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Warkus' Welt: Ist Landwirtschaft die Grundlage von allem?

Bauern machen aus Boden, Wasser, Licht und Luft Nahrung – und bilden so das Fundament des Lebens und der Volkswirtschaft. Diese populäre Vorstellung hält sich bis heute. Philosophisch betrachtet ist sie aber fragwürdig, findet unser Kolumnist.
Mehrere Traktoren fahren hintereinander auf der Straße. Der vorderste hat ein Schild an der Stoßstange, auf dem steht: Niemand soll es je vergessen, Bauern sorgen für das Essen.
Im Januar 2024 haben sich zahlreiche Bauern an den Protesten gegen die Streichung von Agrarsubventionen beteiligt.
Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Während ich diese Zeilen schreibe – am Vormittag des 8. Januar 2024 –, herrscht in meiner Stadt ein erhebliches Verkehrschaos. Der Grund dafür sind die Landwirte, die derzeit mit ihren Traktoren gegen die Kürzungen der Agrarsubventionen protestieren, welche die Bundesregierung vornehmen möchte. In den Medien kommen dazu die unterschiedlichsten Stimmen zu Wort, die von begeisterter Unterstützung bis hin zu völliger Ablehnung das gesamte Meinungsspektrum abdecken.

Eine Frage, die zu den Demonstrationen immer wieder aufkommt, weist durchaus philosophische Tiefe auf. Sie stellt sich selbst dann, wenn man ausklammert, wie die Proteste juristisch zu werten sind und welche problematischen politischen Akteure versuchen, sie für ihre eigene Agenda auszunutzen: Wie lässt sich der Umfang der Aktion begründen? Was rechtfertigt es, bundesweit in großem Stil den Straßenverkehr zu blockieren? Ist die Antwort lediglich »Wir tun es, weil wir es können«? Dann müssten die Landwirte zugestehen, dass jede andere Gruppe, die über hinreichend viele schwere Kraftfahrzeuge verfügt, bei Gelegenheit genauso vorgeht.

Schaut man sich Flyer und Social-Media-Beiträge beteiligter Verbände, aber auch einzelner Landwirte an, ist der Fall klar: Die Proteste werden nicht »bloß gewerkschaftlich« begründet, sondern mit einer herausgehobenen gesellschaftlichen Rolle des Agrarsektors. Ohne Landwirte hätten wir alle nichts zu essen: Sie betreiben, um ein Schlagwort zu zitieren, »Urproduktion«, sie lassen durch ihre Arbeit – auf einem Flyer heißt es sogar: »mit Gottes Hilfe« – aus Boden, Wasser, Licht und Luft Nahrung entstehen. Damit stellen sie das Fundament für alles menschliche Leben und letztlich den Rest der Volkswirtschaft dar.

Die Vorstellung, dass die Landwirtschaft in relevanter Hinsicht »die Grundlage für den ganzen Rest« darstellt, beschränkt sich aber nicht nur aufs Biologische und Stoffwirtschaftliche. Von mindestens der griechischen Antike bis ins 20. Jahrhundert ziehen sich Konzepte einer aus (in der Regel drei) Ständen aufgebauten Gesellschaft durch die Ideengeschichte, bei der gerne vom »Nährstand« als Basis die Rede ist, der die Existenz des Rests sichert. Volkswirte des 18. Jahrhunderts gingen oft noch davon aus, dass letztlich die gesamte ökonomische Wertschöpfung auf dem Acker stattfinde, weil eben nur dort wirklich etwas »aus dem Nichts« entsteht. Echos dieser Vorstellungen findet man bis heute in der Selbstdarstellung deutscher Bauernorganisationen.

Eine mythische Vorstellung

Von heutiger Warte betrachtet ist es aber alles nicht mehr so einfach – wenn es das denn je war. Schon bei Platon schloss der Nährstand beispielsweise nicht nur die Bauern ein, sondern auch die Handwerker und überhaupt alle, die gezwungen waren, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Betrachtet man die Urproduktion, so ist sie in der modernen Landwirtschaft undenkbar ohne künstliche Düngemittel, die aus Bergbau und/oder Energiewirtschaft hervorgehen. Vereinfacht gesagt: Kalkdünger ist zermahlener Stein, Stickstoffdünger wird unter anderem mit Hilfe von Erdgas aus Luft produziert. Dass die gesamte ökonomische Wertschöpfung auf dem Feld geschehen soll, ist in einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft wie Deutschland, in der nur noch etwa 0,8 Prozent des Volkseinkommens in der Landwirtschaft verdient werden (und mehr als doppelt so viel im Kultursektor), zudem kaum plausibel.

Die privilegierte gedankliche Stellung der Landwirte wird also von allen Seiten gekränkt: Sie bewerkstelligen die Urproduktion nicht mehr allein, die Volkswirtschaft braucht sie nur am Rand, es gibt nur noch wenige von ihnen – lediglich rund zwei Prozent der Erwerbstätigen sind heute Landwirte, im Mittelalter waren es einmal 90 Prozent. Außerdem kann ihre Arbeit durch Importe aus dem Ausland substituiert werden. Entsprechend ist es naheliegend, dass Landwirte in der Moderne anfällig für Ideen sind, die ihre Bedeutung überhöhen: für Nationalismus, der sie in den Mittelpunkt von Autarkiebestrebungen stellt, oder für Familienideologien, die den »gesunden« Bauernhof, bei dem Wirtschaftsbetrieb und traditionelle familiäre Lebensweise eine ideale Einheit bilden sollen, als Muster für die ganze Gesellschaft sehen. An der Verbreitung solcher Ideen haben sich dabei durchaus renommierte Philosophen beteiligt wie etwa Martin Heidegger, der das Bäuerliche bei zahlreichen Gelegenheiten hochjubelte. Es wundert vor dem Hintergrund dieser Tradition nicht, dass heute der Verband der Freien Bauern Stimmung gegen Agrarimporte und Freihandel macht, aber auch gegen Agrarunternehmen – obwohl, wie die schlagkräftigen ostdeutschen Landwirtschaftsunternehmen zeigen, Landwirtschaft selbst ohne Familienbetriebe bestens funktioniert.

Trotz all der Kränkungen und der fragwürdigen Forderungen ist die Landwirtschaft natürlich wichtig für unser Überleben und die Faszination von Ackerbau und Viehzucht ungebrochen. Die Herausforderung für unser Denken und letztlich auch für die Politik ist es, ihr den Stellenwert einzuräumen, den sie hat und verdient, ohne sich die zunehmend nur noch mythische Vorstellung von »Landwirtschaft als Fundament für alles« zu eigen zu machen.

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