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»Erlaubt, machbar, utopisch?«: Klimawandel im Kleinen – aus Gesprächen mit Bürgern

Beispiel Hamburg-Lokstedt: Dieses Buch wirft einen interessanten Blick hinter die Kulissen eines Prozesses, in dem ein Stadtteil klimafreundlich werden soll.
Ein Boden, der von fruchtbar zu verdorrt übergeht, mit einem Fragezeichen

Wie geht das: ein Stadtviertel klimafreundlich machen? Nicht die ganze Welt, sondern nur den kleinen, aber wichtigen Raum, in dem die Menschen eines Stadtteils leben. Am Beispiel von Hamburg-Lokstedt beschreiben Forschende, wie das klappen könnte, wie man raus aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft und hinein in die Zusammenarbeit mit den Anwohnern kommt und welche Schwierigkeiten dabei auftreten können.

Kafkaeske Behörden

Die Leiterin des Projekts »Klimafreundliches Lokstedt« Anita Engels ist Professorin für Soziologie an der Universität Hamburg. Sie forscht zur Rolle von Akteuren im Klimawandel. Deshalb geht es in dem Buch auch nicht um einzelne Maßnahmen wie Tempo-30-Zonen, Bäume oder neue grüne Parks. Es geht um die Menschen im Stadtteil, darum, wie sie denken und überzeugt werden können. Engels will mit ihnen ins Gespräch kommen und schildert die Schwierigkeiten der Verständigung, insbesondere mit den Behörden. Wer ist zuständig, welche Behörde hat welche (auch versteckten) Interessen? Manchmal kam Engels diese Kommunikation gar »kafkaesk« vor. Allein die strengen Standortregelungen, die greifen, wenn man auf dem Marktplatz drei Klappstühle aufstellen möchte, um dort mit Passanten ins Gespräch zu kommen, kosteten viel Nerven. Mit einem Augenzwinkern schildert sie, wie das Ausprobieren von Ideen an »strikten Regularien, absurden Missverständnissen und dem Eigensinn der Beteiligten« scheitert, und stellt skurrile Herausforderungen durch die Behörden vor.

»Ohne Alle geht es nicht!«

Den Charme des Buches macht aber noch etwas anderes aus. Denn nicht nur die Professorin erzählt. Jeder und jede schreibt mal ein Kapitel, etwa auch die studentische Hilfskraft. Denn für sie wie auch für die Anwohner gilt: »Ohne Alle geht es nicht!« So entsteht ein Buch aus vielen Perspektiven zu diesem Klimaprojekt, das von 2016 bis 2022 in Hamburg stattgefunden hat.

Drei Problemfelder identifiziert Engels: institutionelle Eigenlogik, lokale Eigenheiten und das Agieren in komplexen sozialen Settings. So haben Behörden schon mal gegensätzliche Erwartungen, müssen aber zusammenarbeiten. Die eine ist mehr parteipolitisch unterwegs, die andere beharrt auf bestehenden Regularien und stellt sich gegen innovative Ideen. Auch die städtische Historie muss bei den Gesprächen mitgedacht werden, wenn liebgewonnene Bäume früher einmal Fahrradstraßen weichen mussten. Oder der Ärger, wenn der Stadtteilname falsch ausgesprochen wird: Es heißt »Looookstedt«

Und auch Wissenschaftler sind Menschen. So lässt Engels ihre eigenen Befürchtungen und Ängste bei der ersten Projektvorstellung nicht aus. Kommt überhaupt jemand? Kommunizieren wir zu wissenschaftlich oder zu einfach? Sitzen wir vor einer schweigenden Masse? Die Forschenden diskutieren Klimaideen auf vielen öffentlichen Veranstaltungen, bei Befragungen auf der Straße, den Stadtteilfesten, um in einen konstruktiven Dialog mit den Anwohnern zu kommen. Sie schildern die Fallstricke bei der Vorstellung im Fußballheim. Oder wenn ein blauer Campingstuhl für Gespräche einladen soll, aber nicht genutzt wird, weil er einfach zu unbequem ist. Die Erfahrungen bei diesem »raus aus der Theorie, rein in die Realität« – dem Reallabor – sind noch aus einem anderen Grund wichtig: Engels stellt fest, dass zwischen Wissenschaft, Behörden und Zivilgesellschaft die Ressourcen in der Regel ungleich verteilt sind. Daher sei fehlendes Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen nicht außergewöhnlich. Ein Nebensatz macht klar, wie ungenügend unsere Demokratie gelebt werden kann, wenn sie schreibt, »dass es in Lokstedt keinen wirklichen Ort der Begegnung und kaum eine gemeinsame Öffentlichkeit gab. Wir erkannten, dass es für gemeinsame Projekte wie der Umsetzung klimaschützender Maßnahmen vorerst auch neuer Orte bedurfte, an denen Menschen sich treffen, kennenlernen, diskutieren und Vertrauen aufbauen können.«

Das Büchlein ist mit rund 120 Seiten eher kompakt. Das Lesen verschönern einfach gezeichnete Grafiken von Benjamin Gottwald. Fantasievoll setzt er die unterschiedlichen Ansichten einer Diskussionsrunde zeichnerisch um, wie den Libero, den Abwehrchef oder die Vereinslegende. Oder es rasen zwei Autofahrer wütend gegen Verkehrsbeschränkungen an, mit rußigen Abgaswolken auf der Straße: »Solange die Kreuzfahrtschiffe im Hafen liegen, fahren wir Auto.«

Dies sei eine andere Art von Forschungsbericht, so die Autoren. Er richtet sich primär an Studierende oder Forschende, aber auch an interessierte Bürger, die wissen möchten, wie Wissenschaftler arbeiten und warum eine qualitative Befragung von 30 Personen besser ist, als Tausende oberflächlich zu befragen. Das Buch gibt Tipps, wie es auch in anderen Stadtteilen funktionieren kann, mit dem Klima …  zwischen Behörden, Forschenden und Anwohnern!

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