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Festkörperforschung: Kristalle wachsen anders als gedacht

Wächst ein Kristall um ein neues Teilchen an, läuft ein zweistufiger Prozess ab. Diese neuen Erkenntnisse widerlegen eine gängige Annahme.
lila-pink schimmernde Kristallnadeln in Großaufnahme
Welche Form ein Kristall annimmt, hängt von seiner chemischen Zusammensetzung ab. Wie rasch er wächst, hat mit anderen Faktoren zu tun.

Kristalle sind Meister der Ordnung – und doch entstehen sie aus dem Chaos. Aus dem Durcheinander einer flüssigen Lösung, in der die verschiedensten Teilchen ziellos umeinanderschwimmen, bildet sich unter den richtigen Bedingungen ein streng geordneter Festkörper, in dem jedes Atom seinen festen Platz hat. Der Aufbau eines solchen Gebildes, Teilchen für Teilchen und Schicht für Schicht, folgt festen Regeln. Fachleute erforschen die Mechanismen des Kristallwachstums seit Jahrzehnten immer genauer, doch eine zentrale Frage blieb bislang unbeantwortet: Was genau passiert, wenn sich ein neues Teilchen zu einem Kristall gesellt? Eine Gruppe um die Chemikerin Rajshree Chakrabarti von der University of Houston hat das Rätsel jetzt aufgeklärt. Anders als gemeinhin angenommen, läuft der Prozess in zwei Schritten ab.

Ein neues Molekül oder Atom kann sich nicht an beliebiger Stelle an einen bestehenden Kristall anlagern. Das Wachstum erfolgt in Schichten, und das nächste Teilchen wird immer an derjenigen Stelle angebaut, die für den Kristall den größten Energiegewinn darstellt. Das sind, praktisch gesprochen, Knicke, Kanten, Ecken oder Vorsprünge. An solchen Andockstellen (in der Fachsprache als »kinks« bezeichnet) kann das hinzukommende Teilchen die meisten Bindungen zu den Teilchen im Kristall ausbilden.

Wie genau dieser Prozess abläuft, lag bislang im Dunkeln. Zum einen wusste man nicht, ob die neuen Moleküle direkt aus dem Lösungsmittel an die richtige Position gelangen, oder ob sie sich vorher an eine flache Stelle an den Kristall heften und anschließend an den richtigen Ort »wandern«. Zum anderen war unklar, wie das Zusammenspiel zwischen Lösungsmittel, dem hinzukommenden Molekül und der Andockstelle abläuft. Denn ein gelöstes Teilchen ist von einer Hülle aus Lösungsmittelmolekülen umgeben, die es erst abstreifen muss, bevor es neue Bindungen eingehen kann.

Kristalle wie Baumscheiben

Die Fachleute aus Houston schauten sich daher genauer an, was passiert, wenn die Moleküle in die Nähe der Knotenpunkte kommen. Sie untersuchten dazu die Kristallisation von Etioporphyrin I, einem organischen Ringsystem, wie es ähnlich im Hämoglobin oder Chlorophyll vorkommt. Der Stoff kristallisiert in flachen Schichten und bildet dabei Stufen, die aussehen wie Baumscheiben – dadurch kann man dem Kristall mit den richtigen Werkzeugen direkt beim Wachsen zusehen.

Das Team beobachtete mit einem Rasterkraftmikroskop, wie sich aus verschiedenen Lösungen stufenweise Kristalle aus Etioporphyrin I aufbauten. Dabei stellten die Fachleute etwas Wichtiges fest: Die Kristalle wuchsen in allen Lösungsmitteln auf gleiche Weise. Dass das unterschiedlich schnell geschah, relativierte sich, als sie die Viskosität der verschiedenen Lösungsmittel berücksichtigten. Die Geschwindigkeit war demnach auf die jeweilige Viskosität zurückzuführen. Als das Team diese herausrechnete, zeigte sich, dass die gelösten Moleküle in allen Fällen gleich schnell mit den Andockstellen reagierten. Wie rasch der Kristall wächst, hängt demnach nur davon ab, wie viel Energie das Molekül für die Reaktion an der Andockstelle aufbringen muss.

Bisher war man in der Regel davon ausgegangen, dass die Stärke der Bindung zwischen dem gelösten Molekül und dem Lösungsmittel diese Aktivierungsenergie bestimmt. Das stimmt aber nicht, wie die Experimente des Teams zeigen. Sonst hätten die Etioporphyrin-I-Moleküle in den verschiedenen Lösungsmitteln unterschiedlich rasch am Kristall reagieren müssen, abhängig von der Bindungsstärke zwischen Lösungsmittel und Etioporphyrin I.

Eine gängige Annahme widerlegt

Weil die Stärke dieser Bindung nicht die Reaktionsgeschwindigkeit bestimmt, kann der Bindungsbruch nicht der entscheidende Reaktionsschritt sein. Das Team folgerte, dass sich der Einbau in den Kristall in zwei Schritten vollzieht: Zuerst kappt das gelöste Molekül einen Teil seiner Bindungen zum Lösungsmittel und bildet Bindungen zur Zielstelle im Kristall. Dabei handelt es sich allerdings noch nicht um die Bindungen, die es in seiner endgültigen Position haben wird, sondern um eine Art Zwischenstufe. Erst im zweiten Schritt brechen diese provisorischen Bindungen wieder, und das Molekül fügt sich in der vorgesehen Art und Weise in den Kristall ein. Der zweite Schritt benötigt dabei mehr Energie, weshalb er langsamer abläuft als der erste und die Geschwindigkeit des Kristallwachstums bestimmt. Auch diese Erkenntnisse gewann das Team aus den beobachteten Reaktionsgeschwindigkeiten; Simulationen zur Moleküldynamik untermauern das Ergebnis.

Dass es offenbar eine molekulare Zwischenstufe gibt, bei der ein hinzukommendes Molekül provisorisch an den Kristall gebunden ist, könnte Fachleute zu neuer Forschung inspirieren. Denn wie stabil die Zwischenstufe ist, hängt wiederum vom Lösungsmittel ab – und davon, welche Zusätze sich noch in der Lösung befinden. Durch die richtige Zugabe könnte man so Kristalle möglicherweise viel gezielter wachsen lassen oder sogar deren Entstehung unterbinden. Das könnte sowohl für die Materialforschung als auch für die Entwicklung von Pharmazeutika oder anderer Chemikalien nützlich sein.

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