Geburtsmodi nicht als Ursache interpretieren: Unterschiede in den Verletzungen können auch dadurch zustande kommen, dass sich die Geburten in anderer Hinsicht systematisch unterscheiden. Zu solchen »Störvariablen« zählen Risikofaktoren wie das Gewicht des Kindes, Vorerkrankungen und Übergewicht der Mutter sowie ihr Alter. Mit jedem Lebensjahr mehr steigt die Gefahr für den Beckenboden.

»Die vaginale Geburt belastet den Beckenboden zwar, am meisten leidet er aber unter der Schwangerschaft selbst«Michael Abou-Dakn, Gynäkologe

Um individuelle Risiken zu berechnen, empfehlen deutsche Fachgesellschaften den UR-CHOICE-Rechner: Auf dieser Website können Schwangere persönliche Merkmale wie das Alter eingeben und vergleichen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für Beckenbodenschäden bei Frauen mit ihren Risikofaktoren je nach Geburtsmodus ausfällt. Die Zahlen beruhen auf Langzeitstudien in Schweden, Neuseeland und dem Vereinigten Königreich. Fazit der Fachgesellschaften: Vor allem bei Hochrisikopatientinnen reduziert ein Kaiserschnitt den Anteil schwerer Harninkontinenzen deutlich. Bei Patientinnen ohne Risikoprofil hingegen schütze er nur »marginal« vor Beckenbodenschäden.

»Der Geburtsmodus verändert das Risiko weniger als gedacht«, sagt Michael Abou-Dakn, ärztlicher Direktor der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am Berliner St. Joseph Krankenhaus. Er hält die vaginale Geburt nicht für die Hauptursache von Beckenbodenschäden: »Sie belastet den Beckenboden zwar, am meisten leidet er aber unter der Schwangerschaft selbst.« Der Gynäkologe hat die aktuellen Leitlinien zur vaginalen Geburt und zum Kaiserschnitt mitverfasst. Die natürliche vaginale Geburt wollte er sogar einmal zum immateriellen Kulturerbe erklären lassen.

Komplikationen beim Kaiserschnitt

Viele Fachleute stehen dem Kaiserschnitt kritisch gegenüber. Von 1991 bis 2011 hatte sich der Anteil von Kaiserschnittgeburten hier zu Lande mehr als verdoppelt und dann bei rund 30 Prozent eingependelt. In den vergangenen Jahren lag die Rate in Deutschland, Österreich und der Schweiz bei knapp über 30 Prozent. Etwa jeder zweite Bauchschnitt in Deutschland ist geplant, das heißt, die Entscheidung fällt vor den Wehen. Doch nur jeder zehnte sei zwingend notwendig, um das Leben von Mutter oder Kind zu retten, heißt es in der aktuellen Kaiserschnitt-Leitlinie.

Solange keine Lebensgefahr besteht, haben Schwangere die Wahl. Doch sie werden nicht standardmäßig über die Risiken beider Geburtsformen informiert. Auf den Webseiten von Fachgesellschaften sucht man vergeblich nach systematischen Vergleichen. Das deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) bietet unabhängige und verständlich aufbereitete, aber keine umfassenden Informationen – Sterberisiken werden zum Beispiel nicht erwähnt.

Kein Wunder, denn gerade zur wohl wichtigsten Frage sind die Antworten unbefriedigend: Wie viele Frauen und Kinder sterben hier zu Lande bei einem geplanten Kaiserschnitt und wie viele bei einer geplanten vaginalen Geburt? Offizielle Statistiken sprechen von einer Müttersterblichkeit von weniger als 1 : 25 000, unterscheiden aber nicht nach Geburtsmodus.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft forscht auf Anfrage in ihren Datenbanken nach. Im Jahr 2022 sind demnach 23 Mütter bei oder kurz nach der Geburt gestorben, davon 18 bei einem Kaiserschnitt. Wie viele davon ein Notkaiserschnitt waren: unbekannt. Doch das macht einen Unterschied, denn die Operationsrisiken – schwere Blutungen, Infektionen, Thrombosen und Embolien – sind beim Notkaiserschnitt größer als beim geplanten Bauchschnitt.

Die Pressestelle der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe kann ebenfalls keine Zahlen liefern. Chefarzt Michael Abou-Dakn verweist auf Statistiken in den Leitlinien, die den geplanten Kaiserschnitt mit der geplanten vaginalen Geburt vergleichen. Zwei der dort zitierten Studien fanden ein erhöhtes Sterberisiko, zwei dagegen nicht. Ist der Eingriff geplant, so nähere sich das Sterberisiko der Mutter dem einer vaginalen Geburt an, sagt Abou-Dakn.

Und was ist mit den Kindern? Die Geburt ist für sie schließlich viel gefährlicher als für die Mütter. 1783 Säuglinge wurden keinen Monat alt, teilt die Deutsche Krankenhausgesellschaft für 2022 mit. Doch laut dem deutschen Science Media Center (SMC) kommen kindliche Todesfälle oder Komplikationen bei einem geplanten Kaiserschnitt nicht häufiger vor als bei einer geplanten vaginalen Geburt. Die Kaiserschnitt-Kinder würden später jedoch eher unter Allergien, Übergewicht oder Diabetes leiden. Langfristig zieht ein Kaiserschnitt außerdem Risiken für weitere Schwangerschaften nach sich; zum Beispiel reißt die Gebärmutter eher, wenn die Mutter bereits per Kaiserschnitt entbunden hat. Auf der anderen Seite birgt eine vaginale Geburt auch Risiken für Kinder, wie die von Hirnverletzungen beim Einsatz einer Saugglocke.

Die Mutter hat das letzte Wort

Zu vielen dieser Warnungen gibt es Gegenstimmen. Doch selbst wenn alle Risiken unstrittig und alle Risikofaktoren bekannt wären: Eine Formel für die beste, die risikoärmste Geburt existiert nicht. Man müsste dazu Dinge vergleichen, die kaum vergleichbar sind, etwa eine Inkontinenz mit einer Embolie – die eine eher ungefährlich, aber häufig, die andere lebensgefährlich, aber vergleichsweise selten. Welches Risiko eine Frau lieber eingehen möchte, das kann nur jede für sich entscheiden.

Der Gynäkologe Abou-Dakn sagt, er frage nach Inkontinenz in der Schwangerschaft, nach Beckenbodenproblemen in der Familie und nach dem Hauptrisikofaktor, einem großen ersten Kind. Gab es bei einer ersten vaginalen Geburt schon Komplikationen, dann empfiehlt er bei der zweiten gleich einen geplanten Kaiserschnitt oder frühzeitig auf einen Kaiserschnitt umzusteigen, »wenn es vaginal nicht vorangeht«.

Aber stets bleibt ein Restrisiko. »Wir wissen im Voraus nicht mit Sicherheit, wer eine Schädigung des Beckenbodens durch die Geburt erleiden wird«, schreiben Vertreterinnen und Vertreter der Fachgesellschaften, darunter Michael Abou-Dakn. Sie fordern, Schwangere »evidenzbasiert, emotionsfrei und nicht wertend« zu beraten. Und wenn eine Frau keine vaginale Geburt möchte: »Dann würde ich die Risiken mit ihr erörtern, und dann führen wir den Kaiserschnitt auf Wunsch durch«, sagt Abou-Dakn.

So steht es auch in den Leitlinien. Nach einem ausführlichen Gespräch soll der Schwangeren »ihr Wunsch gewährt werden«. Eine merkwürdige Formulierung: Laut Patientenrechtegesetz entscheidet die Schwangere über Untersuchungen, Eingriffe und Medikamentengabe während der Geburt – außer in medizinischen Notfällen, wenn eine Maßnahme unaufschiebbar ist. Ob dann noch genug Zeit ist, um über die Alternativen aufzuklären: Das ist eine Ermessensfrage, über die man streiten kann.

Und solche Komplikationen sind nicht nicht selten. In einer Feldstudie an der Universität Wien wünschten sich rund 900 von 1050 schwangeren Frauen eine vaginale Geburt. 10 Prozent benötigten dann doch einen Notkaiserschnitt, 4,5 Prozent wurden per Saugglocke entbunden, mehr als 50 Prozent am Damm operiert. Beim Wunschkaiserschnitt gab es weniger Probleme. »Die Ergebnisse sind vergleichbar mit unkomplizierter vaginaler Geburt und deutlich überlegen gegenüber Saugglocke oder Notkaiserschnitt«, so das Fazit.

Das »intakte Geburtserlebnis«, ein häufig geäußertes Argument für die vaginale Geburt, werde nicht von allen Frauen als wichtig eingestuft, schreiben zwei der Wiener Forschenden, Peter Husslein und Martin Langer. Auf der anderen Seite stehen die psychischen Folgen, die aus Komplikationen der vaginalen Geburt entstehen können: Traumata und Depressionen sowie deren Folgen für die Bindung zum Kind.

Redebedarf haben die Frauen aber eher aus anderen Gründen. Ein psychisches Trauma nach einem Kaiserschnitt erlebe sie selten, sagte Kaven Baeßler, Leiterin des Beckenboden- und Kontinenzzentrums am Berliner Franziskus-Krankenhaus, gegenüber dem Science Media Center. In ihre Sprechstunde kämen vor allem Frauen, »die nicht aufgeklärt wurden und frustriert und traumatisiert sind, weil sie in die Entscheidungsprozesse nicht ausreichend einbezogen wurden.«

Wie Clara und Helene. Beide glauben, ihre Schicksale wären vermeidbar gewesen: wenn ihre Fragen nach einem Kaiserschnitt gehört worden wären. Wenn ihre Geburtsverletzungen nicht übersehen worden wären. Wenn ihre Dammrisse fachgerecht genäht worden wären.

»Wie man richtig diagnostiziert und versorgt, ist bekannt. Es wird nur nicht immer gemacht«Helene, 51, Mutter von drei Kindern

Auch bei Helene dauerte es Jahre, bis sie die richtige Diagnose erhielt. »Dammriss dritten Grades, dazu ein Defekt des Puborectalis-Muskels«, erzählt sie. Mehr als vier Jahre nach der dritten Geburt hat ein Spezialist ihren Schließmuskel repariert, den Levator ani genäht und verstärkt. Seitdem geht es ihr deutlich besser. Aber nur, solange sie körperliche Belastungen vermeidet. Joggen sei weiterhin ausgeschlossen. Geschlechtsverkehr: nur in einer bestimmten Seitenlage. Ein vaginaler Orgasmus: unmöglich.

Niemand könne sich vorstellen, wie sehr solche Beschwerden die Freiheit und Lebensfreude nehmen, sagt Helene. »Ich fühle mich nicht mehr wohl in meinem Körper.« Nach jedem Stuhlgang müsse sie nachreinigen. Und noch immer gehen oft unkontrolliert Winde ab, besonders wenn sie lacht, hustet oder niest. »Entwürdigend«, findet sie. Im Alter drohen Organsenkungen und zunehmende anale Inkontinenz. Doch von weiteren Operationen wurde der 51-Jährigen abgeraten: zu gering die Chancen auf Besserung.

Therapie für den Beckenboden

Die Muskulatur des Beckenbodens ist ein Jahr nach der Geburt in der Regel noch immer geschwächt. Lokale Östrogene und Schmerzmittel können die Heilung fördern, etwa bei Dammrissen. Häufig ist jedoch eine weitere Therapie nötig. Bei Beckenbodenschwäche und Organsenkungen kann ein Pessar helfen: Es wird in die Vagina eingesetzt, um den Beckenboden in die ursprüngliche Position zurückzubringen und die Organe zu stützen. Die Wirkung ist noch nicht gut belegt, aber das gilt auch für Alternativen wie Biofeedback, Elektro- oder Magnetstimulation. Am häufigsten empfohlen: Beckenbodentraining und Physiotherapie. Doch ihre Effekte bei Organsenkungen sind nicht groß. Eine Physiotherapie wirkt umso besser, je intensiver die Frauen dabei von spezialisierten Fachleuten betreut werden. Außerdem kommt es auf den Schaden an: Einen geschwächten Beckenboden kann man trainieren, einen abgerissenen Muskel nicht. Rund die Hälfte dieser Levator-Avulsionen heilen von selbst, mit Training nicht besser als ohne. Ist der Levatormuskel lediglich angerissen, sind die Chancen größer, dass sich die Beschwerden bis ein Jahr nach der Geburt bessern. Letzte Option sind Operationen, die zum Beispiel den Levatormuskel nähen oder gesenkte Organe befestigen. Auch gerissene Schließmuskeln lassen sich operativ rekonstruieren, aber nur ein Teil der Betroffenen profitiert dauerhaft. Bei Harninkontinenz verspricht der Einsatz eines Bandes um die Harnröhre häufig Erfolg.

»Ich möchte, dass meiner Tochter das nicht passiert«, wünscht sich die Österreicherin. »Wenn eine Frau über anale Inkontinenz klagt, muss das untersucht werden. Wie man richtig diagnostiziert und versorgt, ist bekannt. Es wird nur nicht immer gemacht«, sagt Helene. Ihr Appell an Ärztinnen und Ärzte: »hinhören und nachsehen.«

Hinweis der Redaktion: Die Namen der betroffenen Frauen wurden geändert.

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  • Quellen

Beilecke, K., Lenzen-Schulte, M.: Verletzungen von Levator, Damm und Anus: Wie der Beckenboden post partum besser heilt. Deutsches Ärzteblatt 120, 2023

Ludwig, S.: Geburtshilfestudien E-PAD und Mum-Health. Risiko peri- und postpartaler Beckenbodenfunktionsstörungen. Deutsches Ärzteblatt 120, 2023

Sideris, M. et al.: Risk of obstetric anal sphincter injuries (OASIS) and anal incontinence: A meta-analysis, European Journal of Obstetrics & Gynecology and Reproductive Biology 252, 2020

Uphoff, R.: Aufklärung über die Risiken der natürlichen Geburt. Gynäkologe 52, 2019

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